Von Detlef Rogge.
Bekanntlich vereinnahmt Politik gern Geschichte. Der nervenzehrenden Rhetorik der Bundeskanzlerin konsequent aus dem Wege gehend, kam mir erst kürzlich ihre an Dreistigkeit grenzende Interpretation der Geschehnisse um den 20. Juli 1944 zur Kenntnis, die sie anlässlich der Sommerpressekonferenz des vergangenen Jahres abgeliefert hatte: „… Diese Pressekonferenz findet am 20. Juli statt. Der 20. Juli ist nicht irgendein Tag in der deutschen Geschichte. Viele Menschen haben ihr Leben für Europa, für ein gemeinsames Europa gelassen. Das sehe ich schon als einen wichtigen Auftrag an, der im Übrigen auch schon in der Präambel des Grundgesetzes niedergelegt ist ...“ An einen Lapsus glaube ich nicht, denn der Bundesaußenminister erklärte im Ehrenhof der Gedenkstätte Deutscher Widerstand wohl kaum zufällig ein geeintes Europa gleichfalls zum Wunsch der Widerständler, angereichert, offenbar im Einverständnis mit deren Nachfahren, mit einem Aufruf zum Widerstand gegen rechte Wutbürger.
Dass die so Vereinnahmten von einem derartigen Anliegen ihres Vorhabens höchst überrascht gewesen wären, schien nur Jan Fleischhauer aufgefallen zu sein, der sich dazu in seiner Kolumne vom 26.7.2018 bei Spiegel Online äußerte. In diesem Jahr jährt sich das Hitler-Attentat zum fünfundsiebzigsten Mal.
Der 20. Juli 1944 hatte Anteil daran, mein Interesse für Geschichte zu wecken. Mein Vater, Jahrgang 1920, erlebte die Entsetzlichkeiten des Krieges an der Ostfront als subalterner Mannschaftsdienstgrad bis zu seiner Gefangennahme im April 1945. Von den rund 750.000 jungen Männern seines Jahrgangs überlebten 276.000, also 36,8 Prozent, den Krieg nicht. Nicht erfasst sind dauerhaft Versehrte und Demissionierte, die an den Spätfolgen ihrer Verletzungen zugrunde gingen. Ungewöhnlich für einen Mann seiner Generation war des Vaters Wertschätzung für die Hitler-Attentäter bereits zu einer Zeit, in der diesen noch der Ruf von Landesverrätern und Feiglingen anhing. Später ließ er es sich nicht nehmen, an jedem 20. Juli im Hof des Bendlerblocks oder in der Hinrichtungsstätte Plötzensee nach Abschluss offizieller Würdigungen ihrer zu gedenken.
Was ihn dazu bewog, hat sich mir nie erschlossen, denn er gehörte zu jenen Veteranen, die unfähig waren, über ihre Kriegserlebnisse zu reden. Sein Ritual führe ich fort, vielleicht ein Grund, weshalb ich zu den Ereignissen des 20. Juli die von Historikern gewünschte Neutralität nebst nüchterner Diktion – sine ira et studio – im folgenden Beitrag wohl etwas vermissen lasse. Zudem ist mir bewusst, dass ich zur komplexen Thematik in der Kürze lediglich Teilaspekte beschreibe, deren Verzahnung in die Geschichte des Widerstandes noch weiterer Ausführungen bedürfte. Wohl ein Zuviel an Apologetik und Pathos den Männern des 20. Juli gegenüber, der geneigte Leser darf das gern für sich entscheiden. Immerhin, eine Exegese des Attentats als verhinderte Grundlegung eines gemeinsamen Europas erwartet ihn nicht.
