Die bisherige „Aufarbeitung“ durch die am beruflichen Werdegang des Attentäters von Magdeburg beteiligten Institutionen lässt kaum erwarten, dass wir erfahren werden, wie eine solchen Person alle standesrechtlichen Hürden auf dem Weg zur Facharztwerdung überwinden konnte.
Kürzlich hatte ich mich hier mit der wundersamen Arzt-Werdung des Magdeburger Attentäters Taleb Al-Abdulmohsen beschäftigt und war dabei auf ein geradezu unglaubliches Versagen beziehungsweise ein ganz offensichtlich systematisches Wegschauen der mit dem Fall befassten medizinischen Institutionen, ärztlichen Kollegen und Behörden gestoßen. Wie kommt nun die Aufarbeitung an den beiden Fronten, nämlich der medizinischen einerseits und der politischen andererseits voran?
Diese beiden Fragen lassen sich recht rasch beantworten. Im Hinblick auf die politische Aufarbeitung berichtete der MDR am 7. Februar, dass kommende Woche im Landtag von Sachsen-Anhalt der Untersuchungsausschuss mit seiner Arbeit beginnen werde. Man rechne mit der Vernehmung von mehr als 100 Zeugen. Ziel sei es, nicht nur die Ereignisse, Umstände und Hintergründe näher zu untersuchen, sondern auch die Schuldfrage. Noch vor der nächsten Landtagswahl im Sommer 2026 sollen Ergebnisse vorliegen – nun denn. Um es positiv zu betrachten: Immerhin ist etwas in Gang gekommen.
Bevor wir uns mit dem Stand der Aufarbeitung innerhalb der beteiligten Organe der ärztlichen Selbstverwaltung, also vorrangig den Landesärztekammern in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, aber auch der Bundesärztekammer, beschäftigen, soll zunächst ein kurzer Tauchgang in die Untiefen der deutschen universitären Psychiatrie erfolgen.
Es war wiederum die "Welt", die – hinter der Bezahlschranke – schier unglaubliche Details am Beginn der ärztlichen Karriere von Taleb Al-Abdulmohsen zutage förderte. Demnach begann er seine Facharztweiterbildung zum Psychiater im November 2007 am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, ausgestattet mit einem fünfjährigen staatlichen Stipendium Saudi-Arabiens. Die Klinik habe mehrfach schon Kandidaten aus Saudi-Arabien weitergebildet und insgesamt gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Deshalb sei auch Al-Abdulmohsen eingestellt worden.
Wenn der Kollege plötzlich wie ein Hund knurrt
Sein ärztliches Wirken an dieser Klinik beschränkte sich auf lediglich 2 bis 3 Monate. Dann habe man sich getrennt, und er sei im Januar 2008 bereits aus Hamburg weggezogen. Grund für die vorzeitige Trennung sei sein geradezu grotesk anmutendes Verhalten gewesen. So habe er absurde Therapiemethoden vorgeschlagen, nämlich unter akustischen Halluzinationen leidende schizophrene Patienten durch äußere Schalleinwirkungen mittels Hörgeräten zu behandeln. Oder an Größenwahn gemahnende Äußerungen gemacht: Er sei „größer“ als Sigmund Freud oder Emil Kraepelin, der vielleicht bedeutendste deutsche Psychiater.
Hinzu kam, dass sein gebrochenes Deutsch als problematisch eingeschätzt wurde und er in einem kritischen Gespräch mit Klinik-Verantwortlichen plötzlich mehrfach wie ein Hund geknurrt habe. Das sei es mit seiner Karriere am UKE dann gewesen, obwohl er anschließend noch „offiziell“ und „im Rahmen einer unentgeltlichen Tätigkeit“ dort bis November 2008 tätig gewesen sei. Nach Recherchen der Welt-Redakteure habe er sich allerdings von Mitte Januar bis Ende September 2008 in den USA aufgehalten, offenbar in Boston.
Bekanntlich legte Al-Abdulmohsen trotz dieses wenig verheißungsvollen Karrierestarts im UKE seine Facharztprüfung erfolgreich im September 2014 vor der Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern ab. Im Hinblick auf seine Tätigkeit am UKE bleiben aus heutiger Sicht zwei Fragen offen: Haben sich die Klinik-Verantwortlichen des UKE an die Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern gewandt – zum Beispiel über eine Kontaktierung der Hamburger Kammer – und dort angefragt, ob im Falle von Al-Abdulmohsen und der Genehmigung seiner ärztlichen Berufsaufausübung tatsächlich alles seine Richtigkeit habe? Und, spiegelte sein ärztliches Zeugnis, so es eines gab, tatsächlich die ungeschönte Realität wider? Schwer vorstellbar, denn ansonsten hätten ihn andere Uni- und psychiatrische Kliniken ja wohl kaum eingestellt.
