Das Virus wirkt sich nicht nur auf den Zustand des Menschen aus, sondern auch auf den Zustand der Sprache. Ehe ich auf mein heutiges Hauptthema, den neu entwickelten „Brücken-Lockdown“ komme, hier erst einmal – zur Erinnerung – eine kleine Entstehungsgeschichte der Lockdown-Kreationen. Ihr gemeinsamer Zweck: Verzierung, Verniedlichung, kunstvolle Verhüllung.
Der Lockdown in seiner einfachen Form ist die zentrale Kreation. Er gibt vor, schlicht und ungekünstelt zu sein, vermeidet aber kunstvoll das unangenehm deutliche Wort „Verbot“, ob als Ein- und Verkaufsverbot, als Arbeitsverbot, Begegnungsverbot oder Ausgehverbot. Diese potenzielle deutsche Überdeutlichkeit wird englisch umschifft und zugleich internationalisiert. Der Lockdown sagt: Schaut her, die Verbotsorgie findet nicht nur bei uns statt, sie ist ein weltweites Phänomen, sozusagen ein Stück moderner Globalisierung. Wir sitzen alle im gleichen Lockdown-Boot.
Aus dem Ursprungs-Lockdown hat sich der Lockdown light entwickelt, der zwischendurch mal zum Atemholen eingeräumt wird. Er ist dem Teil-Lockdown vorzuziehen, weil die Doppeldeutigkeit des Wortes „light“ den zusätzlichen Charme hat, ein Licht aufscheinen zu lassen, im Zweifel ein Licht am Ende des Tunnels. Interessanterweise gibt es keinen Lockdown heavy. Warum nicht? Weil er selbst in der englischen Verkleidung die Schwere der allgemeinen Ratlosigkeit und Verbotsfreude durchschimmern ließe.
Bundes-Lockdown suggeriert preußische Ordnung
Was die Politiker sprachlich vermeiden, riskieren die Virologen, die in unverkleidetem Deutsch gelegentlich einen harten Lockdown empfehlen. Ein weicher Lockdown geht ihnen nicht über die Lippen. Weich klingt einfach – nun ja – zu weich. Da hat die englische Variante der Politik, der Lockdown light, einen feineren Klang.
Im Zentrum des Lockdown-Geschehens befindet sich, eingeschlossen auf der Insel Berlin, Angela Merkel. Um als Herrin der Lage zu erscheinen, dringt die Bundeskanzlerin – natürlich – auf einen Bundes-Lockdown. So ein Bundes-Lockdown suggeriert preußische Ordnung und Kontrolle, wo beides nicht herrscht und auch nicht erstrebenswert ist. Als Gegenstück zum Bundes-Lockdown gehört noch der Lockdown-Rebell Boris Palmer ins Bild. Der grüne Tübinger Oberbürgermeister hat sich mit seinem liberalen Sonderweg auch unter grünen Lockdown-Freunden den Ruf eines Lockdown-Weicheis eingebrockt. Eine große grünschwarzrote Lockdown-Koalition versucht mit allen Mitteln, ihn hart zu kochen.
Ob Bundes-Lockdown, ob Tübinger Freiheit: Das Lockdown-Geschehen hängt eng mit dem Impfgeschehen zusammen. Auch auf diesem Gebiet ist eine interessante Sprachentwicklung festzustellen. So drückt Armin Laschet in beeindruckend optimistischem Ton die Hoffnung aus, dass in naher Zukunft bereits 20 Prozent der Deutschen geimpft sein dürften. Im klassischen Sprachgebrauch sind 20 Prozent keine sehr eindrucksvolle Größe. Auch im Vergleich mit anderen hochprozentigen Ländern sind unsere angestrebten zwanzig sehr bescheiden.
Im Impf-Wettbewerb sind wir Brasilien
Aber die politische Sprachgärtnerei sorgt für eine deutlich verschönerte Perspektive, fast so, als hätte Brasilien seinerzeit (2014) nach der Eins-zu-sieben-Niederlage gegen Deutschland einen relativen Erfolg bejubelt anstatt realistische Tränen zu vergießen. Im Impf-Wettbewerb sind wir heute das Brasilien von damals. Nur weinen wir nicht wie damals die Brasilianer. Uns wird die Pleite schöngeredet.
Sprachliche Unverblümtheit ist in der Politik nie erwünscht, im Lockdown schon gar nicht. Man hat es lieber hübscher. Das aktuellste Beispiel dafür ist der eingangs versprochene, von Armin Laschet erfundene Brücken-Lockdown.
Eine Brücke ist von Hause aus etwas Wunderbares. Sie verbindet über tosende Gewässer oder klaffende Täler hinweg. Sie führt zusammen, was eigentlich getrennt ist. Ein Brücken-Lockdown kann also nur etwas Schönes sein. Handelt es sich um eine Brücke, die den tosenden Lockdown-Abgrund überbrückt und hinüber in bessere Zeiten führt?
Wie lange halten diese sprachlichen Eselsbrücken?
Naja. Laschets Brücken-Lockdown ist unausgesprochen, aber in Wahrheit ein Lockdown heavy, ja sogar extra heavy. Er wird scheinbar erträglich gemacht mit der Aussicht auf ein Licht am Ende des Tunnels. Gemeint ist also eigentlich ein Tunnel, durch den wir nochmal hindurchgehen sollen, mit ungewissem Lichtblick am Ende.
Also ein Tunnel-Lockdown? Das wäre der korrektere Begriff, aber für die aufpolierte politische Sprache kommt so ein dunkler Tunnel nicht in Frage. Er wirkt und ist einfach zu düster. Richtig gerne geht man da nicht durch. Höchstens schnell mal mit dem Auto auf dem Weg nach Italien. Da hat die unter freiem Himmel elegant schwebende Brücke doch eine ganz andere Ausstrahlung. So eine Lockdown-Brücke vermittelt den Eindruck von Leichtigkeit, auch wenn sie heavy ist. Wir betreten sie frohen Herzens und spüren erst zu spät, dass uns damit wieder etwas Schweres aufgebrummt wird.
Die Frage ist: Wie lange halten diese sprachlichen Eselsbrücken? Erste Wahlen und Umfragen deuten an, dass sie einsturzgefährdet sind. Die normative Kraft des Faktischen bringt sie ins Wanken. Wenn bei der Bundestagswahl im September die ganz schweren Gewichte aufgefahren werden, werden wir sehen, ob die Lockdown-Brücke und die anderen Sprachkreationen halten, was sie versprechen sollen.