Michael Miersch / 27.10.2007 / 14:26 / 0 / Seite ausdrucken

Der barmherzige Killerwal

Kolumne von Maxeiner & Miersch, erschienen in DIE WELT am 26.11.2007:

Heute steigen wir mal mit Goethe ein: „Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, dass die entgegen gesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muss, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der dann auch eine Zeitlang sein Wesen treibt.“ Ob Aufklärung, Romantik oder Totalitarismus: Die übergreifende Idee einer Epoche erkennt man meistens erst hinterher. Denn zumeist wird sie vom politischen Streit übertönt. Erst in der Rückschau wird klar, dass es eine Grundmelodie gab, und die Parteien sich nur über die richtige Interpretation dieser Melodie stritten.

Die Grundmelodie der eigenen Zeit ist schwer herauszuhören. Dennoch wollen wir mal eine Vermutung äußern. Die Vorstellung, dass die Natur sanft sei, gehört wahrscheinlich zur geistigen Grundausstattung der Gegenwart. Als Miersch mal eine Filmreihe über die Geschichte des Naturfilms drehte, war im Archivmaterial ab Mitte der fünfziger Jahre ein deutlicher Bruch sichtbar. Vorher waren die wilden Tiere bedrohlich. Im Naturfilm der zwanziger bis vierziger Jahre wird munter geschossen und harpuniert – egal ob deutsche, französische oder amerikanische Produktionen. Tiere wie Nashörner oder Krokodile erscheinen als scheußliche Bestien. Später dann war die Natur nicht mehr bedrohlich, sondern bedroht. Das blieb bis heute die Norm: Tiere haben gut zu sein und wenn sie mal böse werden, ist der Mensch schuld.

Ein schönes Beispiel für diesen Zeitgeist begegnete uns auf der Titelseite einer Kölner Boulevardzeitung: „Killerwal rettete Claudias Leben.“ Neugierig geworden lasen wir den zugehörigen Bericht. Ort der Handlung war ein Delphinarium auf Teneriffa. Protagonisten:  Eine deutsche Tiertrainerin und ihr Schützling Tekoa, ein Schwertwal (in journalistischen Erzeugnissen gern nach der englischen Bezeichnung „Killerwal“ genannt). In den Worten der Zeitung hatte sich Folgendes abgespielt: „…Plötzlich rammte Tekoa der Trainerin sein gewaltiges Haupt vor die Brust – offenbar versehentlich…Der Wal…zog die um Luft ringende Frau bis zum zwölf Meter tiefen Beckengrund …Dann stupste er die blutende Trainerin zum Beckenrand.“ „Killerwal zog Claudia aus der Tiefe. Tekoa rettete ihr Leben,“ lauteten die Überschriften im Innenteil.

Die Frau, so stand es weiter hinten im Artikel, war bewusstlos, hatte Fleischwunden, Prellungen, einen gebrochen Ellenbogen und musste operiert werden. Wie hätte in unserer Kindheit eine Boulevardzeitung wohl über diesem Vorfall berichtet? Vermutlich so: „Killerwal attackiert schöne Trainerin. 29-jährige Deutsche kam nur knapp mit dem Leben davon, als ein Neun-Tonnen-Walbulle sie rammte und in die Tiefe zog…“ Das spätere An-Land-Bringen, wäre damit erklärt worden, dass man dem Tier das Apportieren beigebracht hatte.

Wir wissen nicht, was im Kopf von Walen vorgeht, wir können nur im Zoologiebuch nachlesen. Dort steht, dass Schwertwale Raubtiere sind, die in freier Natur Robben und andere Wale töten und fressen. Tekoa hat seine Trainerin beinahe umgebracht und dann an den Beckenrand geschubst, was ihr Leben rettete. Ob das eine abgebrochene Attacke war, oder eine Rettung nach einem Unfall weiß niemand – außer dem Zeitgeist.

 

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