Der Bücher-Gärtner: Das falsche Leben

Was ist das richtige Leben und was ist innere Demokratie?

Die bundesdeutsche Kultusministerkonferenz fordert neuerdings, der Schulunterricht müsse besonderes Gewicht auf das Verständnis der Demokratie legen. Ob damit die Erziehung zur „inneren Demokratie“ gemeint ist, die der bekannte Hallenser Psychoanalytiker und Psychiater Hans-Joachim Maaz in seinem Buch „Das falsche Leben. Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ anregt?

Dadurch soll die von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg in West und Ost verordnete „Demokratie ohne Demokraten“ , das heißt eine „äußere“ Demokratie zu einer echten Demokratie werden, die die Deutschen vom falschen, das heißt innerlich unfreien in das richtige Leben befördert. Mit „innerer Demokratie“ meint Maaz die Fähigkeit jedes Einzelnen, friedlich mit abweichenden und gegenläufigen Meinungen umzugehen.

Diese Fähigkeit ist in normopathischen, also inhaltlich und psychisch gleichgeschalteten Gesellschaften schwer beeinträchtigt. Maaz demonstriert das unter anderem an der in Deutschland seit 2015 verbreiteten „Willkommenskultur“ gegenüber den Einwanderern aus Asien, Arabien und Nordafrika. „Man will mit guten Taten sich gut fühlen können, um von eigenen belastenden Problemen abzulenken und sich selbst aufzuwerten“, schreibt Maaz.

Jede Hilfe müsse aber auch die Konsequenzen bedenkenDas Helfersyndrom gehe letztlich darauf zurück, dass viele Menschen wegen Liebesmangel und anderer elterlicher Erziehungsfehler sowie ihrer Anpassung an die staatliche Repression sich in ein falsches Selbst flüchten. Das richtige Selbst sei hingegen die angeborene Persönlichkeitsstruktur. Diese bedarf der Liebe für die Selbstbestätigung. Deren Ausgangspunkt ist die bedingungslose Mutterliebe. Die Erwachsenenliebe beruht dagegen auf einem ausgewogenen Geben und Nehmen. Kommt die gärtnerische Pflege des Selbst zu kurz entwickelt sich Selbsthass und als dessen Kompensation die narzisstische Selbstüberhöhung.

Maaz argumentiert als Linker, nicht als Rechter

Diese sieht Maaz als wichtigste Triebfeder der deutschen „Willkommenskultur“. Es gehe bei den Auseinandersetzungen der Willkommenheißer mit angeblichen Fremdenfeinden „nicht mehr um Sachinhalte, sondern vor allem darum, sich zu behaupten und den anderen schlecht zu machen.“ Und Maaz fügt hinzu: Sie selbst entlarven diesen Projektionsmechanismus ihrer seelischen Abwehr, indem sie neuerdings ganze Bevölkerungsgruppen, außerparlamentarische Protestbewegungen und neue Parteien diffamieren.“ Dabei argumentiert Maaz als Linker, nicht als Rechter.

„Im falschen Selbst ist der Mensch auf jeweils spezifische Erlebens- und Denkweisen eingeengt, die im Gruppendruck mit verwandten Selbst-Störungen die gesellschaftliche Normopathie prägen“, erklärt Maaz. Die Aufrechterhaltung eines falschen Selbst erfordere ständige Lebensenergie fressende Anstrengungen, was leicht zum „Burnout“, in die Depression oder zu verschiedenen psychosomatischen Erkrankungen wie Asthma, Hypertonie, Herzschwäche, Magengeschwüre, Migräne und chronische Muskelverspannungen führen kann.

