Tja, man hat als Protagonist des Anständigen eine Mission, die erfüllt werden muss, man hat als Anständiger einen quasireligiösen Glauben an das Anständige, eine mythisch überhöhte Gedankenwelt, die in die Bewegung von Massen umgesetzt werden muss, da haben dann der ganze Staat und die ganze Gesellschaft bei der Erfüllung des Anständigen mitzumachen, da sorgen dann die Medien und die Bildungseinrichtungen für die gleichen anständigen Gedanken und anständigen Gefühle der ins Anständige eingebundenen Gesellschaftsmitglieder, und da werden alle diejenigen, die sich dem Anständigen widersetzen, erst einmal nur ausgegrenzt und als unständig beschimpft, während doch die Anständigen diesen obstinaten Personen gerne auf andere Weise ihren Anstand beibringen würden. Und da hat es einmal eine politische Bewegung gegeben, deren Name mir gerade nicht einfällt, der aber diese „anständigen“ Eigenschaften zugeschrieben werden.
Was man auch wieder zunehmend wie schon zu unseeligen Zeiten beobachten kann, wie die “anständigen” Leute anfangen die unappettitliche Realität um sie herum in ein großes gemütliches Narrativ einzuzimmern, eine persönliche Lebenslüge mit der man durch den Alltag geht. So wusste Caroline Rosales, “Single Mom” und Redakteurin der Berliner Morgenpost, kürzlich dem erstaunten Berliner zu berichten: “Der Zuwachs von Privatschulen – so sollte es die Politik sehen – hat manchmal wenig mit elitärem Denken zu tun, sondern einfach mit der Unlust, mit Rechten und ihren Kindern zu reden.” Und schwupp hat dieses bunte, weltoffene Deutschland nur noch dort Probleme, wo “Papis und Mamis Dosenbier tranken und rechte Sprüche von sich gaben”.
Im Grunde haben Sie mit Ihrem Artikel nur den “Apparat” und seine Mitläufer und Karrieristen beschrieben, wie er in allen autoritären Regimen existiert. Wir sind auf dem besten Weg dorthin.
Es war gestern wohl der Tag der Gesichtsverluste und Entlarvungen, nicht nur bei der SPD, auch bei Spiegel online. Der Herr Kuzmany, der immer vor Empörung bebend und moralsabbernd in die Tasten haut, um den Anstand zu beschwören, hatte sich vor einigen Monaten über Gaulands Horrorwort „entsorgen“ fürchterlich erregt („daran erkennt man Nazi-Denke“). Gestern titelte er seinen Kommentar über die Personalsache Maaßen mit dem Satz: „Nach oben entsorgt“. Fehlt SPON der Anstand? Ist Herr Kuzmany ein verkappter Nazi? Oder darf man das schauerliche Wort „entsorgen“ bei Frau Özoguz niemals, bei Herrn Maaßen aber durchaus schon sagen? Sind solche Doppelstandards nicht schäbig? Ja, der Anstand ist ein verlogenes Subjekt, das je nach Gesinnung angepasst wird. Meine Großmutter sagte übrigens nie „Anstand“, sondern „gute Kinderstube“. Diesem Wort wird kaum die sprachliche Karriere von „Haltung“ und „Anstand“ beschieden sein. Kein Wunder, denn es impliziert Respekt und Höflichkeit gegenüber den Mitmenschen und klingt nach bürgerlicher Erziehung. Also nach allem, was diesen ungezogenen und billigen Figuren in Berlin fehlt.
Ein hervorragender Artikel, der vielen der heutigen Verirrten den ‘anständigen’ Blick schärfen sollte. Vielen Dank, toll geschrieben!
Im Jahr 2010 ließen sich die Toten Hosen und ihr Frontmann Campino, quasi der Bono Deutschlands mit einem geschätzten Privatvermögen von 25 Mio. Euro, zwei Konzerte in Taschkent und Almaty mit rund 70.000 Euro Steuergeld vom Auswärtigen Amt bezuschussen, so ganz ohne moralische Skrupel. Ja, wenn es ums liebe Geld geht, dann hört der Anstand auf. Da zahlt man doch gerne Steuern, wenn man weiß, dass sie vernünftig angelegt werden.
Um die Sprache als Sprache (Kommunikation, Kunst, Erbauung, ...) zu erhalten, müssen wir wohl einige Dinge auseinander halten : 1. Die Bedeutung des Wortes 2. Den Missbrauch des Wortes ad 1: Wenn Anstand bedeutet, dass wir, um besser leben zu können, gemeinsame Regeln über das Gesetz hinaus haben, kann man diese Regeln zeitgeistig diskutieren, sollte aber die Konsequenzen der Aufhebung dieser Regeln im Auge haben. Was “man nicht tut” ist eben nicht in Paragraphen zu fassen und trägt meist mehr zum friedlichen Zusammenleben bei als man glauben möchte. Ad 2: es ist Unsinn, Wörter, die für Polemik und Propaganda missbraucht werden, aus dem Sprachschatz zu entfernen. Damit vernichten wir die Sprache (kann auch beabsichtigt sein) und die Folge ist nicht, dass wir eine neuere und bessere haben, sondern dass die Linke französisch spricht und die AfD englisch antwortet. Das wird nicht zum friedlichen Zusammenleben beitragen, sondern das Gegenteil bewirken, quod erat demonstrandum.
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