Aufgrund einer Reihe unglücklicher Umstände misslang das Stauffenberg-Attentat vor 80 Jahren, das als „Aufstand des Gewissens“ bezeichnet wurde. Was ist aus diesem Gewissen geworden?
Mein Großvater war kein Widerstandskämpfer. Als blutjunger Soldat bereits im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, durfte er im Zweiten Zivilist bleiben. Als 1943 sein bester Freund von der Ostfront auf Heimaturlaub kam, teilte der ihm bei seinem Besuch im Flüsterton mit, dort im Osten würden „von unseren Leuten“ massenweise Juden umgebracht. Mein Großvater, so berichtete es mir meine Oma, die ich als Jugendlicher intensiv befragte, habe daraufhin mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gerufen: „Nein, das will ich nicht hören, das glaube ich nicht, soviel Schlechtigkeit gibt es nicht!“
Eben solche Berichte von Augenzeugen waren es, die die meisten der Verschwörer vom 20. Juli 1944 in den Widerstand führten, auch den Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der heute vor genau 80 Jahren versuchte, Hitler zu töten, um Deutschland zu retten: vor der militärischen Niederlage, aber auch vor der moralischen Schande, dem „Verderber Deutschlands und Europas“ nicht in den Arm gefallen zu sein. Unterstützt wurde Stauffenberg von einem Netzwerk herausragender Persönlichkeiten aus allen Bereichen der damaligen deutschen Gesellschaft. Offiziere, Beamte und Kirchenvertreter waren darunter, Konservative, Liberale und Sozialdemokraten, die für den Fall, dass das Attentat auf den „Führer“ und der Sturz des NS-Regimes geglückt wären, bereits eine Schattenregierung gebildet hatten. Unabhängig davon, ob das Attentat gelinge oder nicht, hatte Mitverschwörer Henning von Tresckow kurz vorher gesagt, komme es darauf an, „dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat“.
Eine ganze Kaskade unglücklicher und verhängnisvoller Zufälle trug zum Misslingen von Stauffenbergs ohnehin schon äußerst waghalsigem Plan bei. Zu ihnen gehörten eine unmittelbar vor der Explosion um den entscheidenden halben Meter verschobene Aktentasche, eine aus unverständlichen Gründen nicht scharf gemachte zweite Bombe sowie ein wohl selbst für die damalige Zeit untypisch NS-gläubiger und eigentlich auf Kadavergehorsam gedrillter Offizier des Wachbataillons Berlin, der – statt seine Befehle zur Abriegelung des Regierungsviertels auszuführen – mit Goebbels persönlich Rücksprache hielt.
Da die Verschwörer im Erfolgsfall zu Friedensverhandlungen bereit gewesen wären und wahrscheinlich im Westen sogar kapituliert hätten, wären viele Millionen Menschen, die in dem „verlängerten“ letzten Dreivierteljahr des Krieges umkamen, am Leben geblieben. Die Nachkriegsgeschichte Deutschlands und Osteuropas wäre anders verlaufen. Viele Städte – von Hamburg über Dresden bis Warschau – wären nicht zerstört worden. Und selbst wenn die Alliierten auf ihrer Forderung nach einer totalen Kapitulation bestanden hätten, wären die Deutschen wohl mit einem anderen Bewusstsein aus dem Krieg gekommen: sich trotz der Schuld, die sie durch ihre Unterstützung des verbrecherischen NS-Regimes auf sich geladen hatten, doch am Ende aus eigener Kraft von diesem Regime befreit zu haben.
Der versäumte Widerstand der Großeltern wird nachgeholt
Das hat bekanntermaßen nicht geklappt, Deutschland „war nicht zu retten“. Unser Land erlitt die schwerste Niederlage seiner Geschichte, militärisch, staatlich, moralisch, und ist bis heute mit der Wucht dieser Niederlage und der Schwere der in seinem Namen begangenen Verbrechen beschäftigt. Deshalb waren die zwölf Jahre NS-Herrschaft keineswegs ein „Fliegenschiss“ (Alexander Gauland) in der deutschen Geschichte, sondern ein epochaler Wendepunkt, der nach Kriegsende zum Verlust eines Viertels des Staatsgebietes und zur Spaltung in zwei Teilstaaten führte. Während in dem einen Teil eine kommunistische Diktatur von Stalins Gnaden errichtet wurde, die ihre Bürger 40 Jahre lang durch Mauer und Stacheldraht am Weglaufen hinderte, breitete sich im anderen Teil durch Westbindung und Wirtschaftswunder das wohlige Gefühl aus, noch einmal glimpflich davongekommen zu sein.
Die innere Spaltung vertiefte sich paradoxerweise erst, nachdem die beiden Teile Deutschlands unverhofft wieder zusammengekommen waren. 35 Jahre nach seiner Wiedervereinigung, die in West und Ost kaum noch jemand für möglich gehalten hatte, ist das Land, das Stauffenberg hatte retten wollen, vielfach zerrissen. Auch das ist nicht zuletzt eine Langzeitfolge des „Fliegenschiss“. Denn mit der Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP sind nun Leute am Ruder, die mit ihrem „Kampf gegen Rechts“ den versäumten Widerstand ihrer Großeltern „nachholen“ wollen, um jeden Preis.