Doch wer sich selbst einschließlich seines eigenen Bösen kenne, der brauche keinen äußeren Feind mehr, weil er seine eigenen Grenzen und Schwächen zu akzeptieren lernt. Für die gesellschaftliche Krankheit Normopathie gibt es also nur individuelle Therapien. „Wir stehen vor der Frage eines mühevollen Erkenntnis- und Veränderungsprozesses oder eines destruktiven Zerfalls unserer Gesellschaft“, schließt Hans-Joachim Maaz. Wunder darf man da wohl nicht erwarten. 

Das falsche Leben, Hans-Joachim Maaz, C.H.Beck-Verlag, 256 Seiten

Edgar L. Gärtner ist studierter Hydrobiologe und Politikwissenschaftler. Seit 1993 selbstständiger Redakteur und Berater, als solcher bis 1996 Chefredakteur eines Naturmagazins. Bis Ende 2007 Leiter des Umweltforums des Centre for the New Europe (CNE) in Brüssel. In Deutschland und in Südfrankreich ist er als Autor und Strategieberater tätig.

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Leserpost

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Thomas Szabó / 14.07.2024

@ Edgar Ludwig Gärtner: Ich schätze Ihre kurzen Buchbesprechungen, die jeweils eigene kleine literarische Werke für sich sind. Ich müsste einen Vorleser engagieren um all die Bücher zu lesen. Ich staple jetzt meine Bücher in der Wohnung entlang der Wände aus Platzmangel in einer dekorativen Bücherschlange.

Edgar Ludwig Gärtner / 14.07.2024

@Thomas Szabo: Danke für die Ergänzungen, mit denen ich einverstanden bin. Wegen Zeitnot habe ich meinen Beitrag sehr konzentrieren müssen. Aber ich bleibe am Thema. Zumal diese Problematik in den kommenden Jahren sicher noch an Bedeutung gewinnen wird.

Thomas Szabó / 14.07.2024

Es gibt die reine Selbstüberhöhung, es gibt den reinen Selbsthass. Es gibt Selbstüberhöhung & Selbsthass im Doppelpack. Sie alle zeugen von einer falschen Selbstwahrnehmung. Man schätzt sich zu hoch oder zu niedrig ein oder auf eine “schizophrene” Art beides. (Oder man schätzt sich richtig ein, ist aber mit seinen Status / Sein unzufrieden. Man erkennt sich als Versager, will es aber nicht wahrhaben, akzeptieren.) Selbsthass & Selbstüberhöhung, Minderwertigkeitskomplexe & Größenwahn sind eine labile, instabile, explosive Mischung. Gesellschaftliche Versager lasten ihr eigenes Versagen der Gesellschaft an und streben einen gesellschaftlichen Umsturz an. Siehe: Marx, Lenin, Stalin, Hitler. Analoge Tendenzen erkennen wir in zeitgenössischen Bewegungen: linke neo-sozialistische, neo-kommunistische Bewegungen, islamischer Fundamentalismus, Black Lives Matter, Postkolonialismus, Critical Whiteness, Klima-Aktivismus, Wokeness. Alle diese destruktiven & konstruktivistischen Ideologien wollen die alte Welt zerstören und auf ihren Trümmern eine neue Welt (Utopie) errichten. Sie bekämpfen & leugnen die Realität und konstruieren sich neue Realitäten, die nur in der Theorie funktionieren. Sie dekonstruieren funktionierende Gesellschaften zugunsten dysfunktionaler Utopien. Nach dem voraussehbaren Scheitern folgt ihre generelle Entschuldigung: “Es war gut gemeint.” ♦ Diese Bewegungen getrieben von Selbsthass & Selbsterhöhung zeitigen suizidale Tendenzen. Wie Selbstmordattentäter entsorgen sie sich selbst und ihre Mitbürger. Sie befeuern einen gesellschaftlichen Suizid. Sie erteilen Nero-Befehle wie Adolf Hitler. “Endsieg oder Tod!” Siehe: Atomausstieg Deutschland