Der faustische Pakt
Als Kaiser, König und Kriegsherr zeigte sich Wilhelm II. als grandioseste Fehlbesetzung in der Geschichte des Hauses Hohenzollern. Fünfzehn Jahre nach dessen ruhmlosem Abgang erhielt die traumatisierte Kriegerkaste der preußischen Landjunker pittoresken Ersatz aus dem bayerisch-österreichischen Innviertel. Ein sendungsbewusster Religionsstifter mit dem stechenden Blick des Gezeichneten kündete sich zum Erlöser der Deutschen und Messias der nordischen Rasse. Rasch missionierte er noch zaudernde Gemüter, bis die Mehrheit der „Volksgenossen“ schließlich von allen guten Geistern verlassen war und er sie als Unwesen treibender Dämon schließlich allesamt mitriss in den Abgrund. Wohl nur den wenigsten der einstigen Kriegerelite seiner Majestät dämmerte beizeiten, dass man einem Vabanquespieler als obersten Kriegsherrn aufgesessen war; als Stand jedenfalls hat die preußisch-deutsche Militäraristokratie ihren faustischen Pakt teuer bezahlen müssen.
Atemberaubende, blitzschnelle Siege der reanimierten Wehrmacht in Polen und Frankreich suspendierten die Gewissen der wenigen hochrangigen Offiziere im Oberkommando des Heeres, die den Methoden und Absichten ihres Oberbefehlshabers zunächst noch skeptisch gegenüberstanden. Deren Widerwillen reaktivierte sich erst zusehends angesichts unübersehbarer Verbrechen der Himmlerschen Einsatzgruppen an wehrlosen Zivilisten im rückwärtigen Heeresgebiet der Ostfront. Zum besudelten Ehrenkodex ihres Standes durch von Hitler selbst getragene Abscheulichkeiten gesellte sich spätestens nach dem Scheitern der Heeresgruppe Süd im Winter 1942/43 die Einsicht, dass die militärische Lage des Reiches zunehmend hoffnungsloser wurde und der Krieg auch gegen den erklärten Willen ihres uneinsichtigen Kriegsherrn beendet werden müsse. Weil der im Kriegsverlauf zunehmend blindwütiger agierende Usurpator nicht im Traum daran dachte, seinen Platz zu räumen, blieb nur, ihn zu beseitigen.
Die Spezialisten der Kriegskunst, seit 1843 im preußischen Generalstab mit doppelten karmesinroten Hosenstreifen ausgewiesen, nun vom Oberkommando des Heeres bestallt, begriffen sich in ihrer Mehrzahl wohl kaum als Demokraten, und eine parlamentarische Demokratie im Sinne von Weimar war mit Sicherheit nicht die Staatsform ihrer Wahl. Sie waren vielmehr die Vertreter des Ancien Régime, jenes gesellschaftlichen Standes, der den Nationalsozialismus als das kleinere Übel betrachtete, an den militärischen Anfangserfolgen des Dritten Reiches bemerkenswerten Anteil hatte und durch großzügige Beförderungen partizipierte. Für sie hieße eine Revolte, sich gegen ihren einstigen Wohltäter zu wenden, der durch Wiedereinführung der Wehrpflicht und Aufrüstung das Offiziercorps aus dem Schattendasein des Hunderttausend-Mann-Heeres erlöst und ihnen wieder zu gewohnter gesellschaftlicher Anerkennung verholfen hatte.
Das Neuland des Staatsstreiches
Preußens sprödestes Erzeugnis, das vernunftbestimmte Handeln, steuerte das Bewusstsein einiger Querdenker in ihren Reihen jedenfalls nun wieder nachhaltiger als die Chimären des Dritten Reiches. Darf jegliche Staatsgewalt uneingeschränkt pflichtbewussten Gehorsam einfordern oder hat sich das Gewissen vorrangig an übergeordneten ethischen Maßstäben zu orientieren? Macht die Kenntnis von Verbrechen aus tatenlos hinnehmenden Kritikern nicht bereits Mitschuldige? Gebietet nicht schon das nationale Interesse, den militärischen Dilettanten Hitler seiner Befehls- und Kommandogewalt zu entheben, bevor er Streitkräfte und Staat vollends ruinieren würde?
