Stefan Frank / 24.09.2018 / 14:00 / Foto: Pixabay / 58 / Seite ausdrucken

Der bedrohte Lebensraum der Kulturschnepfe

„290 Kulturschaffende“ fordern den Rücktritt des Bundesinnenministers, meldeten am Freitag die Zeitungen. Von all den anderen Manifesten des Typs „Wir als Angehörige einer Berufsgruppe protestieren dagegen, dass…“, die jedes Jahr erscheinen, unterscheidet sich der Aufruf dadurch, dass fast nur B- und C-Prominenz sowie Künstler im Ruhestand unterschrieben haben. Als die allerwichtigsten der „290 bekannten Unterzeichner“ nennt der Blog „Huffington Post“:

„Enthüllungsjournalist Günter Wallraff und Berlinale-Chef Dieter Kosslick, Schauspieler wie Peter Lohmeyer, Jochen Busse, Burghart Klaußner, Meret Becker und Hugo Egon Balder, die Musikerin Inga Humpe, Filmemacher wie Emily Atef, Andres Veiel und Dietrich Brüggemann sowie Autorinnen wie Judith Schalansky, Ronja von Rönne und Terezia Mora.“

Die anderen 276 Unterzeichner sind, das darf man wohl sagen, noch weniger berühmt als Hugo Egon Balder und Ronja von Rönne. Aber in diesem Fall kommt es wohl auf die Teamleistung an, der Star ist die Mannschaft. 290 Kulturschaffende gegen Seehofer; wer dächte da nicht an 290 Spartiaten, die sich bei den Thermopylen der Armee des persischen Königs Xerxes in den Weg stellten?

In ihrer „Erklärung zur Politik des Bundesinnenministers Horst Seehofer“ zeigen sich die 290

„Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffenden, Kulturvermittlerinnen und -vermittler“ „entsetzt darüber, dass der Bundesinnenminister „fortwährend die Arbeitsfähigkeit der Bundesregierung sabotiert und dem internationalen Ansehen des Landes schadet“,entsetzt darüber, dass der Bundesinnenminister die hohe Anzahl von 69 Abschiebungen nach Afghanistan mit seinem 69. Geburtstag in Verbindung bringt“ und schließlich aufgebrachtnein, halt: doch eher „entsetzt darüber, dass Seehofer nun diesen Verfassungsschutzpräsidenten zum Staatssekretär in seinem Bundesinnenministerium befördert, dabei den Koalitionsfrieden als Druckmittel benutzt und als Bundesminister die politischen Kräfte stärkt, die sich nicht eindeutig von den Chemnitzer Ereignissen abgrenzen“.

So anmutige Prosa liest man heutzutage nicht häufig; man merkt, dass hier eine große Zahl von Künstlern am Werk war, die Formel-1 der Kulturschaffenden. Karl Marx hat einst überzeugend nachgewiesen, dass „geschickte Arbeit“ der „multiplizierten einfachen Arbeit“ gleichzustellen ist, dass man also einen Herzchirurgen oder einen Operntenor durch ungeschickte Arbeiter ersetzen kann, wenn deren Zahl nur groß genug ist. Hier sehen wir: 290 Kulturschaffende machen einen Heinrich Heine. „Ohne die Sixtinische Kapelle gesehen zu haben, kann man sich keinen anschauenden Begriff machen, was ein Mensch vermag“, schrieb Goethe in seiner Italienischen Reise. Selbst Goethe hätte sich keinen Begriff davon machen können, wie die Sixtinische Kapelle erst aussähe, hätten dort, unter der Anleitung von Hugo Egon Balder, 290 deutsche Kulturschaffende gemalt.

Die entsetzten Kulturschaffenden ähneln den Baumbesetzern

Seehofer, geht es weiter, beschädige „die Werte unserer Verfassung. Sein Verhalten ist provozierend, rückwärtsgewandt und würdelos gegenüber den Menschen. So verstellt er den Weg in eine zukunftsfähige deutsche Gesellschaft. Er einigt das Land nicht, er spaltet es.“ Darum setzen die Kulturschaffenden und -vermittler ein Ultimatum: „Horst Seehofer sollte – noch vor der Landtagswahl in Bayern – vom Amt des Bundesinnenministers zurücktreten.“ 

Man muss schon über ein bestimmtes Ego verfügen, um zu glauben, jemandes „Entsetzen“ habe nicht nur ein Gegenstand öffentlicher Debatte zu sein – das erwarten die HSV-Fans ja auch nicht –, sondern müsse zudem den Rücktritt eines Ministers nach sich ziehen. Davon, dass es einen Wächterrat aus Kulturschaffenden gibt, der Minister abberufen kann, steht im Grundgesetz nichts – aber, zugegeben: die Legislaturperiode ist auch noch nicht zu Ende. 

