Der Außenbeauftragte der EU geißelt eine israelische Geiselbefreiung als Massaker, und die EU-Politiker schweigen. Dabei wäre ein Aufschrei geboten. Falls Sie nicht wussten, was da eigentlich passiert ist: Hier können Sie es nachlesen.
Als Diplomat muss man oft schweigen oder verklausulieren, wenn man eigentlich Klartext reden möchte. Noch mehr gilt das für den „Hohen Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik“, der als Außenminister der EU den Drahtseilakt vollbringen muss, eine gemeinsame Außenpolitik von siebenundzwanzig durchaus uneinigen Mitgliedstaaten zu vertreten.
Was aber, wenn der sich nicht nur vollkommen undiplomatisch äußert, sondern sich ungeniert die Propaganda einer Terrororganisation zu eigen macht, deren wesentlicher Daseinszweck die Ermordung von Juden ist? Genau das hat Josep Borrell fertiggebracht, und offenbar regt es noch nicht einmal jemanden groß auf. Am 8. Juni äußerte Borrell auf Twitter: „Berichte aus Gaza über ein weiteres Massaker von Zivilisten sind entsetzlich. Wir verurteilen dies aufs Schärfste. Das Blutbad muss sofort aufhören.“ Grammatische Feinheiten, dass ein Blutbad „von Zivilisten“ auch ein von Zivilisten durchgeführtes bedeuten könnte usw., können wir uns sparen, denn was Borrell sagen wollte, ist klar: Die Juden hätten anlässlich der Befreiung von vier Geiseln ein „Massaker“ an Zivilisten begangen, diese also nach gängiger Wortbedeutung wahllos und absichtlich abgeschlachtet.
Was war tatsächlich geschehen? Die Israelis hatten irgendwie die zwei getrennten Aufenthaltsorte von vier bei dem Angriff vom 7. Oktober verschleppten Geiseln ermittelt und in wochenlanger Arbeit eine Befreiungsaktion vorbereitet. Die Geiseln wurden nicht im Tunnelsystem der Hamas, sondern in Wohnhäusern in dicht bebautem Umfeld festgehalten. Die Israelis schafften es dann wohl relativ gut zu den Geiseln und befreiten sie schnell, gerieten dann auf dem Rückweg im engen städtischen Umfeld unter Beschuss eines wilden Mobs, schafften den Rückzug aber schließlich mit Luftunterstützung und verloren dabei einen Mann, Arnon Zamora, nach dem die Rettungsaktion in Operation Arnon umbenannt wurde. Auf palästinensischer Seite kamen nach Angaben der Israelis unter 100, nach Angaben der Hamas 274 Menschen ums Leben, wobei die Hamas bei Opferzahlen prinzipiell nicht zwischen Kämpfern und Unbeteiligten unterscheidet. War das nun ein „Massaker“?
Zunächst einmal zum Zweck, ohne den die Mittel sich nicht rechtfertigen lassen: Die Geiseln wurden als Teilnehmer eines Friedensfestivals auf brutalste Weise als Geiseln genommen und verschleppt. Ihr Leben war in steter Gefahr, und die Hamas selbst drohte von Anfang an mit der Ermordung der Geiseln. Der Schutz ihrer Bürger vor Gewalt von innen oder von außen ist einer der zentralen Zwecke, aus denen sich die Existenz von Staaten überhaupt rechtfertigt. Israel hatte das Recht und die Pflicht, die Geiseln nach Möglichkeit zu befreien. Man sollte sich wünschen, als Deutscher dieselbe Gewissheit zu haben, dass einen die eigene Regierung in vergleichbarer Situation nach Möglichkeit herausholt, ohne andere Rücksichten darüber zu priorisieren. Eine Befreiungsaktion war ohne jede Frage legitim.
„Märtyrer“
Dann könnte man fragen, ob die Aktion mit geringstmöglichem Risiko für unbeteiligte Dritte ausgeführt wurde. Eine gewisse Brutalität des Vorgehens ist im Kampf im dichten städtischen Umfeld unerlässlich. Man beschreibt das oft als die Kombination aus Geschwindigkeit, Überraschung und der schwer übersetzbaren ‚violence of action‘, am ehesten vielleicht wiederzugeben als ‚tätige Überrumpelung‘, die dem Gegner nicht die Zeit lässt, die Situation einzuschätzen. Mit freundlichem Anklopfen kommt man nicht weiter, wenn man davon ausgehen muss, dann nicht nur selbst unter Beschuss zu kommen, sondern vor allem auch davon, dass dann die Geiseln, die befreit werden sollten, getötet würden. Die Umsetzung dieser taktischen Prinzipien gelang den Israelis offenbar, und sie kamen mit recht geringem Widerstand zu den Geiseln durch. Auch dazu waren die Israelis ganz eindeutig berechtigt.
Mit den kleineren Schusswechseln der Geiselbefreiung fielen dann allerdings die Vorteile von Geschwindigkeit und Überraschung fort. Der Gegner wusste, dass etwas im Gange war, und ein wüster Mob von wohl hunderten Mann griff die Soldaten, die eindeutig schon aus operativen Gründen nichts als ihren Rückzug im Sinn hatten, mit Sturmgewehren und Panzerfäusten an. Den Israelis wurde eines der Fahrzeuge, mit denen sie die Geiseln befreit hatten, zerstört, dann ein zweites, in das die Geiseln umgeladen worden waren. Mit Geschwindigkeit und Überraschung war es damit vorbei, und nun mussten sich die Israelis den Weg freischießen, flogen auch als Finte Luftangriffe auf Orte außerhalb der eigentlichen Transportroute. Die Alternative wäre gewesen, sich und die Geiseln abschlachten zu lassen, was offensichtlich niemandem zuzumuten ist. Diese Problematik des Rückzugs Richtung Strand im städtischen Umfeld gegen einen angreifenden Mob erinnert an die später im Film Black Hawk Down verarbeitete Schlacht von Mogadischu 1993. Dabei hatten zum Vergleich die UN-Truppen 19 Gefallene zu beklagen, die Somalier haben nicht gezählt, aber es dürften um die tausend gewesen sein. Gerade der Erfolg der israelischen Aktion dürfte dazu beigetragen haben, selbst die Opferzahlen feindlicher Kämpfer weit unter denen von Mogadischu zu halten.