Gut möglich auch, dass man des Generals von Saldern und des Oberstleutnants von der Marwitz gedachte, die den schändlichen Befehl ihres Königs zur Plünderung des kurfürstlich-sächsischen Jagdschlosses Hubertusburg im Siebenjährigen Krieg nicht ausführten und es vorzogen, „… die Ungnade zu wählen, wo Gehorsam nicht Ehre brachte“. Allerdings, zwischen der Verweigerung eines kriegsrechtlich unbotmäßigen Befehls Friedrich II. zur Brandschatzung und offener Rebellion gegen eine Weltanschauungsdiktatur liegen Welten. Die preußische Armee hatte nie Anstalten gemacht zu regieren oder die Politik zu bestimmen, sie war die disziplinierteste Armee der Welt, ein Militärputsch war in Preußen unvorstellbar. Für die zaudernden Aufrührer im Oberkommando des Heeres gab es keine Präzedenzfälle kollektiver Insubordination; mit einem Staatsstreich, ohnehin nur von einer verschwindend kleinen Minderheit getragen, würde man Neuland betreten.
Hitler, der längst alle Brücken für eine diplomatische Lösung der desolaten militärischen Lage hinter sich abgebrochen hatte, sah sich anlässlich der Casablanca-Konferenz im Januar 1943 erstmals mit der nicht nur für ihn unannehmbaren Forderung nach bedingungsloser Kapitulation durch die westalliierten Kriegsgegner konfrontiert, mit der jegliche Hoffnung der Verschwörer auf einen Verhandlungsfrieden zerrann. Den dennoch gereiften Entschluss zum Tyrannenmord inklusive eines halbwegs plausiblen Konzepts zur Übernahme der Staatsführung rasch in die Tat umzusetzen, würde sich für die Umstürzler allerdings weitaus schwieriger gestalten als gedacht.
Mit der Sicherheit eines Traumwandlers war der „böhmische Gefreite“ bereits den vierjährigen „Stahlgewittern“ der Westfront fast unversehrt entronnen, beim „Marsch auf die Feldherrenhalle“ riss der von bayerischer Landespolizei niedergestreckte Max Erwin von Scheubner-Richter den untergehakten Anführer der Putschisten im Sterben mit sich auf den Boden und bewahrte ihn damit wohl wundersam vorm Kugelhagel. Auch die Höllenmaschine des Georg Elser fand im Bürgerbräukeller ihren Adressaten nicht, weil dieser sich vorzeitig aus dem Staub gemacht hatte. Zahlreiche weitere Attentatsabsichten scheiterten an sich unverhofft ändernden Umständen, kuriosen Zufällen und auch mangelnder Konsequenz der Akteure. Der tyrannische „Meldegänger“ des Großen Krieges schien kugelfest und womöglich dazu verdammt, durch eigene Hand zu sterben.
Ohnehin ein Vabanquespiel
Auch den Militärs half das Glück nicht. Selbst ihnen, den sinnesgewandelten Experten weiträumiger Strategie, wollte mit den Worten des Generalmajors von Tresckow zunächst nicht gelingen, „…Hitler wie einen tollen Hund abzuschießen.“ Es war wie verhext. Die vom Leutnant von Schlabrendorff in Hitlers Flugzeug platzierte Bombe versagte ihren Dienst. Der Säurezünder vereiste während des Fluges in kalten Luftschichten. Der zur Selbstaufopferung bereite Oberst von Gersdorff wollte sich selbst samt seinem obersten Kriegsherrn anlässlich dessen Besichtigung erbeuteter sowjetischer Kriegsdevotionalien im Berliner Zeughaus ins Jenseits befördern.
