Ich kann meinen Reisepass nochmal stecken lassen. Über Ostern geht es ins Brexit-Erwartungsland. Da die Scheidung der Insel vom Kontinent wahrscheinlich bis Halloween vertagt ist, lassen sie mich noch mit dem Personalausweis rein ins Königreich. Ob das später noch geht, weiß ich nicht. So ist das mit dem langen, langen Abschied der Insel vom Festland: Keiner weiß genaues. Fürs erste aber bietet der brexitus interruptus uns Kontinentaleuropäern immerhin ein bisschen Marscherleichterung.
Im übrigen kann man sagen: Halloween ist ein passend unheimliches Datum, zu dem die Fahrt auf der Brexit-Geisterbahn ein Ende haben soll. Soll. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die englischen Parlamentarier noch eine Runde riskieren, weil sie sich einfach nicht einigen können, wie genau sie ihren Ausstieg gestalten sollen.
Ich sage: die englischen Parlamentarier. Sie sind es ja, die das außerordentlich unterhaltsame, aber auch ermüdende Demokratie-Theater im Unterhaus inszeniert haben. Die Schotten wollen sowieso nicht mitspielen. Sie haben mehrheitlich für den Verbleib in der EU gestimmt. Ihre Vertreter in Westminster sind entschlossen, einen neuen Versuch in Richtung Unabhängigkeit zu machen, falls es tatsächlich zu einer ziemlich harten Scheidung kommt.
Beim letzten Versuch hat sich keine Mehrheit für einen Austritt aus dem Königreich gefunden, weil das zunächst auch einen Austritt aus der Europäischen Union bedeutet hätte. Und Brüssel, in gewohnter vorausschauender Weisheit, hat die Schotten gewarnt: Ein Wiederaufnahmegesuch könnte ein schwieriger und langwieriger Prozess werden. Bei der Warnung an die Schotten hat die Angst vor einem ansteckenden, vor allem katalanischen Separatismus eine Rolle gespielt. Dass ein paar Jahre später sich Britannien als Ganzes von den EU separieren würde, hat damals keiner geahnt.
Es war eine ziemlich einsame englische Entscheidung
Kommt es dazu, und sollten die Schotten dann tatsächlich die Unabhängigkeit und einen neuerlichen Anschluss an die EU wählen, beginnt ein ganz neues Spiel. Brüssel würde sehr viel gnädiger nach Schottland blicken. Wie gnädig die Engländer in einem solchen Fall wären, ist eine andere Frage. Denn ohne die Zustimmung des dann womöglich immer noch chaotischen Gesamtparlaments in Westminster käme der schottische Abschied einer Amputation ohne Narkose gleich. Unmöglich bis außerordentlich schmerzhaft.
Die Engländer haben viele gute Gründe, sich von der aufdringlichen und unnötig bevormundenden Europäischen Union trennen zu wollen. Hinzu kommt eine ganze Reihe schlechter Gründe. Eines aber ist klar: Es war eine ziemlich einsame englische Entscheidung. An die kleinen unmittelbaren und unter der Krone vereinten Nachbarn hat keiner auch nur einen Gedanken verschwendet.
Darum gibt es jetzt nicht nur das schottische Dilemma sondern auch noch das viel vertracktere irische Dilemma. Es ist nicht nur ein nordirisches sondern ein gesamtirisches Dilemma. Dass man da hinein rutschte, hat viel damit zu tun, dass der gemeine selbstgewisse Engländer, seine Iren einfach nicht für voll nimmt. Das hat Tradition. In den glücklichen Zeiten vor der Diktatur der political correctness gehörten Iren-Witze zum Standard-Programm englischer Scherzbolde. Die Iren waren die Ostfriesen der Engländer, leider nicht nur in der Witz-Kultur sondern auch im politischen Bewusstsein.
Das Problem ist, dass nicht alle Iren gleich sind. Nordirland gehört zum Königreich und die Protestanten dieser Region reagieren allergisch auf jeden noch so kleinen Verdacht, dass diese Verbindung gelockert werden könnte. Sie wollen zur unabhängigen katholischen Republik Irland klar Distanz halten, im Gegensatz zur katholischen Minderheit in Nordirland. Die schaut sehnsüchtig zur von Britannien befreiten Republik hinüber.
