Der Afghanistan-Schock (1)

Mit seinem „Nation Building“ ist der Westen in Afghanistan gescheitert – so wie das Großprojekt Globalisierung insgesamt scheitern wird. Eine dreiteilige Reihe.

Die Globalisierung hat einen Krieg verloren. Denn der Krieg in Afghanistan war ein Globalisierungskrieg, der das Schicksal des Landes militärisch, politisch, wirtschaftlich und sozial extrem an globale Entscheidungen gebunden hat. Das war kein begrenzter Militärschlag als Antwort auf die Anschläge des 11. September 2001, sondern eine viel umfassendere Mission. Eine Nation sollte von außen aufgebaut werden („nation building“). Hier sieht man die ganze Vermessenheit, die dem Projekt der Globalisierung zugrunde liegt: Es geht nicht einfach darum, dass es weltweite Beziehungen zwischen den Ländern gibt – das gehört zur Normalität von Außenpolitik und Außenwirtschaft.

Nein, es findet eine fundamentale Verschiebung der tragenden Kräfte und Strukturen statt. Die Entwicklung Afghanistans sollte nicht mehr vom Willen und Bewusstsein des Landes getragen werden, sondern von einem höheren, globalen Willen und Bewusstsein. Doch hat diese Mission, die über 20 Jahre hin mit einem immensen Einsatz von Menschen, Geld und Material durchgeführt wurde, es nicht geschafft, die Entwicklung Afghanistans auf neue, nachhaltige Grundlagen zu stellen. Insbesondere hat sie es nicht geschafft, nachhaltige Verantwortungs-Strukturen im Land zu schaffen und die inneren Kräfte für eine materiell und geistig selbstverantwortliche Nation zu wecken.

Man darf auch bezweifeln, dass die globalisierenden Akteure überhaupt irgendeine Vorstellung von diesem „Innen“ hatten. Dass dies „Innen“ ihnen wirklich wichtig war. Gehen sie nicht insgeheim davon aus, dass die Unterscheidung zwischen Innen und Außen in der heutigen Welt sowieso wertlos geworden ist? Ist „Nation Building“ da nicht nur ein Werbeslogan von Leuten, die Nationen eigentlich für etwas „von gestern“ halten? Die Ahnungslosigkeit über die Entwicklung der Stimmung im Land, die in dem plötzlichen, katastrophalen Ende der Afghanistan-Mission und dem fluchtartigen Rückzug zum Ausdruck kommt, deutet darauf hin. Die Akteure haben die Zeichen „aus dem Inneren“, die sie ja schon längere Zeit vor Augen hatten, nicht ernst genommen. Ihnen waren diese Zeichen für ihr Handeln im Grunde gleichgültig, und sie vertrauten da lieber auf das äußerliche Funktionieren ihrer Interventions-Routine. Doch dann kam der Realitäts-Schock.

Dies ist ein Realitätsschock für die Globalisierung, der eine Vorahnung davon gibt, wie dies so vielbesungene und so selbstgewisse Großprojekt insgesamt scheitern wird. Es ist das notwendige Scheitern eines im Grunde weltfremden Konstrukts, und in diesem Sinn kann man Erleichterung empfinden, dass es nun allmählich mit ihm zu Ende geht. Aber richtig zum Jubeln ist einem nicht zumute. Denn die Opfer sind schrecklich. Die Opfer an Leib und Leben der Menschen, die mit einem Mal völlig schutzlos der Gewalt und dem Elend preisgegeben sind. Und es sind ja nicht nur die Opfer im Umfeld des Kabuler Flughafens, wo sich die sichtbaren Dramen abspielen. Wie viel geschieht im Dunkel, wo keine Kamera hinschaut, wo nicht mal die Namen auf irgendeiner Rettungsliste stehen? Wo es erst in den nächsten Wochen und Monaten Vermisste geben wird? Das betrifft die sogenannten „Ortskräfte“, die direkt für die Intervention tätig waren. Aber es betrifft auch eine beträchtliche Zahl von Menschen, insbesondere Frauen, die nach Bildung, Berufstätigkeit und öffentlichem Leben strebten und dafür ihr Schicksal weitgehend mit der Intervention verknüpft haben. Sie alle stürzen jetzt ins Leere, denn es sind ja keine Auffangpositionen da. Die nationalen Strukturen waren, wenn überhaupt vorhanden, nur Überschriften ohne Substanz.

Seit 1980 die Bevölkerung verdreifacht

An dieser Stelle zeigt sich, dass die bedrohliche Lage noch viel mehr Menschen betrifft – letztlich die ganze Bevölkerung Afghanistans. Im gesamten Land wird die Lage in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren nicht leichter werden, sondern schwieriger und prekärer. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass die Taliban wieder die Macht haben und die internationalen Hilfen sehr viel geringer werden. Nein, in den fundamentalen Daten des Landes ist eine Verschärfung der Situation angelegt. In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist die Relation zwischen Bevölkerungszahl und Tragfähigkeit des Landes immer ungünstiger geworden. Dadurch haben die Bindungslosigkeit und die Zersplitterung der Bevölkerung zugenommen. Die Kombination aus alltäglicher Gewalt und Apathie ist auf dem Vormarsch.

