Die SPD versucht sich mal wieder auf einem verminten Terrain, dass gerade Sozialdemokraten eigentlich meiden sollten: Säuberungen der Partei aus rein ideologischen Gründen. Das entspricht wohl eindeutig nicht dem Erbe der SPD, auch wenn es hier natürlich nicht einmal entfernt um Menschenleben geht wie bei den einstigen „Säuberungen“ der Nationalsozialisten und Kommunisten. Doch etwas von dem Geist der Bewahrung einer ideologischen Reinheit, dem öffentlichen Anprangern von Kritikern und Abweichlern und der Einschüchterung von Mitgliedern, die mit entscheidenden Vorgaben der Parteiführung nicht einverstanden sind, atmen heutige Parteiausschlussverfahren in der doch einst beinahe mustergültig demokratischen SPD leider schon. Die derzeitige Botschaft: Wehe, ihr denkt wie Sarrazin. Wie ihr da drinnen in den Parteien und ihr da draußen im Lande zu denken habt, das bestimmen wir, die Funktionäre! Bätschi!
Das ist ein kapitaler Fehltritt der ältesten (bisher) demokratischen Partei Deutschlands. Die Partei, die das Verbot unter dem „Sozialistengesetz“ Bismarcks genauso überstand wie die Verfolgung durch NSDAP und SED. Nach Artikel 21 Grundgesetz (GG) ist den Parteien eine Aufgabe der Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes zugewiesen. Sie sind nicht die „personifizierte“ Willensbildung, sie sind Teil der Willensbildung. Nicht mehr, nicht weniger.
Die Parteien können sich das gar nicht aussuchen. Es ist deren Aufgabe, sich der Bevölkerung zu öffnen und diese teilhaben zu lassen. Stimmen Menschen mit den ideellen und programmatischen Grundlagen von Parteien überein, können sie Mitglied werden bzw. bleiben. Parteivorstände, Parteigruppierungen und einzelne Mitglieder können andere Mitglieder nicht einfach aus den Parteien werfen, um über diese Art Parteijustiz den Kurs der Partei zu ändern. Parteiausrichtungen werden durch innerparteiliche Diskurse und Parteitage bestimmt. An diesen Diskursen kann und soll jedes Mitglied teilhaben können. Parteilinien mittels Selektion festzulegen, liegt nicht im Sinn des GG 21, Abs. 1. Diskurse und demokratische Folgeentscheidungen bestimmen die Ausrichtung. Kaderparteien oder Parteien von Berufsrevolutionären sind nicht im Sinne des Grundgesetzes. Parteien erfüllen ihre Aufgaben in der Bundesrepublik Deutschland repräsentativ. Salopp gesagt: GG 21 steht gegen Lenins Fraktionsbildungsverbot.
Thilo Sarrazin tut gut daran, der SPD diesen schmerzhaften Lernprozess nicht zu ersparen. Es ist vielmehr seine staatsbürgerliche Pflicht, den SPD-Funktionären stellvertretend für alle Parteiapparate klarzumachen: „Ihr seid nicht die politische Willensbildung. Ihr nehmt nur herausgehoben an der Willensbildung teil! Die Mitglieder bestimmen, wo es mit der SPD lang geht!“
Willensbildung durch Einschüchterung?
Die SPD-Spitze meint, Thilo Sarrazin verstoße gegen die Grundsätze der Partei. Das sehen sehr viele Sozialdemokraten anders. Statt den innerparteilichen Diskurs zu suchen, soll dieser verhindert werden. Da Thilo Sarrazin an keiner Stelle seiner Bücher gegen Grundsätze oder Programm der SPD verstoßen hat, müssten Meinungsverschiedenheiten mit SPD-Funktionären in der Partei diskutiert werden, statt den vermeintlichen Abweichler mittels Parteiausschluss dafür abzustrafen, sich die Äußerung einer eigenen Meinung erlaubt zu haben.
Insofern verweigert sich die SPD-Führung der vom Grundgesetz vorgesehenen Mitwirkung an der politischen Willensbildung. Denn Willensbildung durch Einschüchterung ist bestimmt nicht im Sinne unserer Verfassung.
