Wieso ist Sahra Wagenknecht mit ihrer nach ihr benannten Bewegung so erfolgreich? Einige Antworten finden sich in der Wagenknecht-Biografie von Klaus Rüdiger-Mai.
Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat bei den Wahlen zum EU-Parlament an 9. Juni in Deutschland aus dem Stand 6,2 Prozent geholt. Das Wagnis der Gründung einer eigenen Partei hat sich für die eigenwillige Politikerin also durchaus gelohnt. Dabei war die junge Politikerin mit hohem theoretischen Anspruch, obgleich eine Ausnahmeerscheinung, in den Massenmedien weniger umstritten, als man hätte erwarten können. Sie bekam Beifall und Vorschusslorbeeren von ganz verschiedenen Seiten. Das wiederum macht sie nicht nur in meinen Augen verdächtig.
Ich gebe zu: Sahra ist nicht mein Typ. Aber wir haben einiges gemeinsam. Dazu gehören die Liebe zu tiefsinnigen Büchern und die Eigensinnigkeit ihrer Interpretation – verbunden mit Immunität gegenüber dem Massengeschmack. Es ist unübersehbar, dass sich Sahra Wagenknecht selbst erfunden hat. Deshalb drängt sich die Frage auf: Wer und was verbirgt sich hinter ihrer Maske, hinter der offenbar bewusst stilisierten Mythen-Figur? Dieser Frage geht der aus Sachsen-Anhalt stammende Germanist, Historiker, Philosoph und Sachbuch-Autor Klaus-Rüdiger Mai in seinem Buch mit dem Titel „Die Kommunistin. Sahra Wagenknecht: Eine Frau zwischen Interessen und Mythen“ mit großer Kompetenz nach.
Sahra Wagenknechts Parteigründung unter ihrem eigenen Namen hat eine lange und bewegte Vorgeschichte, die nur jemand verstehend nachzeichnen kann, der selbst aus dem Osten kommt und sich sowohl in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ als auch in Goethes „Faust“ gut auskennt, denn beides hat Sahra Wagenknecht zu ihren Alleinstellungsmerkmalen erwählt. Klaus-Rüdiger Mai, der über diese Qualifikationen verfügt, zeigt in seinem gelehrten Buch, das westliche Wagenknecht-Biografen hingegen der Faszination der schillernden Persönlichkeit erlegen und auf deren Selbstmystifikationen hereingefallen sind. Heutigen deutschen Abiturienten fehlt wegen der verbreiteten Bildungsmisere ganz einfach das Rüstzeug, um Sahras raffinierte Selbsterfindung zu durchschauen. Die bewusste Selbsterfindung als solche, die Ich-Findung als Kunstwerk gilt mir allerdings nicht von vornherein als verwerflich, sondern als durchaus legitimes Lebensziel.
Es fragt sich aber, ob und inwieweit Sahra, die die Klassiker schon als Schülerin im einsamen Selbststudium las, diese wirklich verstanden hat. Allerdings versuchte die eigenbrötlerische junge Frau schon von sich aus der selbst gewählten Isolierung zu entgehen, indem sie sich in der Goethe-Gesellschaft engagierte und im Jahre 1987 als noch 17-Jährige mithilfe eines kunstvollen Briefes mit dem bekannten Dramatiker Peter Hacks Kontakt aufnahm. Der narzisstisch veranlagte Hacks, geboren 1928 in Breslau, verstand sich in der DDR nicht nur als Kenner, sondern als Vollender Goethes. Daraus entwickelte sich eine lange Freundschaft zwischen den beiden Persönlichkeiten so unterschiedlichen Alters. Der Goethe-Kenner, der gleichzeitig als bekennender Stalinist auftrat, erkannte Wagenknechts Potenzial und akzeptierte die Rolle ihres Mentors. So kam es, dass Sahra Wagenknecht die „Wende“ von 1989 nur als Sieg der Konterrevolution wahrnehmen konnte.
