Beginnen wir mit einem alten, und darum politisch nicht ganz korrekten Witzchen über den uralten Knaben auf der Parkbank, der eine schöne Frau vorbei gehen sieht und zu grübeln beginnt: „Da war doch noch was?“ Auch ich möchte diese Frage stellen, wenngleich in einem anderen Zusammenhang. Da war doch noch was? Aber was? Aber was? Ach ja: der Brexit. Den gibt’s ja auch noch. In nächster Zeit soll sich ja entscheiden, ob sich Briten und Europäer zum Jahreswechsel als sanft getrennte Nachbarn mit einem kompletten Handelsabkommen über den Kanal hinweg freundlich zuwinken oder ob sie ohne Abkommen grimmig voneinander gehen.
Aber wo ist er geblieben, der Brexit, der jahrelang Medien und Politiker fast ganz in seinen Bann gezogen hat? Er hat unbeachtet im Halbdunkel dahinvegetiert. Er leidet unter dem Corona-Virus wie eine alte Diva, die von einer neuen und jungen medial aus dem Rampenlicht verdrängt wurde. Und zum Unglück kam auch noch das Pech hinzu, dass der eine oder andere Brexit-Unterhändler zeitweilig selber vom Virus befallen war.
Aber aus dem Rampenlicht heißt nicht vom Erdboden verschwunden. Im Gegenteil: England und Europa haben es jetzt mit einem doppelten Dilemma zu tun, das man, ohne ganz falsch zu liegen, als Corxit bezeichnen kann. Corona und Brexit sorgen als schreckliche Zwillinge inzwischen gemeinsam für Unruhe bis hin zur Panik, je nach Gemütslage. Kurz: für verkorkste Zeiten.
Wie immer man die Wirkung der Zwillinge in der Rückschau bewerten mag, ob als Zeit des Horrors oder ob als einen weiteren Weltuntergang, der nicht stattfand: Erst einmal kosten die beiden eine Menge Geld. Der Brexit wird mit oder ohne Freundschaftspakt die Wirtschaft und die Arbeitnehmer auf beiden Seiten des Kanals teuer zu stehen kommen. Corona haut ökonomisch jetzt schon rein. Und da auf dem Kontinent und auf der Insel mit satten Staatsmilliarden die Wirtschaft halbwegs auf Spur gehalten werden soll, werden nicht nur wir heute, sondern auch unsere Nachkommen mit saftigen Rechnungen konfrontiert. Und, wie gesagt, zum Corona-Unglück kommt auch noch das Brexit-Pech dazu.
Johnsons unpreußische Treulosigkeit
Oder wird der eine schreckliche Zwilling, das Corona-Virus, womöglich dafür sorgen, dass die Brexit-Unterhändler sich am Riemen reißen und ein vernünftiges Abkommen zustande bekommen? Wird man alles versuchen, wenigstens den Brexit ordentlich über die Bühne zu bringen, um sich nicht noch ewig mit einer Doppelkatastrophe herumschlagen zu müssen?
Der gesunde Menschenverstand legt diese Vermutung nahe. Aber bisher sieht es nicht so aus. Im Gegenteil: Boris Johnson will einen heiklen Teil des bereits ratifizierten Brexit-Abkommens, den Nordirland-Kompromiss, wieder zur Disposition stellen, nach dem Motto: Was kümmert mich mein Vertrag von gestern! Es ist ja auch ein komischer Kompromiss. Er tut so als sei Nordirland gleichzeitig nicht in der EU (nämlich britisch) und doch in der EU (nämlich irisch). Johnsons unpreußische Treulosigkeit macht die zuständigen Kontinentaleuropäer so sauer, dass sie auf ebenso stur stellen wie Johnson, der so auftritt, als habe er Donald Trumps „The Art of the Deal“ auswendig gelernt. Aber es geht nicht nur um Nordirland. Auch um die Fische in der Nordsee und um den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg wird noch gestritten. Wirklich gestritten? Oder wird nur gepokert, wie üblich in diesen albernen Polit-Spielen?
Die Zeit wird knapp und knapper. Aber wenn Politiker pokern, geht es immer bis kurz vor oder kurz nach Toresschluss. Oder die Sache scheitert. Die Brüsseler unterstellen dem Londoner, dass er es genau darauf anlegt. Die Befreiung der Briten von der Knute der Brüssler Bürokraten ist ein hochemotionales Thema. Für die harten Brexitisten gilt: Freiheit, koste es, was es wolle. Für die Pragmatiker: Ein bisschen Freiheit – ja. Aber zu teuer darf es nicht werden. Sie denken an eine norwegische oder Schweizer Freiheit, die sich eng an die Europäische Union anschmiegt. Für die Koste-es-was-es-wolle-Freiheitskämpfer würde so eine Nähe an Landesverrat grenzen. Wie immer der Ausgang: Er wird vielen so weh tun, wie der Kampf gegen Corona.
Am Rande eines Rosenkrieges
Hätte sich der Brexit-Dauerärger vermeiden lassen? Natürlich. Das Referendum wäre anders ausgegangen, wenn sich die englische Jugend bequemt hätte, an der Abstimmung teilzunehmen. Wäre dann alles in Butter gewesen? Keineswegs. Die Wunde würde weiter schwelen. Viele Briten haben sich in der EU nie richtig wohl gefühlt. Und das Unwohlsein war oft gegenseitig. Das Referendum, das vor vier Jahren diesen Stein ins Rollen gebracht hat, war nur der vorletzte Akt einer Tragikomödie.
Packen wir die Sache lieber mal bei der Wurzel an. Und zwar damals im Jahr 1972. Wahrscheinlich wäre es das Vernünftigste gewesen, wenn die Briten seinerzeit gar nicht der EWG beigetreten wären. Für die europäische Gemeinschaft wäre das zwar ein Verlust gewesen, politisch, ökonomisch und militärisch. Aber die Briten hätten vielleicht besser den Weg der Schweiz und Norwegens wählen sollen. Also die freundschaftlich distanzierte Nähe, die diese beiden extrem erfolgreichen Länder zur EU pflegen.
Wer nicht reingeht, muss auch nicht mühsam rausgehen. Norwegen und die Schweiz sind nie in das EU-Haus eingezogen und kein Hahn kräht danach, dass sie draußen sind. Beide Länder sind hoch angesehene Nachbarn. Der Auszug der Briten hingegen bewegt sich die ganze Zeit schon am Rande eines Rosenkrieges. All die großen Streitfragen, mit denen sich Brüssel und London herumärgern, sind mit den Schweizern und den Norwegern längst geklärt. Und die kleinen Streitfragen – nun ja, die gehören nun mal zum wirklichen Leben.
Es könnte so schön friedlich sein, hätte Boris Johnsons Parteifreund Edward Heath damals den Vertrag nicht unterschrieben. Hat er aber. Und die Briten haben eineinhalb Jahre später in einem Referendum sein „Ja“ bestätigt. Wie sagt der Engländer? Alles Wasser unter der Brücke. Jetzt muss eben Boris ran. In der Corona-Krise hat er sich nicht mit Ruhm bekleckert. Mal sehen, ob die Brexit-Krise für ihn rühmlicher endet. Sicher ist nur dies: Eines Tages wird sich ein alter Knabe auf der Parkbank nur noch dunkel erinnern, dass da mal was war. Und im übrigen seine Ruhe genießen.