Amüsant ist hier die Rolle der zweifachen Möchtegern-Bundespräsidentin Gesine Schwan. 1984 warf Peter Glotz als damaliger Bundesgeschäftsführer der SPD die damals noch als „Parteirechte“ geltende Schwan aus der SPD-Grundwertekommission. Sie stand damals zu Helmut Schmidt und dessen „Doppelter Nulllösung“. Seinerzeit sorgte sie sich noch um den „Lebensnerv der SPD, die Freiheit“. Heute, vierunddreißig Jahre später, habe ich Zweifel. Meinte sie damals auch nur ihre eigene Freiheit, in der SPD zu sagen und zu denken, was sie will? Ich für meinen Teil sehe mich jedenfalls nachhaltig bestätigt. In den beiden Bundesversammlungen 2004 und 2009 verweigerte ich der inzwischen Partei-Linken Frau Schwan meine Stimme. Mir schwante nichts Gutes für die res publica. Ihr Ziel scheint der übergriffige, erzieherische Parteienstaat und nicht eine Republik mit Parteien zu sein. Der Vorgang zeigt übrigens, dass auch einzelne Abgeordnete das Gemeinwesen vor Schaden bewahren können.
Kurs auf fünf Prozent?
Hat die SPD nicht bereits hinreichend betrübliche Erfahrungen mit Säuberungsversuchen gemacht? Ein in seinen Langzeitfolgen völlig misslungener Versuch war beispielsweise 2008 das Parteiordnungsverfahren gegen Wolfgang Clement. Zwar ging der dann kopfschüttelnd von sich aus, doch fehlt es der SPD seitdem erheblich an öffentlich anerkannter Wirtschaftskompetenz. Man schaue auf den seit 10 Jahren andauernden Rutsch in Richtung Fünf-Prozent-Hürde. Auch das schafft die derzeitige SPD-Führung noch, wenn sie bei ihrem Kurs bleibt.
Der Anlass für das Parteiverfahren vor zehn Jahren war ein Artikel, in dem Clement die hessische SPD-Energiepolitik infrage stellte. Eine Position, die von ihm schon länger bekannt war und mit der er in der SPD viele Jahre den Diskurs mitbestimmte. Die FAZ schrieb am 25.11. 2008:
„‘Deshalb wäge und wähle genau, wer Verantwortung für das Land zu vergeben hat, wem er sie anvertrauen kann – und wem nicht.‘ Diese Äußerungen wurden in der SPD – je nach politischem Geschmack – als indirekter oder direkter Aufruf Clements bewertet, in Hessen nicht die SPD zu wählen. Clements Ortsverein Bochum, wo er 1970 in die SPD eingetreten war, leitete ein Ausschlussverfahren gegen den früheren Ministerpräsidenten, stellvertretenden Parteivorsitzenden und Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit ein. Andere Untergliederungen schlossen sich dem an.“
Dem füge ich meine damalige Presseerklärung als MdB vom 31.07.2008 hinzu:
„Drohender Parteiausschluß Clement – Dann gehe auch ich!
Sollte Clement tatsächlich aus der SPD ausgeschlossen werden, werde auch ich die Partei verlassen. Die Ypsilantis dieser Partei haben die Regierung Schröder weitgehend auf dem Gewissen. Als parteiinterne Kronzeugen für eine angeblich unsoziale Politik besaßen sie bis 2005 eine weit größere Bedeutung in den öffentlichen Diskussionen um die AGENDA 2010 als die kritischen Stimmen aus den Reihen der politischen Konkurrenz. Ihren damaligen unsolidarischen Äußerungen und Kampagnen (Mitgliederbegehren etc.) gegen die eigene Bundesregierung (es ging nicht um eine popelige Landtagswahl!) standen zu Recht keine Parteiordnungsverfahren gegenüber.
Wolfgang Clement hatte sich vor der hessischen Landtagswahl in der Tat – obwohl in der Sache richtig – mit seinem gewählten Zeitpunkt unsolidarisch verhalten. Dies verdient eine Rüge, jedoch niemals einen Rauswurf! Hier hätten Ypsilanti & Co., die eine eigene Bundesregierung im Fundament zerbrachen, wohl eher den Ausschluss verdient - was jedoch aus guten Gründen niemand forderte. So etwas muß eine demokratische Partei eben ganz einfach aushalten können!
"Klein, aber fein" – so könnte der zukünftige Wahlspruch der SPD lauten, sollte Wolfgang Clement die Partei verlassen müssen. Auch sollte sich meine Partei überlegen, ob sie fürderhin überhaupt noch zu Bundestagswahlen antreten soll. Denn: im Falle eines Erfolges steht wieder die leidige Verantwortung auf Bundesebene an... . Eine Verantwortung, mit der sie bereits unter Helmut Schmidt nicht klarkam.