Thomas Szabó / 14.07.2024

Ideologien können sich in ihre entgegen gesetzten Spiegelbilder verwandeln und dabei ihre Radikalität wahren. Der Hass gegen das Andere kann sich in den Hass gegen das Eigene verwandeln. Der Rassismus kann sich in den Autorassismus transformieren. Die deutsche Selbstüberhöhung verkehrt sich in die deutsche Selbsterniedrigung. Die Gefühle Hass & Liebe kehren sich um. Die Intensität, die Radikalität, der Extremismus der Gefühle bleiben konstant. Gestern brüllt man: “Scheiß Ausländer!” Heute brüllt man “Scheiß Inländer!” Der intellektuelle Gehalt, die moralische Qualität der Ideologie bleiben konstant. Das Objekt des Hasses und der Liebe wandelt sich, die Geisteshaltung bleibt stabil. Mit „innerer Demokratie“ meint Maaz die Fähigkeit jedes Einzelnen, friedlich mit abweichenden und gegenläufigen Meinungen umzugehen. Weder der Adolf, noch sein Erzfeind & ideologisches Spiegelbild der Toleranzadolf vermögen das! Adolf & Toleranzadolf sind Kontrahenten im gleichen Geist. Es gibt spiegelverkehrte Ideologien, die sich als Gegensätze sehen, aber vom demselben Geist beseelt sind: Nationaler Sozialismus - Internationaler Sozialismus, Faschismus - Antifaschismus, Rassismus - Antirassismus, Selbstüberhöhung - Selbsthass. ♦ Ich bin der Ansicht, dass man selbst im Namen der Demokratie und des Individualismus eine kollektivistische Diktatur ausüben kann. Man muss nur die Bergriffe inhaltlich entleeren und in Parolen transformieren. ♦ Die Opposition widerspricht der demokratischen Regierung! Die Regierung repräsentiert die Demokratie! Die Opposition ist gegen die Demokratie! In einer Demokratie gibt es keine Opposition! ♦ Wer gegen den demokratische Konsens verstößt ist kein Demokrat! Die demokratische Einheitsmeinung steht für die Einheit im Vielfalt! ♦ Wir sind alle Individuen! Und jetzt alle: Wir sind alle Individuen! Und jetzt alle im Gleichschritt marsch: Wir sind alle Individuen! Wir sind alle Individuen! Wir sind alle Individuen!

Helmut Driesel / 14.07.2024

  Es wird natürlich die Erziehung zur Parteien-Demokratie gemeint sein. Ja sogar die, in der nicht alle Parteien bei Wahlen zugelassen sind. Der Mensch kommt auf die Welt als unausstehlicher Chauvinist und ohne ein Quäntchen eigene Macht. Der Chauvinismus wird uns im Laufe der Kindheit, Erziehung, Ausbildung abgewöhnt, wir werden domestiziert, während die Macht, die wir über uns haben, die wir den Eltern und der Umgebung abringen, ständig zunimmt. In der Zeit lernen wir, was opportunistisch ist, was unserem Wohlbefinden schadet und was uns gut tut. Aber der Mensch tut nicht immer, wozu sein Verstand ihm rät. Sondern wir sind oft spontan oder emotional. Aber auch rationale Überlegungen sind manchmal so uneindeutig, dass wir spielerisch entscheiden, dass geschehen soll, wie der Würfel halt fällt. Indem in einer Gesellschaft viele Menschen eben so sind und so handeln, wird es schwierig, von falschem und richtigen Leben zu reden. Das Leben kann freilich aus individueller Sicht richtig und in kollektiver Bewertung falsch sein. Oder umgekehrt. Aber was bedeutet das? Es bedeutet nichts! Das könnte man nur, wie bei der Evolution anderer Spezies im Allgemeinen im Nachhinein beantworten. Also Erkenntnisse vom Typ: “Es war keine gute Idee, von den Bäumen herab zu steigen…” Für den Augenblick, in dem wir leben und entscheiden müssen, sind solche Aussagen Nonsens.

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