Die entsetzten Kulturschaffenden ähneln den Baumbesetzern im Hambacher Forst: Sie haben sich in Baumhäusern (respektive Wolkenkuckucksheimen) verschanzt, pinkeln von oben herab und wollen ihre Maximen zum allgemeinen Gesetz machen. Im einen Fall wird dies mit dem Wohl der Haselmaus gerechtfertigt, im anderen ist der Lebensraum der Kulturschnepfe bedroht. Es ist wohl keine Frage, welche der beiden Arten in Deutschland eher gefährdet ist. Wann ist Ihnen zum letzten Mal eine Haselmaus begegnet? Eben.

Künstler hingegen stehen in Deutschland buchstäblich an jeder Ecke, die Künstlerdichte in der Bundesrepublik ist höher als die in Florenz im Zeitalter der Medici: 186.949 Künstler sind bei der Künstlersozialkasse (KSK) gemeldet – 186.949 Dürers, Cranachs, Händels und Beethovens, das sind mehr, als die Stadt Saarbrücken Einwohner hat. Doch trotz dieser recht großzügigen Definition des Künstlers hätten viele der entsetzten Unterzeichner des Kulturschaffendenultimatums nicht einmal ein Anrecht auf Mitgliedschaft in der KSK – weil das, was sie beruflich tun, selbst nach deren Dafürhalten wirklich nichts mit Kunst zu tun hat.

Das gilt für die „Sozialwirtin“ Christiane Teichgräber ebenso wie für die „Stylistin“ Andrea Leicher und all die Lebenskundelehrerinnen, Historiker, Pädagogen und Galeristinnen – und wahrscheinlich auch für Dr. Oliver Schwab-Felisch, der angegeben hat, er sei von Beruf „Audiokommunikation“, der also offenbar weiß, wie man ein Autoradio ausbaut. Nicht, dass all diese Leute behaupteten, Künstler zu sein – nein, das kann man ihnen nicht vorwerfen; gleich in der Überschrift reiben sie es dem Leser ja unter die Nase, dass sie nicht allein „als Künstlerinnen und Künstler“ entsetzt, sondern obendrein als „Kulturschaffende, Kulturvermittlerinnen und -vermittler entsetzt“ sind.

Spät aufstehen und beim Frühstück rauchen

Wenn aber viele der entsetzten Unterzeichner weniger mit Kunst zu tun haben als 186.949 andere Bewohner dieses Landes – was noch mal ist dann ihr Verhältnis zur Kunst, das sie so einzigartig macht, dass ihre Meinungen besonderes Gewicht haben? Es ist wohl eher ihr künstlerisches Gefühl. Weil sie spät aufstehen und beim Frühstück rauchen, fühlen sie sich als Künstler. Vielleicht wurden sie sogar schon mal als Künstler diskriminiert, etwa, als ihnen jemand auf der Straße zurief: „Versuch’s mal mit Arbeit!“.

Sie wissen oder ahnen zwar, dass eine Galeristin, eine Kunstsammlerin, eine Kulturkommunikatorin, eine Raumdesignerin oder gar ein „Literaturveranstalter“ (was immer das sein mag) ebenso wenig Künstler sind wie der Schuhverkäufer ein Schuster; doch weil sie häufigen Umgang mit Leuten haben, die beruflich mit der Welt hadern, sind sie der Meinung, dass auch sie, die Kulturschaffenden, Kulturvermittlerinnen und -vermittler, ihre Tristien dichten und nach Rom schicken müssen. Das Schöne ist, dass sie sich in einer Menge – oder, wie man heute sagt: in einem Mob – verstecken können.

Der Begriff „Kulturschaffende“ ist wie dafür gemacht; er fragt nicht danach, auf welche Weise sich die Unterzeichner an der Kultur zu schaffen machen – manche von ihnen scheinen selbst keinen Begriff davon zu haben, was sie eigentlich den lieben langen Tag über tun: So hat eine gewisse Nina Arens tatsächlich „Kulturschaffende“ als ihren Beruf angegeben. Womöglich schreibt sie morgens Kantaten, nachmittags Dramen und errichtet abends hängende Gärten.

Wenn jeder, der bei einer Theateraufführung an der Kasse sitzt oder die Kulissen schiebt, ein Kulturschaffender ist, wirft das die Frage auf, warum die Initiatoren der Aktion nicht gleich den ganzen Weg gegangen sind und, dem Bauhausmanifest folgend, auch sämtliche Handwerker zu den Künstlern zählen. „Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker … Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte!“, schrieb Walter Gropius 1919.