Außenseiterposition
Statt zu verstehen zu versuchen, was am Ende der DDR geschah, verkroch sich Sahra buchstäblich und flüchtete, immer angespornt vom Dramatiker Hacks, zu ihren Klassikern. Von den gesellschaftlichen Bewegungen in der Endphase des „ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaats“, bekam sie nichts mit, zumal sie kein Fernsehgerät besaß. Später nennt sie den Herbst 1989 „die schlimmste Zeit, die ich bisher erlebt habe.“ Zu den Aspekten ihrer Flucht vor der Realität gehört auch ihre Verkleidung als Rosa Luxemburg samt Haartracht. Peter Hacks feuert sie dabei an. Als Luxemburg-Wiedergängerin sucht sie den Kontakt mit der „Kommunistischen Plattform“ der in PDS umbenannten DDR-Staatspartei SED. Dort nimmt Ellen Brombacher, eine zum „kommunistischen Adel“ der DDR gehörende Genossin, sie unter ihre Fittiche.
Sahra Wagenknecht verrät später selbst, dass sie von schöner Literatur und insbesondere von Goethes „Faust“ im Grunde wenig versteht, weil sie Goethe zu einem reimenden Marx-Vorläufer macht. Im Jahre 2013 bittet die ehemals konservative „Frankfurter Allgemeine“ die inzwischen zu einem Medien-Liebling aufgestiegene Kommunistin um eine Rezension der gerade erschienen Goethe-Biografie des bekannten Sachbuch-Autors Rüdiger Safranski. Dort vertritt Safranski die These, Goethes Leben sei selbst ein Kunstwerk, das sich hinter seinen literarischen Werken nicht verstecken brauche. Sahra Wagenknecht, die tatsächlich etwas von Selbstmystifikation versteht, stimmte dem ohne Einschränkung zu. Klaus-Rüdiger Mai rät demgegenüber aus eigener Erfahrung, ein Biograf sollte niemals versuchen, das Leben dessen zu ästhetisieren, den er porträtiert. Trocken stellt er fest, dass Goethe in Wirklichkeit ein Staatsmann war, der sich nebenbei mit Literatur beschäftigte.
Für ihre Medien-Karriere kultiviert Wagenknecht systematisch ihre politische Außenseiterposition. Ohne Hilfe von außen wäre es ihr aber gar nicht gelungen, ihre Studierstube zu verlassen. Das besorgt Mitte der 90er Jahre der gleichaltrige „Filmmensch“ Ralph T. Niemeyer, ein offenbar wenig seriöser Geschäftemacher mit zahlreichen Verbindungen in die Glitzerwelt des Kinos und der Massenmedien. Niemeyer schaffte es, die in die Philosophie und die Geschichte der Arbeiterbewegung vergrabene Theoretikerin dem DDR-Mief zu entreißen. Auch wenn Niemeyer wegen Anlage-Betrugs bald international von der Polizei gesucht wird, bleibt sie bis weit ins neue Jahrtausend mit ihm verheiratet und hilft ihm, hohe Kautionen aufzubringen, um langjährigen Gefängnisstrafen zu entgehen. Die versponnene Außenseiterin ist in der westlichen „Normalwelt“ angekommen. Wagenknecht kandidiert in Dortmund, gekrönt durch einen kleinen Achtungserfolg, auf der Liste der PDS für den Bundestag. In dieser Zeit gewinnt sie in NRW einen treuen Unterstützerkreis, ohne den die Gründung ihrer eigenen Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht“ Anfang 2024 wohl nicht geglückt wäre.
Kritik an der Identitätspolitik
Im Jahre 2004 gelingt Sahra Wagenknecht der Einzug ins „Europa-Parlament“. Wirklich engagieren kann sie sich dort nicht, da sie schnell merkt, dass die Straßburger Versammlung nur eine Alibifunktion erfüllt. Über die Politik der EU wird andernorts entschieden. Sahra nutzt die großzügige Abgeordnetenversorgung, um im Jahre 2005 ihre auf Englisch verfasste wirtschaftswissenschaftliche Dissertation unter dem Titel „The Limits of Choice. Saving Decisions and Basic Needs in Developed Countries“ zu beginnen. Sie verteidigt diese im Jahre 2012 beim Mikro-Ökonomen Fritz Helmedag an der Technischen Universität Chemnitz mit magna cum laude.
