Auch die USA erleben seit dem 7. Oktober letzten Jahres eine Welle des Antisemitismus in bisher ungekanntem Ausmaß.
Die Situation der Juden in den Vereinigten Staaten (ca. 7,5 Millionen bzw. 2,4 Prozent der Bevölkerung) habe sich so sehr verschlechtert, dass sie sich bei Veranstaltungen am Rande des Nationalkonvents der Demokratischen Partei in Chicago im Geheimen treffen müssten.
Das schreibt der Holocaust-Überlebende und ehemalige nationale Direktor der Anti-Defamation League (ADL), Abraham Foxman, auf dem Kurznachrichtendienst X: „Ich weiß in meinem Herzen, dass es für Juden in Amerika in Zukunft besser sein wird als heute. Aber ich fürchte, es wird nie wieder so sein wie früher.“
Der wachsende Hass gegen jüdische Einwanderer zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand als treibende Kraft hinter der Gründung der Anti-Defamation League im Jahr 1913.
Laut ihrer ursprünglichen Satzung, wie sie von ihrer Trägerorganisation B’nai Brith, der größten jüdischen US-Organisation, festgelegt wurde, bestand das „unmittelbare Ziel“ der ADL darin, „der Diffamierung des jüdischen Volks durch Appelle an Vernunft und Gewissen und, falls nötig, durch Appelle an das Gesetz Einhalt zu gebieten“. Im politischen Spektrum ist die ADL links der Mitte angesiedelt und setzt sich etwa für ein liberales Abtreibungsrecht ein.
Störung
Anlass für Abraham Foxmans Kommentar war der Angriff auf eine Veranstaltung der jüdisch-orthodoxen Organisation Agudath Israel of America. Wie die Nachrichtenagentur Jewish News Syndicate berichtete, hatten die Organisatoren den Ort der Veranstaltung in Chicago nicht bekanntgegeben; dennoch sei es vermummten, antiisraelischen Demonstranten gelungen, die Veranstaltung am Dienstag zu stören.
Agudath schreibt auf seiner Website:
„Gestern versuchten Pro-Hamas-Agitatoren, eine Veranstaltung von Agudath Israel am Rande des Parteitags der Demokraten zu stören. Die Veranstaltung sollte unter anderem auf den wachsenden Antisemitismus in den USA aufmerksam machen, der sich insbesondere gegen orthodoxe Juden richtet. Die Ironie der Tatsache, dass die hirnlosen Slogan-Brüller beschlossen, orthodoxen Juden zu verfolgen und eine Veranstaltung zum Thema Antisemitismus zu stören, kann nicht unterschätzt werden. Sie veranschaulicht das gesellschaftliche Übel besser als jede Rede oder jedes Diagramm.“
Vorstandsvorsitzender Shlomo Werdiger sagte in seinen Eröffnungsworten:
„Sie dachten, sie könnten uns einschüchtern, damit wir nicht hier wären, damit unsere Stimmen verstummen. Und genau deshalb sind wir hier. Wir sind die Kinder und Enkel von Holocaust-Überlebenden und werden uns niemals einschüchtern oder zum Schweigen bringen lassen. Im Gegenteil, wir haben die Absicht, für unsere Rechte und unsere Freiheiten einzutreten, und wir brauchen Sie jetzt an unserer Seite gegen diesen Hass und Antisemitismus.“
Welle an Vorfällen
In den vergangenen Wochen gab es in den USA eine Vielzahl antisemitischer Vorfälle, die so gravierend waren, dass die Presse darüber berichtete:
- Ein junger Jude wurde am 10. August in der Nähe des Hauptquartiers der Chabad-Bewegung in Crown Heights im New Yorker Stadtteil Brooklyn von einem Mann niedergestochen, der „Free Palestine“ rief. Rabbiner Yaacov Behrman twitterte, der Angreifer habe den Mann „Willst du sterben?“ gefragt, bevor er auf ihn einstach. Das Opfer wurde ins Krankenhaus gebracht und wird voraussichtlich vollständig genesen, sagte Behrman. Ein im Internet veröffentlichtes Video des Vorfalls zeigt, wie der Attentäter sich einer Gruppe junger jüdischer Männer näherte und auf einen von ihnen einstach. Das Opfer blickte nach unten, offenbar auf seine Verletzungen, und blieb stehen, während andere Gemeindemitglieder den Angreifer verfolgten und festhielten, bis die Polizei eintraf und ihn festnahm. In Crown Heights leben viele orthodoxe jüdische Familien.
