Im Kino gewesen. Geweint…
Ich muss vorwegschicken, dass mir das nicht selten passiert. Selbst bei „Kung Fu Panda“ hatte ich dann und wann feuchte Augen. Aber das war natürlich nichts gegen den geballten Angriff auf den Magen, auf die Nerven, auf das Herz, der da heißt „Der Baader-Meinhof-Komplex“. Zitternd kam ich aus dem Kino. Das ist ein großer Film mit großen Schauspielern, und wen diese Terroristen-Tragödie kalt lässt, der hat kein Herz. Und darum ist dieser Film auch ein verlogener Film.
Vielleicht sollte ich noch eine Bemerkung vorwegschicken. Irgendwann im Sommer 1974, wenn ich mich recht erinnere, wurde ich in das Hinterzimmer eines Kölner Lokals bestellt, wo mir die Zentrale Leitung des Kommunistischen Studentenverbands wegen einer „Rechtsabweichung“ des von mir geleiteten Westberliner Regionalkomitees eine Selbstkritik abforderte. Die Prozedur der Selbstkritik beinhaltet eine schonungslose Analyse der eigenen Schwächen, der eigenen mangelnden Hingabe an die revolutionäre Sache, des eigenen mangelnden Glaubens an die historische Aufgabe des Proletariats und seiner Partei. Sie beinhaltet ferner die Unterwerfung unter den Willen der Partei, die Bereitschaft, diese Selbstkritik auch öffentlich abzulegen, als Lehre für andere Abweichler oder solche, die mit dem Gedanken der Abweichung spielen, und das Akzeptieren einer Aufgabe, um sich des Vertrauens der Partei wieder würdig zu erweisen, in der Regel indem man hilft, die Abweichung mit Stumpf und Stiel auszurotten. Irgendwann im Verlauf dieser hochnotpeinlichen Prozedur musste ich aufs Klo. Der Vorraum des Lokals war leer, von draußen fiel helles Sonnenlicht in die dunkle Kneipe, auf der Straße gingen ganz normale Leute ihren ganz alltäglichen Beschäftigungen nach, und ich dachte mir: „Du könntest jetzt einfach hinausgehen und diese ganze verrückte Scheiße hinter dir lassen.“ Bis ich soweit war, sollten noch zwei Jahre vergehen. Aber das Bild der offenen Tür und des Sonnenlichts der Normalität vergaß ich nicht und werde ich nie vergessen.
In „Der Baader-Meinhof-Komplex“ gibt es dieses Bild nie. An keiner Stelle bricht der Film, wenn er von den Tätern handelt, aus der Täterperspektive aus. Er übernimmt den Tunnelblick der Gruppe: dort die Verbrechen des Imperialismus und die Brutalität des Unterdrückungsapparats, hier diejenigen, die diesem Imperialismus und diesem Apparat den Krieg erklären, die „Befreiung im Akt der Vernichtung“ suchen, wie es Gudrun Ensslin einmal gesagt hat (aber im Film nicht sagt). Der Film muss dabei ja nicht übertreiben. Die nachgestellten Szenen vom 2. Juni 1967, als Agenten des Schahs von Persien und Polizisten des Senats von Berlin mit unglaublicher Brutalität auf Demonstranten eindroschen und der Hauptwachtmeister Kurras den unbewaffneten Benno Ohnesorg aus nächster Nähe erschoss, sind nicht nur beklemmend, sie sind historisch wahr, und sie trieben mir die ersten Tränen des Films in die Augen: Tränen der Wut. So war es damals. Auch die Bilder aus Vietnam, die Entlaubung, der Napalm, die Flächenbombardements, sind nach all den Jahren immer noch beklemmend und leider auch wahr – und nach all den Jahren brennt die damalige ohnmächtige Wut und Scham immer noch. Und Wut und Scham – nach Marx eine revolutionäre Empfindung – können einen zu Worten und Taten treiben, über die man später den Kopf schüttelt. Hier muss der Film nichts erfinden. Er muss nur ungeheuer viel verdrängen. Und es gehörte ja und gehört eine ungeheuere Verdrängungsleistung dazu, einen Selbstverblendungszusammenhang herzustellen, in dem alles, was es außer prügelnden Polizisten und mordenden Militärs sonst noch gibt, ausgeblendet wird und man sich selbst als revolutionäres Subjekt ermächtigt, als tödlicher Racheengel der Geschichte zu fungieren. 99,9 Prozent der in den 1960er Jahren politisierten Jugendlichen sind diesen Weg denn auch nicht gegangen. Es war ja ein linker Lehrer, der Ulrike Meinhof der Polizei auslieferte. In diesem Film sind alle anderen aber bestenfalls Statisten, schlimmstenfalls Maulhelden, denen der revolutionäre Schneid eines Andreas Baader oder einer Gudrun Ensslin abgeht.