Heute sehen wir den Zusammenbruch der militärischen und zivilen Intervention, aber morgen kann es zu einem noch größeren Zusammenbruch kommen, weil auch das Taliban-Regime, trotz aller lokalen Verankerung, der fundamentalen Notlage des Landes nicht gewachsen ist. Man muss sich nur immer wieder die Entwicklung der Bevölkerungszahlen vor Augen führen, um zu verstehen, welche Problematik sich da aufgetürmt hat: Im Jahr 1980, zu Zeiten der russischen Besatzung, betrug die Bevölkerungszahl 13,3 Millionen, 2020 waren es schon 38,9 Millionen. Eine Verdreifachung, in diesem extrem kargen Land! Und für das Jahr 2050 werden 64,7 Millionen prognostiziert. Das Problem liegt also im Innern des Landes. Afghanistan hat eine fundamentale Entwicklungskrise, die tief in die Formen der Familie hineinreicht. Es fehlt auf allen Ebenen an selbstverantwortlichen Einheiten.

Es ist in diesen Tagen in Deutschland und anderen westlichen Ländern viel davon die Rede, dass man Lehren aus dem Scheitern der Afghanistan-Mission ziehen muss. Oft wird gesagt, dass man sich von internationalen Interventionen zum Zweck des Nation-Building verabschieden muss. Aber zugleich wird eine andere Form der grenzüberschreitenden Antwort hochgefahren: der Exodus aus dem Land, die Massenmigration in Richtung „wohlhabender“ Länder. Und wieder ist man nicht in der Lage, diesen Irrweg einen Irrweg zu nennen. Man will die Migrantenströme in der Nähe des Herkunftslandes halten, aber man scheut sich, dem Streben in die wohlhabenden Länder prinzipiell zu widersprechen und entgegenzutreten. Man will das innere Entwicklungsproblem und insbesondere das Bevölkerungsproblem nicht wahrhaben und als ein wirkliches Großthema dieses Jahrhunderts akzeptieren – weil es harte Einschnitte und Grenzen erfordert.

Es wird so viel über angebliche „Klima-Leugner“ und „Corona-Leugner“ schwadroniert. Wäre es nicht viel dringlicher, sich mit den „Bevölkerungs-Leugnern“ zu befassen? Und besser noch: mit den „Entwicklungs-Leugnern“, die nicht wahrhaben wollen, dass Mensch und Natur nicht im Rohzustand zusammenpassen, sondern ein geschichtlicher Aufbau stattfinden muss, der zwischen beiden Seiten vermittelt. Es gibt viele Entwicklungs- und Schwellenländer, die erst im 20. Jahrhundert ihre Unabhängigkeit erkämpft haben. Ein erheblicher Teil hat sich recht gut entwickelt, aber es gibt auch einen Teil, der ziemlich schnell in der Bevölkerungsfalle gelandet ist. Aber statt zu überlegen, wie man da herauskommt, findet gegenwärtig eine Schuld-Debatte über „Rassismus“ und „Kolonialismus“ statt, bei der man sich moralisch aufplustern kann, ohne irgendetwas zu den heutigen Entwicklungsproblemen beizutragen. Ob der Afghanistan-Schock da heilsam wirkt?

Es folgen in den nächsten Tagen zwei Beiträge  die sich mit verschiedenen Aspekten des Afghanistan-Schocks auseinandersetzen. Lesen Sie morgen Teil 2: „Nur eine falsche ,Einschätzung'"?

Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Blog des Autors.

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Leserpost

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Peter Bernhardt / 04.09.2021

@Dr. Joachim Lucas   “Die Hitlers kommen und gehen aber das deutsche Volk bleibt.” Wer das Leben der Völker aufmerksam verfolgt, dem ist das Aufgeben des Kindererzeugens nichts Neues. Alle Völker haben es, welche nicht mehr wissen, wozu sie leben.

Elias Hallmoser / 04.09.2021

Auf dem Gebiet des heutigen Afghanistans herrscht der Islam seit gut 1000 Jahren; ca. 99,9% der Afghanen gehören dem Islam an. Die Bevölkerung Afghanistans hat sich von 1950 -2020 ca. verfünffacht. Die Machtkämpfe der jüngeren Zeit begannen in Afghanistan als Mohammed Daoud Khan 1973 gegen das Königshaus Mohammed Zahir Schahs putschte. Ob es jemals ein Projekt des ‘Nation Building’ in Afghanistan gab, müsste man belegen können, sonst bleibt es einfach eine Vermutung. Sicher erscheint jedenfalls, dass nach dem Putsch des Mohammed Daoud Khan viele verschiedene Gruppen jahrzehntelang um die Macht in Afghanistan kämpften.  Bisher ist es nun so, dass in keinem islamisch beherrschten Staat jemals eine Umkehr zu einem weltoffenen Staat stattgefunden hat. Nach islamischer Auffassung ist ein Staat ohnehin etwas befremdliches, denn es gibt wohl islamisch beherrschte Emirate und das Ziel des Korans und somit aller Anhänger des Korans ist die Errichtung eines weltumspannenden islamischen Kalifats. Und das Ziel des Korans war und ist es nicht, Wohlstand zu schaffen.