Das große Schweigen
Damit kommen wir zu der Frage, was sich bei den am Fall Al-Abdulmohsen in erster Linie beteiligten Ärztekammern – Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt – bisher getan hat. Weiterhelfen könnte hier ein Blick in das Deutsche und die beiden regionalen Ärzteblätter. Bei einer Online-Recherche am Abend des 7. Februars findet sich im Deutschen Ärzteblatt (nur in der Online-Ausgabe) immerhin ein Treffer mit der ausgesprochen beruhigenden Überschrift: "Keine Zweifel an ärztlicher Qualifikation von Attentäter." Berufen wird sich dabei auf Angaben aus dem Sozial- und Gesundheitsministerium, die ein Vertreter des Ministeriums im Innenausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt gemacht habe. Ansonsten sind in dem sechszeiligen Beitrag vom 10.1.2025 keine weiteren Informationen enthalten. Also: Alles gut, gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen. Dazu passt natürlich auch das Schweigen der Bundesärztekammer, die sich bisher nicht einmal zu einer Presseerklärung durchringen konnte.
In der Februar-Ausgabe vom Ärzteblatt Mecklenburg-Vorpommern werden das Magdeburger Geschehen oder der Attentäter selbst mit keinem Wort erwähnt. Obwohl die dortige Ärztekammer ja bekanntlich federführend bei der Arztwerdung des Attentäters war. Etwas, aber auch nur etwas anders verhält es sich mit dem Periodikum der Ärztekammer Sachsen-Anhalt. In der gemeinsamen Ausgabe für Januar und Februar 2025 findet sich eine Art Editorial des Chefredakteurs, des seit 2020 emeritierten langjährigen Dekans der Medizinischen Fakultät Magdeburg, des Anatomieprofessors Rothkötter – unter dem Titel: "Mitmenschlichkeit gegen die lähmende Angst. Erschütterung – Trauer – Solidarität – Professionalität." Es geht darin verständlicherweise zunächst um die Würdigung der Rettungskräfte und ihres Einsatzes am Tag des Attentats und danach, dann aber um: „Die Verletzungsmuster – multiple Frakturen und die schweren inneren Blutungen – bei der brutalen Gewalt des fahrenden Autos.“ Ein Täter kommt in dem gesamten Text nicht vor, verantwortlich war offensichtlich nur ein fahrendes Auto.
Haltung vor Aufklärung
Eine Thematisierung des ja offensichtlichen Versagens auch von Organisationen der ärztlichen Selbstverwaltung in den letzten beiden Jahrzehnten und mögliche Konsequenzen daraus – kein Wort. Ausreichend Platz findet aber das Bemühen des Chefredakteurs, Haltungspunkte zu sammeln, wenn es in seinem Beitrag heißt:
„Wir trauern zusammen. Und trotzdem: die erste ausländerfeindliche Demonstration bereits am 21.12. in der Innenstadt. Die Lichterkette am Tag vor Heiligabend war ein großes Zeichen der Solidarität und des gemeinsamen Aushaltens des Unfassbaren. Dass eine politische Kundgebung in kaum 500 Meter Entfernung stattfand, war mehr als eine Zumutung für die trauernde Stadtgesellschaft. Die entsetzliche Situation politisch für den Wahlkampf zu vereinnahmen ist Demagogie, der entschieden und couragiert entgegenzutreten ist!“
Kein Wort zum Täter, kein Wort zur Anzahl der Toten, kein Wort zur Anzahl der Verletzten, kein Wort zur voraussichtlichen Anzahl der lebenslang schwer Gezeichneten und schon gar kein Wort zur indirekten Mitverantwortung der Ärzteschaft und ihrer Kammern. Hauptsache, der Leser erfährt, wie weit entfernt die unzumutbare politische Kundgebung vom Tatort war.
Die bisherige „Aufarbeitung“ durch die am beruflichen Werdegang des Attentäters von Magdeburg beteiligten Institutionen lässt kaum erwarten, dass wir eine überzeugende Antwort auf die Frage erhalten werden, wie es einer solchen Person gelingen konnte, alle standesrechtlichen Hürden auf dem Weg zur Facharztwerdung zu überwinden. Dabei wäre eine Antwort auch deshalb wichtig, weil zu befürchten steht, dass es sich bei Al-Abdulmohsen – bis zum Beweis des Gegenteils – nicht um die ganz große Ausnahme handelt, auch wenn zum Glück natürlich nicht jeder mit einem ähnlichen Werdegang zum Attentäter wird. Aber friedliche, wenngleich unfähige oder gar selbsternannte Ärzte können bekanntlich auch viel Schaden anrichten.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Wolfgang Meins ist Neuropsychologe, Arzt für Psychiatrie und Neurologie, Geriater und apl. Professor für Psychiatrie. In den letzten Jahren überwiegend tätig als gerichtlicher Sachverständiger im zivilrechtlichen Bereich.