Quentin Quencher / 01.05.2021 / 11:30 / Foto: Tribüne / 9 / Seite ausdrucken

Der 1. Mai und die Tribünen

Mir wurde das Interesse am Feiertag „1. Mai“ in der DDR gründlich ausgetrieben, musste als Schüler mit der Klasse, der ganzen Schule, dann immer demonstrieren gehen. Doch das waren keine Demonstrationen, sondern Aufmärsche, und ich wurde gezwungen mitzumarschieren.

Zu Beginn, kurz bevor der Marsch durch die Stadt startete, wurden Plakate verteilt, irgendwelche dämliche Sprüche standen drauf. Die sollten wir ganz besonders gerade halten, wenn wir dann an der Tribüne vorbeigingen, um die Parteibonzen zu huldigen, die gnädig von oben herunterwinkten.

Immer wenn diese Plakate ausgegeben wurden, versuchte ich mich abseits zu halten, zu verstecken, damit ich keines abbekam. Das fiel mit etwas leichter als anderen, da ich zu den Kleinsten in der Klasse gehörte. Das Problem war nämlich, diese ausgehändigten Propagandaschilder mussten nach Ende der Veranstaltung wieder abgegeben werden, was bedeutete, ich hätte den ganzen Marsch mit machen müssen.Genau das wollte ich aber immer unbedingt vermeiden, mein Ziel war, mich unterwegs vom Acker zu machen, keinesfalls an der Tribüne vorbeizugehen und die Bonzen zu huldigen.

Soweit ich mich erinnere, klappte das auch immer. Irgendwo, wo sich die Gelegenheit ergab, verschwand ich aus der Masse, schlich mich davon, mit dem befreienden Gefühl in der Brust, dem System ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Geblieben ist mir aus dieser Zeit, etwa Ende der Sechziger bis Mitte der Siebziger Jahre, eine tiefe Skepsis gegenüber Tribünen. Mit Verachtung schaue ich auf die, die sich von einer Masse feiern lassen und die Masse gleich mit. Noch immer ist der Impuls in mir lebendig, mich schnell von solchen Orten, an denen Menschen auf Tribünen stehen, zu entfernen. Nur dort, wo ich Menschen auf Augenhöhe treffe, verweile ich und verspüre diesen Impuls nicht.

Ebenfalls auf Quentin Quenchers Blog Glitzerwasser erschienen.

Foto: Tribüne

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Sabine Schönfelder / 01.05.2021

Sie haben das wirklich schön „herausgearbeitet“, den gravierenden Unterschied zwischen einer Demonstration und einem inszenierten Propaganda-Linken-AUFMARSCH zum ersten Mai von den Gewerkschaften und Regierungstreuen. Es steht hier die alternativlose Regierungslinie gegenüber dem seiner Grundrechte beraubten Volk, bzw. DEM Rest, der sich trotz Desavouierungs-Kampagnen in Politik und Medien sowie Verfassungsschutzbeobachtung und angedrohten Wasserwerfern noch w a g t! Unter diesen diktatorischen Bestrebungen halte ich es für völlig überflüssig, Demonstrationen noch offiziell anzumelden. Bald kommen Zeiten auf uns zu, da werden wir froh sein, wenn Putin hier einmarschiert und die Demokratie in Deutschland wieder herstellt. So weit sind wir schon. Das Gute: Putin verfügt über die militärischen Mittel und wir antworten mit unseren Geheimwaffen: Von der Lügenleyen und Krampe-Karrenbauer. Das sieht nicht so schlecht aus! Übrigens, Danke für Ihren gestrigen Beitrag. Ein tiefsinniges, aphoristisches, kleines Kunstwerk.

Leo Hohensee / 01.05.2021

Richtig. Wenn ich den Pressejubel um unsere Angie so beurteilen soll, dann fehlt mir nur noch das Volksgejohle “Viva, Viva Imperator!” Und dann noch die Freigabe der Löwenkämpfe. Die Sklaven von heute sind kleine Selbständige, der Mittelstand und unsere Kinder. Und immer schön in Richtung Tribüne lächeln.

Joachim Krone / 01.05.2021

Tribüne ist an sich nicht schlimm, man sieht die Leute besser; hier im Westen gab es keine Defilees und war meist auch nur ein Politiker oben plus ein paar Personenschützer (Brandt, Strauss). Wehner (unglaublich) war allein mit seiner Aktentasche dort. Anscheinend hat aber das geifernde Gebrüll in Deutschland wieder eine Heimstatt gefunden, nachdem es zwischen 1945 und 1990 irgendwo im Exil war. Von der Tribüne wird gebrüllt, von unten wird gebrüllt und aus den Ecken wird von Gegendemontranten und Gegen-Gegendemonstranten auch gebrüllt. Eigentlich genau so, wie die Franzosen Deutschland seit dem 1870er Krieg immer propagandistisch dargestellt haben. Peinlich.