Die in seinen Manteltaschen verborgenen Sprengsätze mit bereits aktivierten britischen Zehn-Minuten-Säurezündern konnte von Gersdorff im letzen Moment gerade noch unschädlich machen, denn der missgestimmte und völlig demotivierte Usurpator verließ bereits nach kaum fünf Minuten eilenden Schrittes vorzeitig die für ihn erkorene Gruft. Der Major von dem Bussche zog aus der Unzulänglichkeit von Säure-Langzeitzündern Konsequenzen. Während der Vorführung neuer Heeresuniformen in der Wolfsschanze beabsichtigte er, Hitler samt Spießgesellen und sich selbst mittels einer am Leib getragenen Sprengladung zu töten. Von dem Bussche setzte bei der Auslösung auf den auffälliger zu handhabenden, dafür aber zuverlässigen 5-Sekunden-Handgranatenzünder. Sämtliche Waggons mit den zur Schau vorgesehenen Uniformteilen wurden durch Luftangriffe auf Berlin kurz zuvor zerstört und die geplante Vorführung kurzfristig abgesagt.
Der schwäbische Oberst von Stauffenberg schließlich verstaute fahrig und unter Zeitdruck stehend lediglich einen von zwei Sprengsätzen der hochbrisanten Marke „Plastit W“ mit Langzeitzäurezünder in seiner Aktentasche, die er Minuten später in der Lagebaracke neben Hitler abstellte und glaubte, das würde genügen. Es genügte nicht, die Bombe explodierte immerhin, tötete vier Militärs und ruinierte des Führers Uniform und Trommelfelle. Der präsentierte sich bereits Stunden später, staffiert mit schwarzem Cape, einem Todesengel gleich, wochenschauwirksam mit dem Duce. Die dennoch ausgelöste Operation „Walküre“, ohnehin ein Vabanquespiel, scheiterte, und die Verschwörer endeten vor dem Peloton oder auf dem Schafott.
Mit minimaler Aussicht auf Gelingen
Die wenigen Entschlossenen haben am 20. Juli, allein auf sich gestellt, das Äußerste gewagt. Selbst wenn ihnen eine demokratische Staatsform fernlag und sie die Expansion des Reiches lange tatkräftig unterstützten, schmälert das ihre Verdienste nicht. Wer ihre Tat als bloße Konsequenz der sich im Sommer 1944 deutlich abzeichnenden militärischen Katastrophe wertet, der bagatellisiert die Heldenhaftigkeit ihres Tuns, eine Tugend, die uns heute fremd anmutet. Sie waren sich im Klaren, wie gering ihre Chance auf Erfolg sein würde; ihr Scheitern und damit ihren Tod akzeptierten sie als wahrscheinlichstes Ergebnis ihres Unterfangens. Mit erstaunlicher Weitsicht fasste von Tresckow in seinem Brief an von Stauffenberg Sinn und Zielsetzung der Operation kurz vor dem 20. Juli präzise zusammen: „… Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte unter Einsatz des Lebens den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.“
Sie wussten, dass sie gerade in der Stunde höchster Bedrängnis des Reiches in den Augen der rechtgläubigen Mehrheit als feige Verräter und Untreue verdammt werden würden. Unwürdig war ihnen die Ächtung ihrer eigenen gesellschaftlichen Klasse sicher, sie kannten das Mittel der Sippenhaftung bei Hochverrat, selbst dass sich die Familien ihrer schämen würden, hätte sie kaum überrascht. Vom militärischen Gegner war im Falle eines erfolgreichen Tyrannenmordes kein Entgegenkommen zu erwarten. Den Alliierten galt Preußen als eherner Hort deutschen Militarismus, und insbesondere sein Generalstab verbreitete nicht erst im Dritten Reich eine Furcht gebietende Aura unheilvoller, bedrohlicher Effizienz.