Ganz allmählich verschieben sich die Mehrheitsverhältnisse
Nach Jahren des Bürgerkriegs hat Nordirland einen Frieden gefunden, der die enge Verbindung zum Königreich sichert und gleichzeitig eine völlig offene, praktisch nicht existente Grenze zur Republik möglich macht. Beides ist innerhalb zweier EU-Staaten kein Problem. Aber wehe, es kommt zur Scheidung. Dann wird die Zugehörigkeit zum von Europa befreiten Königreich und die offene Grenze zum EU-Staat Irland ein Riesenproblem. Gesucht ist die Quadratur des Kreises.
Erschwerend kommt hinzu, dass Nordirlands republikanische Katholiken gebärfreudiger sind als die am Königreich hängenden Protestanten. Ganz allmählich verschieben sich die Mehrheitsverhältnisse, und das macht die Protestanten noch nervöser. Noch erschwerender kommt hinzu, dass Theresa Mays konservativ geführte Minderheitsregierung auf die Stimmen der nordirischen Protestanten angewiesen ist, um wenigstens im Prinzip mehrheitsfähig zu sein. Und dann noch dieses: In ihrer Selbstgewissheit haben englische Politiker nicht bedacht, dass Europa, vor allem Deutschland und Frankreich, dieser irischen Republik, der man nicht den nötigen Ernst entgegenbringt, so unverbrüchlich zur Seite stehen würden.
Ja, wenn es nur die englische Gleichgültigkeit gegenüber den kleinen Nachbarn wäre. Hinzu kommen die Zerfallserscheinungen im eigenen Parlament. Die konservative Partei erwies sich als dreigeteilt: in Anhänger eines ungeordneten, harten Brexit, in Anhänger eines weichen Brexit mit weiterhin enger Anlehnung an die EU, und in klammheimliche Anhänger eines Verbleibs in der EU. Die remainers halten die Brexit-Falken für Extremisten, die wiederum halten die EU-Anhänger für Verräter, und beide halten die Anhänger eines geordneten, EU-nahen Austritts für Weicheier.
Theresa May mit ihrem knallharten Weicheier-Kurs, den sie als den einzig realistischen betrachtet, hat zwischen den drei Fraktionen ihrer Fraktion eine Aufgabe, um die sie keiner beneidet. Sie hat oft unglücklich, weil unkommunikativ gehandelt, aber das Genie, das den zerbröselnden konservativen Haufen zusammenführt, muss erst noch gefunden werden.
Gemeinsames Gemauschel ist nicht vorgesehen
Jetzt sucht sie das Gespräch mit der Labour-Opposition. Warum erst jetzt und warum nicht gleich, als der Austrittsantrag gestellt wurde? Da kommt die britische Tradition ins Spiel. Es ist eine Tradition der klaren Arbeitsteilung: Die Regierung regiert, die Opposition opponiert, ein irgendwie als unsauber empfundenes gemeinsames Gemauschel ist nicht vorgesehen.
Schon das Wahlrecht, das jedem noch so knappen Wahlkreis-Sieger den ganzen Preis gibt, nämlich den Sitz im Unterhaus, ist auf Konfrontation angelegt. Und der Blick ins Unterhaus verstärkt das: Man sitzt sich frontal gegenüber, ringt miteinander in Rede und Gegenrede, und ist sich dabei so nah, dass es in einem weniger disziplinierten Parlament leicht zu Box- oder Ringkämpfen kommen könnte. Klare Verhältnisse also. Die Opposition kann ja bei der nächsten Wahl den Spieß umdrehen und dann ihrerseits zeigen, was sie drauf hat. Eine große Koalition, wie wir sie nun schon mehrmals in Deutschland erleben, würde als geradezu unenglisch, um nicht zu sagen: als undemokratisch empfunden.
Es ist also ein gewisser Abschied von der Tradition, wenn sich Theresa May nun mit dem Oppositionsführer Jeremy Corbyn gemeinsam auf die Suche nach einem Ausweg aus dem Schlamassel macht. Da müssen beide nicht nur über den Schatten der Tradition springen. Sie müssen auch die Probleme innnerhalb der Labour-Partei berücksichtigen, die fast so zerfleddert ist wie die Tory-Partei. Labour hat eine starke Truppe, die ganz in der EU bleiben will. Und auch die Brexit-Anhänger der Labour-Partei wollen so nah wie möglich an der EU bleiben. Nicht aus Liebe sondern aus politischen Gründen: Labour bangt um Arbeitsplätze, die durch den Brexit gefährdet würden, und um soziale und arbeitsrechtliche Standards, die bisher durch die EU garantiert sind. Die sähe man unter einer von Brüssel unabhängigen konservativen Regierung in Gefahr. Die EU soll als Sicherheitsnetz dienen.