Das jetzige Fremdeln mit Schröders Reformpolitik ist anscheinend nur der Widergang des "SPD-Konflikts", wonach sich SPD und Bundesverantwortung im Grunde fremd sein könnten. Ich wünsche der Bundesschiedskommission, die in der nächsten Instanz befasst sein wird, eine abwägendere Sicht.“
Anmerkung 2018: Da Wolfgang Clement von sich aus die SPD verließ und nicht rausgeworfen wurde, musste ich mein Gelübde, die SPD mit ihm zu verlassen, nicht einlösen.
Verbaler Verfassungsbruch
Sie erinnern sich vielleicht: 2008 hatte die SPD auch einen anderen bedeutenden Beitrag zu ihrem folgenden Niedergang geleistet: Die SPD Hessen wollte seinerzeit unbedingt in Hessen regieren. Der seinerzeit als „Solarpapst“ bekannte Genosse Scheer hatte sich sogar noch vor den Koalitionsverhandlungen mit Linksaußen und Grünen sein angestrebtes Arbeitszimmer im hessischen Wirtschaftsministerium angeschaut.
Derweil hatte die Parteiführung wegen der angestrebten Koalition mit der Linken kein schlechtes Gewissen, obwohl es vor der Wahl das Versprechen gab, auf keinen Fall mit den Erben der SED zu koalieren. Hermann Scheer steht beispielhaft für die Genossen, die sich unbeschwert von Wahlversprechen bereits in Ministerämtern wähnten. Die Reaktion auf Sozialdemokraten, die auf Einhaltung der Wahlversprechen pochten, war bezeichnend. Die Darmstädter SPD-Landtagsabgeordnete Dagmar Metzger, die ihren Wahlkreis direkt gewonnen hatte, erklärte gemeinsam mit drei weiteren SPD-Landtagsabgeordneten, einer Linkskoalition in Hessen die Stimme zu verweigern. Hermann Scheer forderte nun, dass Dagmar Metzger und die anderen ihr Mandat zurückgeben und als Abgeordnete ausscheiden sollten!
Auch in der SPD-Bundestagsfraktion wurde das sehr heiß diskutiert. Der entscheidende Teil meiner Wortmeldung war damals: „… Hermann Scheer fordert die Direktwahlsiegerin Dagmar Metzger zum Mandatsverzicht auf? Das fordert ein Bundestagsabgeordneter, der das Wort ‚Direktwahlsieg‘ nur aus der Literatur kennt?“. Das Echo in der Fraktion darauf war geteilt. Nur die Direktgewählten rangen sich ein Schmunzeln ab.
Normalerweise spielte ich nie die Karte „Direktwahlsieg“, weil es praktisch sehr viele Gründe gibt, warum Kandidaten direkt im Wahlkreis zum Zuge kommen oder nicht. Sehr oft haben sie keine Chance, besser als ihre Partei abzuschneiden. Und im täglichen Parlamentsbetrieb spielt es gar keine Rolle. Abgeordnete/r ist Abgeordnete/r und nur sich und seinem Gewissen verpflichtet (lt. GG). Im Falle des überheblichen Herrn Scheer war dieser Sachverhalt allerdings wichtig, denn er macht deutlich, wie selbstverständlich hier jemand den Parteiapparat über die Wähler stellt. Im Falle Metzger wurden zwar keine Parteiauschlussgelüste offenbart, aber die „Mandatsabgabeforderung“ ist eine offen grundgesetzwidrige Anmaßung, ein verbaler Verfassungsbruch.
Sarrazins Sieg als Chance für die SPD
Thilo Sarrazin wird aktuell geraten, die SPD von sich aus zu verlassen. Emotional nachvollziehbar wäre das schon. Staatsbürgerlich wäre es eine Fehlleistung. Sarrazins herkulische Aufgabe ist es, der SPD und damit allen Parteien eine Lektion zu erteilen. Thilo Sarrazin sollte das Verfahren bis in die Zivilgerichtsbarkeit führen, so er nicht bereits vor dem Parteigericht obsiegt. Für die SPD wird es eine Chance, sich wieder demütig in die Normative des Grundgesetzes einzureihen.
Der besseren Übersicht wegen an dieser Stelle GG 21 vom Stand 20. Juni 2017:
(1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
(2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.
(3) Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind von staatlicher Finanzierung ausgeschlossen. Wird der Ausschluss festgestellt, so entfällt auch eine steuerliche Begünstigung dieser Parteien und von Zuwendungen an diese Parteien.
(4) Über die Frage der Verfassungswidrigkeit nach Absatz 2 sowie über den Ausschluss von staatlicher Finanzierung nach Absatz 3 entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
(5) Das Nähere regeln Bundesgesetze.