Beides galt es ein für allemal zu zerschlagen. An höchst suspekten Hoch- und Landesverrätern als Verhandlungspartner für einen Waffenstillstand ausgerechnet aus dem Hause Moltkes, Schliefens, Falkenhayns und Halders bestand zu diesem Zeitpunkt des Krieges auf alliierter Seite nicht mehr das geringste Interesse. Zur Fügung in bedingungslose Unterwerfung hätte es auch für die Verschwörer keine Alternative gegeben. Mit minimaler Aussicht auf ein Gelingen ihres Vorhabens, ohne Zustimmung breiter Kreise des Militärs und der Bevölkerung sowie in der Gewissheit außenpolitischer Zurückweisung blieb den Putschisten von vornherein wohl lediglich die Rolle von Märtyrern. Gerade dennoch gehandelt zu haben, verleiht den Akteuren ihre Größe und bleibt ihr dauerhafter Verdienst.
Gescheitert, aber nicht umsonst
Unmittelbar nach dem gescheiterten Attentat verdeutlichte von Tresckow seinem Adjutanten von Schlabrendorff nochmals seine Grundhaltung und Überzeugung, die ihn in hoffnungsloser Lage für eine aussichtslose Sache dennoch das Äußerste wagen ließen: „… Jetzt wird die ganze Welt über uns herfallen und uns beschimpfen. Aber ich bin nach wie vor der felsenfesten Überzeugung, daß wir Recht gehandelt haben. Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werde, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und mein Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe.
Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird. Niemand von uns kann über seinen Tod Klage führen. Wer in unseren Kreis getreten ist, hat damit das Nessushemd angezogen. Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugung sein Leben hinzugeben.“ Stunden später nahm sich von Tresckow, um nicht unter Folter weitere Beteiligte zu belasten, mit einer Gewehrgranate das Leben. In den folgenden Wochen und Monaten wurden tausende Regimegegner verhaftet, hunderte in Schauprozessen abgeurteilt und auf zum Teil bestialische Weise noch bis in die letzten Kriegstage exekutiert.
Der 20. Juli 1944 zeigt sich langfristig als recht ambivalentes, Wesenszüge einer klassischen Tragödie einschließendes Phänomen. Hätten die Verschwörer ihre Absicht nicht in die Tat umgesetzt, wäre Deutschland seiner populärsten moralischen Legitimationsgrundlage (neben den Aktivitäten der „Weißen Rose“) für eine phönixhafte Auferstehung versagt geblieben, und die spätere Integration der Bundesrepublik Deutschland in die Wertegemeinschaft des Westens hätte sich als pures Ergebnis oktroyierter westalliierter Reeducation deuten lassen. Durch das Scheitern des Attentats wiederum und das Überleben Hitlers konnte sich nach 1945 keine zweite „Dolchstoßlegende“ etablieren, mit der den Attentätern die Schuld am gescheiterten „Endsieg“ des Reiches hätte zugewiesen werden können. Ex post muss also gerade das Misslingen des Vorhabens für die innenpolitische Befindlichkeit der frühen Bundesrepublik Deutschland weitaus dienlicher erscheinen als ein erfolgreiches Attentat.
Lernen aus Geschichte?
Die noch im feudalen System verwurzelte reaktionäre, vorindustrielle Elite Preußens erwies sich in der Weimarer Republik als antagonistisches Relikt im soziokulturellen Wandelungsprozess der Moderne. Die ostelbischen Agrarkapitalisten, die Militär- und Ministerialaristokraten, die im „Kabinett der nationalen Konzentration“ mit Hitler und seiner NSDAP die Macht zu teilen glaubten, sie wurden vom Ergebnis dieses Wagnisses mit in den Abgrund gerissen und spielten als politisch einflussreiche Gruppierung in der Bundesrepublik Deutschland keine entscheidende Rolle mehr. Nachdem sie bereits auf den Schlachtfeldern höchsten Blutzoll entrichtet hatten, war die unmittelbare Folge des Attentats ein weiterer Opfergang, nunmehr auf dem Schafott. Auf der Totenliste finden sich neben bürgerlichen große preußische Namen, wie ein York und ein Moltke, ein Hardenberg und ein Schulenburg, ein Kleist und ein Schwerin. Im Ergebnis des verlorenen Krieges und dem damit einhergehenden Verlust ihres Grundbesitzes in den deutschen Ostprovinzen sowie der Enteignung ihrer Güter in der sowjetischen Besatzungszone sollte der einstigen preußischen Kriegerkaste dazu noch die wirtschaftlich-existenzielle Grundlage genommen werden.