- Im Bundesstaat Maryland gibt es eine Serie antisemitischer Schmierereien an Schulen: Fotos zeigen unter anderem die Schriftzüge „Israel bombardiert Schulen“ und „Keine Gnade für Juden“, daneben sind drei gehenkte Menschen und ein Hakenkreuz abgebildet. Letzte Woche wurde ein Schild mit der Aufschrift „Wir unterstützen Israel“ vor einer Synagoge in Bethesda mit antisemitischen Botschaften besprüht, darunter „Israel vergewaltigt Männer, Frauen und Kinder“. Ein Sprecher der öffentlichen Schulen des Montgomery County erklärte, dass es zusätzlich zu der „antisemitischen Ikonografie (einschließlich Hakenkreuzen)“, die auf die Schulen gesprüht wurde, auch „Anti-LGBTQ+-Sprache“ gegeben habe.
Die Serie von Schmierereien von Hakenkreuzen und antisemitischen Botschaften an Schulen im Bezirk Montgomery begann letztes Jahr im Oktober. 2023 hat sich die Zahl der in Maryland registrierten antisemitischen Vorfälle gegenüber dem Vorjahr verdreifacht. Bei den meisten Fällen handelte es sich um Belästigungen bzw. Beleidigungen, Vandalismus und Körperverletzung.
- Auf das Jüdische Museum Maryland in Baltimore wurde in der Nacht vom 4. August ein Brandsatz geworfen. Laut Howard Libit, dem Geschäftsführer des Baltimore Jewish Council, wurde der Verdächtige von einer Überwachungskamera dabei gefilmt. Ein Mitglied des Renovierungsteams des Museums entdeckte am nächsten Morgen die Folgen – Materialreste und Brandflecken.
- Ebenfalls in Maryland wurden im März drei 13-jährige Schüler angeklagt, die einen jüdischen Mitschüler mit gemalten Hakenkreuzen und Hitler-Grüßen schikaniert hatten.
- Der ehemalige Student Patrick Dai der Cornell University wurde am 12. August zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt, berichtete die New York Times. Er hatte zugegeben, im vergangenen Herbst eine Reihe von Online-Nachrichten gepostet zu haben, in denen er gedroht hatte, Juden zu erstechen, zu vergewaltigen und zu enthaupten. Dai bekannte sich im April schuldig. Zusätzlich zur Gefängnisstrafe verurteilte Richterin Brenda K. Sannes vom Bundesbezirksgericht in Syracuse den 22-Jährigen zu drei Jahren Bewährung nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis. Carla B. Freedman, Staatsanwältin für den nördlichen Bezirk von New York, sagte in einer Erklärung, die Drohungen hätten „die Campus-Gemeinschaft von Cornell tagelang terrorisiert und das Sicherheitsgefühl der Gemeinschaft zerstört“.
- In der Nähe des Demokratischen Nationalkonvents in Chicago fanden in den letzten Tagen Anti-Israel-Kundgebungen statt. Dabei wurde die amerikanische Flagge verbrannt. Wegen Vandalismus, Landfriedensbruchs und Widerstands gegen die Polizei wurden mehrere Dutzend Teilnehmer verhaftet.
- Bis jetzt wurde kein einziger Student der Columbia-Universität, der im Zusammenhang mit der Pro-Hamas-Besetzung der Hamilton Hall der Universität verhaftet wurde, exmatrikuliert. Das berichtet die New York Post unter Berufung auf einen neuen Bericht des Ausschusses für Bildung und Arbeitskräfte des US-Repräsentantenhauses. Wie die Zeitung schreibt, haben von den zweiundzwanzig Studenten, die verhaftet wurden, achtzehn noch immer eine offiziell makellose akademische Vita. Die Redaktion der Zeitung kommentierte: „Dies widerlegt die Behauptung der Universität, sie nähme die antisemitische Gewalt, die auf ihrem Campus ausbrach, ernst und beweist erneut, dass dieses Klima des Hasses, der Angst und der Einschüchterung jüdischer Studenten für die Professorenschaft und Studentenschaft der Universität zu hundert Prozent in Ordnung ist.“
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Mena-Watch.
Stefan Frank, geboren 1976, ist unabhängiger Publizist und schreibt u.a. für Audiatur online, die Jüdische Rundschau und MENA Watch. Buchveröffentlichungen: „Die Weltvernichtungsmaschine. Vom Kreditboom zur Wirtschaftskrise“ (2009); „Kreditinferno: Ewige Schuldenkrise und monetäres Chaos“ (2012).