Am Ende vom Eichinger-Film „Der Untergang“ weitet sich der Bunker-Blick; die Tür ist auf, der Albtraum ist zu Ende. Am Ende des Eichinger-Films „Der Baader-Meinhof-Komplex“ hört man hinter den geschlossenen Fenstern eines Raums in Bagdad, in dem die Rest-Gruppe vom Gruppen-Selbstmord in Stammheim erfährt, den Muezzin rufen – künftige Albträume ankündigend: Das war ein Vorspiel nur… Am Anfang Janis Joplin mit dem Hohelied des kapitalistischen Konsums: „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes Benz…“ am Ende „Allahu Akhbar“: Dschihad versus McWorld, und dazwischen der Führer alias Bruno Ganz alias Horst Herold, der seinen Beamten erklärt, der Terrorismus werde erst ein Ende nehmen, wenn die Politik die Bedingungen beendet, die zur Entstehung des Terrorismus führen. Die alt-neue Leier von der Schuld der Verhältnisse. Als könnte es je so gerecht in der Welt zugehen, dass niemand anlässlich der Schäbigkeit der Verhältnisse Wut und Scham empfindet. Als wäre eine vollkommen befriedete, gerechte Gesellschaft möglich oder auch nur wünschenswert. Herolds Traum ist der Humus, auf dem der Albtraum RAF wächst.
Ein anderer Humus – und dies wird in Stefan Austs Buch sehr deutlich, im Film aber nur angedeutet – ist der deutsche Protestantismus mit seinem moralischen Rigorismus. Die furchtbarste Szene im Film ist jene, in der Gudrun Ensslins Eltern – er Pfarrer, sie Pfarrersfrau – von der „Befreiung“ durch die Tat ihrer Tochter reden, ja von der „Heiligkeit“ ihrer Tat. Bekanntlich sah auch Walter Jens in Rudi Dutschke eine „jesuanische“ Gestalt, redete Heinrich Böll – ein Katholik von eigentümlich protestantischer Art – von der „verlorenen Ehre der Katharina Blum“, die sie durch ihre Mordtat an einem Bild-Reporter wieder herstellt. (Und so haben die RAF-Leute Bölls Roman gelesen: als Rechtfertigung ihrer Mordtaten; auch das hat Aust dokumentiert.) Wo Terror im Spiel ist, da ist auch immer Religion im Spiel, explizit oder in irgendeiner verfremdeten Form. „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich“, sagt Jesus, und Holger Meins, der Märtyrer der RAF, sagt auf seinem Totenbett: „Entweder Mensch oder Schwein“.
Überhaupt ist die Faszination für die RAF ein bürgerliches Phänomen, kein Phänomen der Linken. „Dies ist ein Film über die Liebe“, sagt etwa der Großfeuilletonist der FAZ, Frank Schirrmacher, der als Skeptiker in die für ihn allein veranstaltete Sondervorführung ging, und als Bekehrter herauskam. So ein Blödsinn. Dies ist ein Film über den Hass. Über den ganz abstrakten Hass gegen die ungenügenden Verhältnisse, den der Idealismus und die Religion immer wieder gebären, und der immer wieder umschlägt in ganz konkrete Gewalt.
Dieser Film widerlegt nicht diesen Hass. Er bestätigt ihn. Er ist großartig, er ist bewegend, er ist verlogen, er ist gefährlich.