So bitter es klingen mag, die nachhaltige physische Dezimierung und die nachfolgende soziale Vernichtung jener explizit modernisierungsfeindlichen Kräfte wirkten sich im Hinblick auf die Entwicklung der Nachkriegsgesellschaft der Bundesrepublik Deutschland förderlich aus. Der durch Krieg und Kriegsfolgen beschleunigte gesellschaftliche Nivellierungsprozess, dem sich die alten Eliten ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutungslosigkeit wegen nun nicht mehr entziehen konnten, erleichterte den Aufbau und die Konstanz parlamentarisch-demokratischer Strukturen im westlichen Nachkriegsdeutschland ganz erheblich. Eine nachfolgende soziokulturelle Elite mit dominierendem Einfluss auf Politik konnte die Massendemokratie der Bundesrepublik Deutschland bis heute nicht hervorbringen. Das mag man bedauern oder auch nicht. Ausdruck findet diese Zäsur im kodexfreien, eher vom Streben nach materieller Sicherheit und von parvenühaftem Ehrgeiz geprägten Naturell der nun oft dem kleinbürgerlichen Milieu entstammenden politischen Amts- und Mandatsträger.
Die Mehrheit der Zeitgenossen dürfte nur recht vage Vorstellungen von dem haben, was vor ihrer Geburt geschah, wenn überhaupt. Wer meint, es ließe sich aus der Geschichte für die Gegenwart etwas lernen, der soll sich mit der Vergangenheit befassen. Ich selbst glaube, Lernen aus der Geschichte, im Sinne von Lehren ziehen, um Fehler nicht zu wiederholen, bleibt ein hehres und zugleich aussichtsloses Postulat. Für die Nachgeborenen, die Vergangenes, so auch die Ereignisse um den 20. Juli, als Mahnung, Lehre oder Handlungsanleitung in die Gegenwart zu adaptieren suchen, spricht das Gestern in Orakeln, weil Lebensräume und Handlungsbedingungen nicht übertragbar sind und durch seine Ferne die Erlebniswelten und Triebkräfte der einstigen Akteure stets fremdartig und oft unverständlich erscheinen müssen.
Warum noch kein offizieller Feiertag?
Nicht nur, aber besonders die Epoche des Nationalsozialismus wird infolge des Wertewandels durch die westdeutsche Studentenbewegung der 1960er Jahre gewöhnlich nach derzeitigen Maßstäben sittlich taxiert, zudem in privilegierter Kenntnis des Ausgangs von Geschichte, einen Vorzug, den die seinerzeitigen Akteure mit ihren späteren Rezensenten nicht teilten. So gemessen an der Erfahrungswelt der Nachgeborenen kann sich aus der Vergangenheit selten konkreter Erkenntnisgewinn für die Problembewältigung in der Gegenwart ergeben. Mahatma Gandhi kam zu der allseits bekannten Einsicht: „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt“. Vom 20. Juli 1944 bleibt wohl nur die wenig erhellende Erkenntnis: Initiis obsta.
Geschichte ist nicht finalistisch zum Guten angelegt, sie kennt weder dauerhaften Fortschritt noch ein erkennbares Ziel. Was andauert, ist ein ewiges Auf und Ab, ein fortwährendes Ringen der Rechtschaffenden mit den Verführern und Verderbern, die zu allen Zeiten in stets neuen Gewändern über ihre wahre Gestalt und Absicht zu täuschen vermögen. Radikale Exorzisten vom Schlage Stauffenbergs und seine tapferen Kameraden waren die Ultima ratio in auswegloser Lage. Ihres Andenkens nicht seit Jahrzehnten bereits mit einem offiziellen Feiertag gewürdigt zu haben, will sich mir nicht erschließen.