Wo bleiben die Kanalbauer, Fliesenleger und Schweißer?

Wo also bleiben die Unterschriften der Kanalbauer, Fliesenleger und Schweißer? Wie? Die sind derzeit voll ausgelastet? Ja, das ist wohl der Unterschied zwischen Handwerkern und Kulturschaffenden. Der Begriff „Kulturschaffende“, der alle, die an Weltschmerz leiden, zu einem einzigen Racket vereint, ist übrigens nicht erst in der DDR entstanden, als es im „Neuen Deutschland“ Schlagzeilen gab wie: „Überwältigende Zustimmung der Kulturschaffenden der DDR zur Politik von Partei und Regierung. Für die weitere kontinuierliche Fortsetzung der Politik des IX. Parteitags der SED.“

Der Begriff hat eine andere Provenienz. Wie die Website der Bundeszentrale für politische Bildung in einer Übersicht mit dem Titel „Vokabeln im Nationalsozialismus“ erklärt, ist die Vorstellung, dass alle Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende, Kulturvermittlerinnen und -vermittler eine Gemeinschaft bilden, die eher eine politische ist, als dass sie irgendwas mit Kunst zu tun hätte, zwar ebenso wie dieErklärung zur Politik des Bundesinnenministers Horst Seehofer“ in Berlin entstanden, aber nicht erst diesen Monat:

Kulturschaffende (Pl.)
Sammelbezeichnung für alle im Bereich der Kunst Tätigen, die in der Reichskulturkammer organisiert waren.

Worttyp: NS-Neubildung.

Das Neuwort, überwiegend in der Pluralform vorkommend, entstand wohl infolge der Errichtung der Reichskulturkammer aufgrund des Gesetzes vom 22.9.1933, das aber selbst den Ausdruck nicht enthält. Meyers Lexikon erläutert später: "Die Reichskulturkammer ... ist die berufsständische Zusammenfassung und Gliederung der Kunstschaffenden im Großdeutschen Reich ... Mitglied der zuständigen Einzelkammer muß jeder sein, der bei der Erzeugung, der Wiedergabe, der geistigen oder technischen Verarbeitung, der Erhaltung, dem Absatz oder der Vermittlung des Absatzes von Kulturgut mitwirkt." Nach dem Tod Hindenburgs unterstützte 1934 ein "Aufruf der Kulturschaffenden" die Volksabstimmung zur Vereinigung der Ämter des Reichskanzlers und des Reichspräsidenten in der Person Hitlers. 

… 1937 schreibt der Abteilungsleiter im Propagandaministerium H. Hinkel: "Im Schmelztiegel des nationalsozialistischen Gedankengutes wurde durch die Reichskulturkammer und in ihr die lang ersehnte Gemeinschaft aller Kunst- und Kulturschaffenden geboren. Diese Gemeinschaft steht mitten im Volk und das Volk um sie! Daß dies alles so werden konnte, verdankt das ganze deutsche Volk seinem Führer Adolf Hitler, dem Schöpfer des Nationalsozialismus, dem ersten Künstler unserer Nation."

Freilich lässt sich das nicht auf die heutige Situation übertragen; heutzutage hat die Reichskulturkammer zwar immer noch ihren Hauptsitz in Berlin, ist aber in einer WhatsApp-Gruppe organisiert und hat eine Website.

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Robert Bauer / 24.09.2018

Was soll man sagen? Brillant, super, des allgemeinen Verteilens wert.! In der Tradition eines Karl Kraus und Friedrich Torberg.

Manuela Bartusch / 24.09.2018

Lieber Herr Frank, vielen Dank für diesen wundervollen Realitätsbericht. Ich habe wirklich Tränen gelacht über unsere Kulturschaffenden, die ihrer Bedeutungslosigkeit hier ein besonderes Armutszeugnis ausgestellt haben. Ein wahrer Künstler wäre für mich jemand, der endlich mal Hirn über diese Kulturschaffenden regnen lassen kann, damit sie uns mit ihrer strunzdummen Penetranz endlich mal verschonen.

Marc Setzter / 24.09.2018

Zu untersuchen wäre, inwieweit diese Kulturschaffenden ‘rückwärtsgewandt den Weg in eine zukunftsfähige deutsche Gesellschaft verstellen’. Im Einzelfall wäre es sicher angebracht, Seehofer zu folgen, falls dieser auf die Forderung eingeht. Eins gilt aber für so ziemlich alle Unterzeichner: Die Relevanz ihres Schaffens und ihr internationaler Stellenwert ist so ziemlich das Gegenteil von Globalisierung. Jeder deutsche Kanalbauer, Fliesenleger und Schweißer ist gefragter im Ausland, als einer dieser ‘Nationalisten wider Willen’.

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