Durch sie folgt als verspätete Gegenreaktion auf die nationalistische und rassistische Vergöttlichung des Eigenen (die mit echtem Patriotismus ungefähr so viel zu tun hat wie die traditionelle Sozialdemokratie mit den stalinistischen Säuberungen) nun die Geringschätzung des Eigenen und die Vergöttlichung alles Fremden. Symptomatisch für diese Geisteshaltung ist Angela Merkels skandalöses Diktum von 2015: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ Mit dieser moralischen Erpressung machte sie in der Öffentlichkeit und über die Parteigrenzen hinweg den Weg frei für die nun seit neun Jahren andauernde ungeregelte Masseneinwanderung in die deutschen Sozialsysteme, die Deutschland in jeder Hinsicht überfordert und destabilisiert, was allmählich auch dem Mainstream dämmert.
Ein unheilvoller Zusammenhang
Doch die Ampel-Regierung ficht das nicht an. Da können Tausende von gewaltbereiten Islamisten ins Land strömen, da kann ein großenteils zugewanderter Antisemitismus die wenigen in Deutschland verbliebenen Juden in Angst und Schrecken versetzen, da können Linksextremisten und Autonome reihenweise Anschläge auf die Infrastruktur des Landes verüben und Andersdenkende attackieren – für die Regierung, insbesondere in Gestalt der amtierenden Innenministerin, steht der Feind immer nur rechts – und „rechts = rechtsextrem“ ist mittlerweile jeder, der Kritik an ihrer Migrations-, Energie-, Wirtschafts- und Sozialpolitik übt. Auf diese Weise werden weite Teile der Bevölkerung – nicht nur der „biodeutschen“, sondern auch der gut integrierten mit Migrationshintergrund – von oben stigmatisiert und diskriminiert. Das ist die Hauptursache der gesellschaftlichen Spaltung. Der Aufstieg der AfD ist lediglich die Folge.
Mit den Ideologen, die dieses Land nicht mehr als traditionelle Heimat der Alteingesessenen ansehen (was eine Integration von Zuwanderern nicht ausschließt und nie ausgeschlossen hat), sondern es zu einem geschichts- und gesichtslosen Gebiet umdefinieren wollen, auf dem zuwandernde Glücksritter aus aller Welt das selbstverständliche „Menschenrecht“ haben sollen, sich niederzulassen und zwar auf Kosten einer steuerzahlenden Minderheit, die dieselben Ideologen gern des „strukturellen Rassismus“ beschuldigen, ist – buchstäblich – kein Staat zu machen, aber sehr wohl einer kaputt zu kriegen. Der Weg von einer funktionierenden Demokratie in einen innerlich zerrissenen und im wirtschaftlichen Niedergang befindlichen Gesinnungsstaat scheint erschreckend kurz.
Natürlich ist die NS-Diktatur nicht mit dem heutigen Deutschland zu vergleichen, der Widerstand gegen Hitler nicht mit dem Widerspruch und Engagement gegen die Fehlentwicklungen, die die gegenwärtig Regierenden zu verantworten haben. Trotzdem besteht ein unheilvoller Zusammenhang zwischen damals und heute. Dadurch, dass der „Kampf gegen Rechts“ zur alleinigen Staatsräson verkommen ist und etablierte Politik und Medien quasi permanent im Schatten des Dritten Reiches verharren, sind sie blind geworden für neue Gefahren und Herausforderungen. Ja, sie stehen sogar einem rasant anwachsenden neuen Antisemitismus rat- und hilflos gegenüber, wenn er von Linken und Muslimen getragen wird.
Auf die innere Stimme hören
Und unterscheidet sich denn die Mentalität der Masse im heutigen Deutschland wirklich von der im damaligen? Die Haltung des „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“, des „Wenn die Tagesschau das sagt, muss es stimmen“ und das auf den Tisch schlagende Verdrängen: „Nein, das will ich nicht hören, das glaube ich nicht“ ist auch heute weit verbreitet. Die drei Coronajahre haben gezeigt, wie schnell unter den Deutschen die alte, längst überwunden geglaubte Blockwartmentalität wieder durchschlägt, die eilfertig bereit ist, alles zu denunzieren, was von der offiziellen Linie abweicht.
Einen „Aufstand des Gewissens“ nannte man den Umsturzversuch des 20. Juli. Ein solcher Aufstand setzt allerdings die Existenz eines Gewissens voraus, eines Gefühls der Verantwortung für das, was im Namen des eigenen Landes oder Volkes geschieht, der Scham über eigene Versäumnisse, des Willens zur Umkehr von einem Irrweg, des Glaubens an ein höheres Ziel als das eigene Wohlergehen und sogar der Bereitschaft, sein Leben dafür einzusetzen. Klingt das nicht hoffnungslos antiquiert, ist es nicht längst verschwunden, untergegangen mit denen, die in der Folge des 20. Juli 1944 von den Nazis hingerichtet wurden?
Der RBB befragte den 80jährigen Sohn des hingerichteten Widerstandskämpfers Günther Smend, was die Widerständler des 20. Juli auszeichnete. Dessen Antwort lautete: „Eine Loyalität zu sich selber, nämlich an einer bestimmten Grenze Halt zu machen, Nein zu sagen, auf die innere Stimme zu horchen, wenn diese sagt: ,Es geht nicht mehr weiter‘.“ Das ist wohl die wichtigste Lehre aus dem 20. Juli 1944: Egal, in welche Richtung sich die beliebig lenk- und verführbare Masse treiben lässt – entscheidend kann doch das Gewissen des Einzelnen sein.
Oliver Zimski ist Übersetzer und Autor. Im Juni 2024 erschien sein neuer Roman „Jans Attentat“.