Andreas Mertens / 04.09.2021

Wie wäre es wenn der Westen (allen voran “Wir_retten_Die_Welt_D-Land”) das täte was alle Anderen auch tun ... an sich selbst denken? Seine eigenen Leute (was auch immer sich da über Jahrhunderte bunt zusammengewürfelt hat) beschützt, ihnen eine sichere Zukunft sichert. Kein chin. Politiker käme auf die Idee Land XYZ seinem eigenen Land vorzuziehen. Höchstens 1x .. danach wäre er dann kein Politiker mehr. Kein Russe, kein Argentinier, kein Israeli, kein Sonstwas aus Sonstwoher. Ja, es gibt massig marode, verlorene und hoffnungslose Länder wie Afghanistan, instabile Subkontinente wie Indien und Desaster-Kontinente wie Afrika. Die geben, wenn es irgendwann hart auf hart kommt, einen feuchten Kehricht auf uns .. und zu recht. Die haben ganz andere Probleme. Für die sind wir ein Fliegenschiß auf der Landkarte. Die 82 Millionen hier, nicht mehr als die Vororte/Umland von Daressalam, Kairo, Mumbai oder Bejing. China hat mehr Arbeitslose als wir Einwohner und doppelt so viele am Existenzminimum vegetierende Wanderarbeiter. In Indien allein leben 18 Mio Menschen in moderner Sklaverei. Als wenn die auch nur einen Finger krumm machen (könnten), wenn den D-Ländern ihr Laden um die Ohren fliegt. In Afghanistan hauen die Taliban alles kurz und klein? Das Problem der Afghanen. Mit etwas Glück fliehen die intelligenten Afghanen. Mit noch mehr Glück kriegen wir die ab. Aber bitte nur die. Dumme haben wir genug aus eigner Produktion. China .. Rußland .. etc ...  machen einen auf Diktatur? Deren Problem. Wir filtern die Intelligenten raus und basteln dann eifrig am eigenen Wohlstand. Verteidigung der Demokratie am Hindukusch? Der nächste Polithansel der solchen Schwachfug ausspuckt sollte einer der Eisenkäfige beziehen, die immer noch in Münster am Turm der Lambertikirche baumeln.

Peter Wachter / 04.09.2021

Hallo Herr @Roland Müller, genau richtig! Für die Leser dazu ein Link, YT: “Afganistan Elektriker”. Ja das ist ein alter Film, Nein heutzutage ist es nicht besser, Ja das wird auch im Dummland so kommen, Nein ich hab kein Mitleid, Ja ich bin vorbereitet !

Alex Müller / 04.09.2021

@Rainer Mewes: Es war schon 1975 bei Herbert Gruhl (Ein Planet wird geplündert) nachzulesen, dann nochmal in seinem Spätwerk (Himmelfahrt ins Nichts) Anfang der 90er. Dürfte auch ein Grund sein, warum die Taliban so vergleichsweise moderat erscheinen. Die wissen auch, daß nichts ihre Ordnung so schnell hinwegfegen kann, wie eine junge, hungrige Bevölkerung.

lutzgerke / 04.09.2021

@ Rainer Mewes Sie haben ja völlig Recht. / Der geistige Spastizismus zeigt sich auch immer wieder in den falschen Lösungen. Der schnelle Verfall der menschlichen Intelligenz ist das, was mich erschrickt. Schwarmintelligenz - sich mit so einem Blödsinn vor die Tür zu wagen, das ist genau das Gegenteil. Im Schwarm wird der Mensch augeblicklich dümmer; das kann man leicht beobachten auch an der Einschränkung der Meinungsfreiheit. Merkel ist ein Dummbatzen, der nur den schnellen Erstickungstod herbeiführt.

Peter Bernhardt / 04.09.2021

@Claudius Pappe Fürchte den Bock von vorn, das Pferd von hinten und die gegenderte Böckin von allen Seiten. Nach Anton Pawlowitsch Tschechow

Arnauld de Turdupil / 04.09.2021

Das Großprojekt Globalisierung soll insgesamt scheitern machen? Da tut die gegenwärtige deutsche Elite aber mächtig dagegen sein und die können nicht irren tun machen. Oder ist der Autor gar ein Nazi? Wir wissen, wo sein Haus wohnt. Gruss von der Merkel-Jugend Antifa.

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