A. Ostrovsky / 01.05.2021

Der Hitlergruss, die Maske, die Marotte, dass man in “internationalen” Firmen auch im kleinen Kreise englisch spricht, auch wenn es keiner richtig beherrscht, und das Vorbeimarschieren an Tribünen sind alles Symptome der selben Krankheit. Sie heißt Unterwerfung. Und Klartext, soweit war es in den DDR1.0 noch nicht in der ganzen Breite. Da war einen Tag Maiumzug mit Tribüne und allenfalls einen Tag Karneval mit Büttenrednern. Aber es wäre nie einem Ossi eingefallen, mit anderen Ossis russisch zu sprechen. Und ja, man ging zur Wahl, oder was so genannt wurde, wenn man nicht beobachtet werden wollte. Wurde man trotzdem. Also die DDR1.0 war fast so, wie die DDR2.0 nur viel gemütlicher. Und das ist so lange her, dass es schon verblasst hinter den neuen Verlautbarungen des Politbüros. Joachim Herrman war damals Chef des Zentralorgans und noch nicht Innenminister des “Frei”-Staates. Auch das neue “frei” wird viel schärfer gesprochen und hört sich inzwischen fast an, wie “hei”. Oder “Hi” oder “high”.... “Zentralorgan” .... Meine Güte, was waren das für Schmerzen. Wenn das wieder kommt…. na dann!

Friedrich Richter / 01.05.2021

Sehr geehrter Herr Quencher, als Schüler und Student habe ich exakt die gleichen Erfahrungen gemacht wie Sie, nur etwa 10 Jahre später. Ich sehe noch heute vor meinem geistigen Auge die Kurve hinter der Tribüne, in der wir mit einem eleganten ostelbischen Ausfallschritt in einer kleinen Seitengasse verschwanden. Der Mensch ist zwar ein Gemeinschaftswesen, trotzdem aber ein Individuum. Jeder psychisch gesunde Mensch muss einen Widerwillen gegen Tribünen empfinden. Angesichts einer Tribüne kann man nur zwei mögliche Rollen spielen: Entweder man steht drauf und zwingt anderen Menschen, denen man oft in keiner Weise das Wasser reichen kann, seinen Willen auf, oder man marschiert daran vorbei bzw. steht davor und wird zu einem winzigen Partikel einer homogenen Masse degradiert. Beides ist sowohl für das Individuum als auch für die Gesellschaft ungesund und kann zu nichts Gutem führen.

Ralf.Michael / 01.05.2021

Die sich auf Tribünen zur Schau stellen und sich (als Schausteller)  feiern und bejubeln lassen, waren auch mir schon immer aüsserst suspekt. Die hatten mit Sicherheit genau wie mein karl Freund Lauterbach in Ihrer Kindheit enorme Zuwendungs-Defizite…Aber dass man eine Kompensierung auf diese Weise erreichen will? ...Also, ....ich weiss nicht ? Ich muss da auch nicht dabei sein.

Karola Sunck / 01.05.2021

Vorbeimärsche an Institutionen, oder Politikern, die sich auf einer Bühne feiern lassen, gab es im Westen bisher eigentlich nicht. Es gab Kundgebungen der Gewerkschaften zum 1. Maifeiertag, auch ließ sich dort manchmal auch ein Politiker sehen, aber alles noch zu einer Zeit, wo die Politik noch nicht so eine feindliche Position gegenüber den Bürgern eingenommen hatte wie heutzutage. Und es gab Wahlkundgebungen wo Politiker von Bühnen aus den Menschen ihre Wahlprogramme erläuterten und um ihre Stimmen warben. Vorbeimärsche an gnädig winkenden Bonzen kannten wir im demokratischen Westen nicht. Das gibt es wohl nur in Diktaturen. Da es demnach aber zur Zeit so aussieht, dass auch die gesamtdeutsche Bundesrepublik in einer erneuten Diktatur aufgeht, werden wir uns wohl daran gewöhnen müssen, dass in absehbarer Zeit solche Aufmärsche, oder Vorbeimärsche, auch im Bundesgebiet stattfinden werden. Bei angekündigten Demonstrationen gibt es ja meist auch immer ein Bühne, von wo her Redner ihre Positionen den Demonstrierenden darlegen. Bei allen diesen Dingen geht es natürlich auch nicht leise zu. Der Sinn der Sache ist es ja auch, sich lautstark Gehör zu verschaffen, um seine Thesen unters Volk zu bringen. Anders macht das ja auch keinen Sinn. Natürlich kann man auch leise demonstrieren, wie es seinerzeit wohl eines Abends in Bayreuth war, als ein Geisterzug schweigend mit Fackeln durch die Stadt marschierte, um gegen die überzogenen Corona-Maßnahmen der Regierung zu demonstrieren.

Stefan Riedel / 01.05.2021

Als dauerhaften und deutschlandweiten gesetzlichen Feiertag riefen die Nationalsozialisten den 1. Mai im Jahr 1933 als „Feiertag der Nationalen Arbeit“ aus! Danke Adolf. Ein Feiertag mehr. Aufs Datum beschränkt? Die kath. Kirche lässt Feiertage bevorzugt fest auf den Donnerstag fallen( langes Wochenende). Mein Vorschlag für den 1.Mai: erster Montag im Mai.

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