Wie in Mogadischu ist es bei den Vorgängen in Nuseirat nicht möglich, getötete Zivilisten eindeutig von getöteten Kämpfern zu unterscheiden. Die Hamas macht diesen Unterschied prinzipiell nicht, weder bei Berichten von Opferzahlen noch mit einer Trennung nach Bekleidung und Aufenthaltsort. Die Hamas setzt offen Zivilisten als menschliche Schutzschilde ein, und unmarkierte Zivilisten, die keine offiziellen Mitglieder in einer Organisation sein mögen, beteiligen sich an Angriffen. Wenn in einem offensichtlich auf Tötung abzielenden Mob manche Mitglieder dieses Mobs aus Kalaschnikows und Panzerfäusten schießen, andere vielleicht keine Waffen tragen, aber doch mitstürmen, was für eine Unterscheidung soll man da bei der Gegenwehr mit geeigneten Waffen wie treffen? Jedenfalls trifft offenbar zu, dass sich die Straßen nach den ersten Schüssen nicht etwa geleert, sondern gefüllt haben, was darauf hindeutet, dass viele der Anwesenden gerade zum Kampf gekommen waren. Natürlich ist es möglich und sogar wahrscheinlich, dass auch zumindest einzelne Unbeteiligte von den Kämpfen überrascht wurden oder Kinder als „Märtyrer“ fürs Fernsehen zu den Kämpfen statt von ihnen weggebracht wurden, aber dafür sind nicht die Israelis verantwortlich, sondern die Hamas.
„Massaker“?
Überraschend wirkt an der israelischen Einsatzkonzeption, trotz drückender Überlegenheit an Nachtsichttechnik auf dem Boden und in der Luft am helllichten Tage hineinzugehen und nicht im Schutze der Nacht. Bei Nacht trifft man sowohl Zivilisten wie auch Gegner eher schlafend an und moderne Nachtsichttechnik schafft ihrem Besitzer einen massiven Vorteil. Das ist aber auch den Israelis klar, so dass man zwingende Gründe unterstellen muss, die einem Einsatz bei Nacht entgegenstanden. Überhaupt zeichnet sich die Interessenlage der beiden Parteien dadurch aus, dass die Israelis jedes Interesse an einem möglichst schnellen, unauffälligen Einsatz haben mussten, bestimmt auch niemanden und schon gar nicht die Geiseln als „Märtyrer“ verlieren wollten, deshalb an Kampfhandlungen kein Interesse haben konnten, während bei der Hamas die Erzeugung von „Märtyrern“, das Verheizen der eigenen Leute, ganz offen zelebrierter Teil der Strategie ist.
Wie und – vielleicht wichtiger – woher kommt nun ein Josep Borrell auf die Idee, dass die Israelis in Nuseirat ein „Massaker“ begangen haben könnten? Nun, vor Borrells Tweet hatte sich die Hamas auf Telegram gemeldet und Israel eines „schrecklichen Massakers gegen unschuldige Zivilisten“ geziehen. Der höchste außenpolitische Vertreter der Europäischen Union wiederholt also Hamas-Propaganda, gegen alle Evidenz. Ihm gleichgetan hat es der norwegische Staatssekretär im Außenministerium und Borrells sozialdemokratischer Parteifreund Andreas Motzfeldt Kravik. Wo man einfach Israel zur Befreiung der Geiseln gratulieren und zum Verlust Arnon Zamoras hätte kondolieren können, oder wenigstens gar nichts sagen, hat sich der Hohe Vertreter sehr niedrig und klein gemacht.
Und was sagt man in Deutschland dazu? Olaf Scholz sprach von der Befreiung der Geiseln als einem „Zeichen der Hoffnung.“ Zu Borrells unsäglichen Anschuldigungen ohne jede Unterfütterung durch Substanz äußerte er sich allerdings nicht. Ganz Deutschland stand Kopf, weil ein paar Besoffene – döp dödö döp – etwas gegrölt haben, das letztlich doch der angeblich von Bundeskanzler Scholz angestrebten Politik „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ entspricht, vermutlich von den Besoffenen so ernst gemeint wie vom Bundeskanzler. Politiker haben offen gefordert, die soziale Existenz der Gröler zu vernichten. Aber zur Frage, ob die Verbreitung von haltlosen, von der Hamas übernommenen, antisemitisch gefärbten Anschuldigungen den höchsten Vertreter der europäischen Außenpolitik im Amt untragbar machen könnte: Stille.
Oliver M. Haynold wuchs im Schwarzwald auf und lebt in Evanston, Illinois. Er studierte Geschichte und Chemie an der University of Pennsylvania und wurde an der Northwestern University mit einer Dissertation über die Verfassungstradition Württembergs promoviert. Er arbeitet seither als Unternehmensberater, in der Finanzbranche und als freier Erfinder. 2023 wurde er zum Kentucky Colonel ernannt.