Aber ganz so einfach ist die Sache nicht. Denn gerade in Wahlkreisen, in denen Labour stark ist, waren auch die Stimmen für einen Abschied von der EU stark. Ein Dilemma, das Jeremy Corbyn veranlasst, seine Hand in der EU-Debatte zumindest halb bedeckt zu halten. Aber auch er wünscht sich, nach einem Austritt ein gutes Stück unter dem Schutzschirm der EU zu verweilen. Also Zollunion und möglichst viel gemeinsamer Markt. Von der totalen Unabhängigkeit, die sich die entschiedenen Brexit-Anhänger wünschen, ist das meilenweit entfernt. Und Theresa May, die Unglückliche in der Mitte, soll das Kunststück vollbringen, aus diesem Chaos gemeinsam mit Corbyn eine tragfähige Mehrheit zu basteln.
Bei gutem Willen auf beiden Seiten könnte es sogar gelingen. Denn inzwischen ist die konservative Premierministerin in der Brexit-Frage der Mehrheit der Labour-Opposition näher als ihrem eigenen zerstrittenen Laden. Aber gibt es diesen guten Willen überhaupt? Über all dem Chaos schwebt ja die Frage: Wer regiert nach Theresa May das Land? Und wann? Böten Neuwahlen nicht den einzig realistischen Ausweg aus der verfahrenen Situation?
Haben selbst die stoischen Engländer von ihren Politikern die Nase voll?
Jeremy Corbyn könnte Neuwahlen durchaus hoffnungsvoll entgegen blicken, im Glauben, dass die zerstrittenen Torys vom Wähler abgestraft werden und er der nächste Premier wird. Er könnte es also trickreich darauf ankommen lassen. Aber ebenso muss er fürchten, dass ein knallharter Brexit-Tory die glücklose Theresa May ohne Neuwahl ablöst und dann all das tut, was ihm und seiner Partei zuwider ist. Die Torys müssen einerseits Neuwahlen fürchten, haben aber eine Hoffnung, und die heißt Jeremy Corbyn. Der ist so linksaußen wie manche Torys rechtsaußen sind, und er hat seine Partei auf einen strammen Linkskurs getrimmt. So stramm, dass viele Wähler, so hoffen konservative Politiker, davor zurückschrecken werden, Corbyns Linkspartei zu wählen.
Aber wählen sie dann konservativ? Das Brexit-Chaos hat in England eine Debatte darüber ausgelöst, ob das traditionelle Parteiensystem nicht an sein Ende gekommen ist. Man flirtet gedanklich mit Auflösungserscheinungen einer der traditionsreichsten Demokratien der Welt. Im Laufe der Brexit-Debatten hat es im Parlament mehrere Seitenwechsel gegeben. Eine Aufspaltung der Tory-Partei gehört zu den Gedankenspielen. Zwei neue Parteien wollen sich zur Wahl stellen, eine Partei der Mitte und eine scharfe Brexit-Partei.
Solche Versuche hat es in Britannien schon öfter gegeben. Aber das Wahlsystem macht es kleinen Neulingen sehr schwer, dauerhaft ein Bein auf den Boden zu kriegen. Sollte diesmal das Parteiengefüge – wie in mehreren Ländern des Kontinents - tatsächlich umgekrempelt werden, so wäre das in der Tat ein Hinweis darauf, dass selbst die stoischen Engländer von ihren Politikern die Nase gestrichen voll haben. Aber ebenso viel spricht dafür, dass die Tradition stärker sein könnte als die Wut der Wutbürger.
Wie es kommen könnte, werden die Europa-Wahlen zeigen. Denn der Austrittskandidat Britannien wird wahrscheinlich und absurderweise an diesen Wahlen im Mai teilnehmen müssen. Die Lust dazu ist unterschiedlich. So oder so wird das ein Stimmungstest, bei dem vermutlich jede Menge Denkzettel verteilt werden. Ein erster Hinweis, wie sehr das Parteiensystem wirklich wackelt. Und vielleicht ein schmerzhafter Denkanstoß für alle Beteiligten.
Kurz und schlecht: Die Geschichte vom englischen Brexit ist noch lange nicht zu Ende geschrieben. Es ist durchaus denkbar, dass ich auch nach Halloween noch ohne Reisepass auf die schöne und interessante Insel reisen kann, deren Abschied von der EU ich persönlich zutiefst bedauere.