Im Jahre 2009 zieht Sahra Wagenknecht mit der nach Westen ausgedehnten PDS unter den Vorsitzenden Lothar Bisky und Oskar Lafontaine in den Bundestag. Lafontaine näher gekommen ist Sahra schon im Jahre 2005 bei einer Pressekonferenz über die von ihr bekämpfte Dienstleistungsrichtlinie der EU, die Ende 2006 beschlossen wird. Lafontaine lässt sich im Februar 2013 von seiner Frau scheiden, kurz darauf folgt die Scheidung zwischen Sahra Wagenknecht und Ralph T. Niemeyer. Kurz vor Weihnachten 2014 heiraten Oskar und Sahra. Diese verfügt damit wieder um einen instinktreichen Mentor, der allerdings ganz anders tickt als sein Vorgänger Peter Hacks und sich insbesondere auf geschickte Hinterzimmer-Politik versteht. Mit seiner Hilfe gelingt es Sahra Wagenknecht, so zu reden, dass ihr Publikum nur das hört, was es hören will und den Rest überhört oder verdrängt. Beste Voraussetzungen für den nur für manche überraschenden Wahlerfolg der Bewegung Sahra Wagenknecht am 9. Juni 2024.
Wagenknechts Wahlerfolg beruht auf ihrer in vielen Punkten zutreffenden Kritik am sozialpolitischen Verrat der Grünen und Linken. Sie hat diese Kritik im Jahre 2021 in ihrem Buch „Die Selbstgerechten. Mein Gegenprogramm – für Gemeinsinn und Zusammenhalt“ zusammengefasst – ein Buch, das ihr beinahe den Parteiausschluss eingebracht hätte. Klaus-Rüdiger Mai kann anhand dieses Buches demonstrieren, dass Wagenknechts Kritik an der Identitätspolitik, die bei Grünen, Linken und Sozialdemokraten die Sozialpolitik verdrängt hat, verkürzt ist. Denn sie kritisiert bei den „Lifestyle-Linken“ nur den Linksliberalismus, verkennt aber, dass dieser mit seinen Forderungen nach offenen Grenzen, Diversität, Antirassismus und Dekarbonisierung ein Ausfluss der Ideologie des Postmodernismus ist. Diese Ideologie kann Wagenknecht nicht unvoreingenommen analysieren, weil diese im Kern eine Fortentwicklung des (westlichen) Marxismus ist, dem sie weiterhin ohne Einschränkung anhängt.
Ordoliberalismus und Kommunismus
Deshalb widmet sich Mai eingehender mit den Kernthesen der „French Theory“, das heißt dem Poststrukturalismus von Michel Foucault und dem Dekonstruktivismus von Jacques Derrida. Beides sind machtorientierte sprachanalytische Fortschreibungen des marxistischen Parteilichkeits-Postulats. Es geht bei Foucault nicht mehr um die Wirklichkeit, sondern um Strukturen, die immer Ausdruck von Machtverhältnissen sind. Für die feministische Ikone Judith Butler werden wir durch Sprache zu dem gemacht, was wir sind. Wir sind nicht, was wir sind, sondern wir sind, wie wir benannt werden. Daher der Eifer, mit dem LGBTX-Verfechter durchsetzen wollen, nur mit dem von ihnen gewünschten Pronomen angesprochen zu werden.
Im Unterschied zum Scholastiker Thomas von Aquin und zur Philosophie Immanuel Kants geht es den Postmodernen nicht um die Annäherung an die objektive Wahrheit mithilfe kontrollierter Experimente und der Anwendung der Dialektik, sondern um die Verbreitung eines radikalen Konstruktivismus, wonach eben auch Geschlechter soziale Konstrukte und keine biologischen Tatsachen sind. Über die Wahrheit entscheiden Machtverhältnisse und nicht Experimente. Deshalb sind postmoderne Konstrukte wie die Annahme einer drohenden Klimakatastrophe durch den Verweis auf Tatsachen nicht zu entkräften.
Wirtschaftspolitisch versucht Sahra Wagenknecht, den bundesdeutschen Ordoliberalismus mit dem Kommunismus zu verbinden. Klaus-Rüdiger Mai fragt zu Recht, ob das denk- und machbar ist und gibt gleich die Antwort: „Man kann keine halbe Marktwirtschaft machen.“ Wie weit dieses Urteil das Wahlverhalten beeinflussen kann, steht dahin. Offenbar verfügt das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) trotz fehlender Parteistrukturen in Deutschland über ein bedeutendes Wähler-Potenzial. Die Hoffnung Grüner und Linker, das BSW werde vor allem der AfD schaden und so die überkommenen Machtverhältnisse in Deutschland stabilisieren, hat in den jüngsten „Europa-Wahlen“ jedenfalls keine neue Nahrung bekommen.
Passend zum Thema: Hier der Link zur Durchsicht: Die populärste Kommunistin.
Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. In Deutschland und in Südfrankreich ist er als Autor und Strategieberater tätig.
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