Von Milosz Matuschek.
Er soll mal in einem Gotteshaus gewütet haben. Er soll Kranke allein mit ihrem Glauben an Genesung geheilt haben. Er scharte Männer und Frauen um sich und soll einen Umsturz der öffentlichen Ordnung vorbereitet haben: Jesus von Nazareth. Wie würde man ihn heute bezeichnen? Er wäre wohl ein Schwurbler, ein Querdenker von Gottes Gnaden, Umstürzler und natürlich Esoteriker. Jemand, der noch dazu dem Tod trotzt, ist gerade heute besonders verdächtig und subversiv. Wie passend, dass das Osterfest zum zweiten Mal pandemiebedingt ins Wasser fällt.
In der Osterbotschaft liegen Anfang und Ende, Vergehen und Werden, Tod und Auferstehung so nah beieinander wie sonst nur selten in der Bibel. Viele Menschen ziehen daraus Trost. Der Glaube kann eine Rettungsinsel sein in einem Meer des zunehmenden Chaos, ein Orientierungspunkt mit Weitwinkelperspektive. Denn welche Rettungsinseln bleiben einem sonst noch? Der Trost der Logik? Fehlanzeige. Vertrauen in Institutionen? Zunehmend erodiert.
Gerade ist der Eindruck, als solle die Welt im Corona-Chaos versinken. Man spricht von einer Überforderung der Politiker, von Fehlern und von Versagen. Ist das naiv? Kaum jemand spricht von Sabotage, von mutwilliger Zerstörung westlicher Werte, von einer sichtbaren, tiefgreifenden Veränderung der DNA ganzer Gesellschaften, einem kulturellen Um- und Abbau ohnegleichen. Wir leben in Zeiten, in denen man den Augen und Ohren nicht mehr trauen kann und am eigenen Verstand zweifeln soll.
Das Geschwätz von gestern
Gestern noch in die Ewigkeit gestanzte Wahrheiten sind heute nur noch Geschwätz von gestern. Die Widersprüchlichkeiten sind so himmelschreiend, dass man den Eindruck bekommen muss, dass dies System hat. Politik und Medien schlagen seit Monaten mehr an Haken, als es der Osterhase je könnte.
Das Einzige, worauf man gerade wirklich zählen kann, ist, dass diejenigen, die die Macht haben, auch stets die Deutungshoheit beanspruchen. Richtig ist demnach immer das, was man gerade tut, sonst täte man es ja nicht – egal, wie viele Pirouetten man dabei dreht. Der Bürger wird so im Absurditäten-Allerlei nach und nach weichgekocht. Der Verstand soll sich dem Glauben ergeben, dass der aktuelle Wahnsinn irgendeinen Sinn hat. Das ist höchst gefährlich, denn man kann die Gesetze der Logik nur zu einem gewissen Grad biegen und den Verstand nur bedingt weichkneten. Ab einem gewissen Punkt heißt es zwangsläufig: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“ (Goethe)
Doch wo der Glaube an ein System erodiert, erodiert irgendwann auch der Glaube an Systeme überhaupt. Es droht ein nihilistischer Strudel, ein Zustand der tiefen Skepsis gegenüber jedem Ordnungskonzept. Diesem nihilistischen Strudel zu entgehen, ist eine Herausforderung für den Einzelnen in Zeiten der Pandemie. Es gilt die Warnung Nietzsches, wonach der Abgrund, in den man blickt, immer auch in einen selbst hineinblickt.
Warten auf den Epochenbruch
Geschichte wiederholt sich nicht aber sie reimt sich – dieser Satz von Mark Twain begegnet einem derzeit häufiger. Ist der Mensch dazu verdammt, Geschichte in neuem Kleid zu wiederholen, sind wir in einer Art Sisyphos-Versuchsaufbau gefangen, der nur neue Label, Protagonisten und Farben kennt? Die Auffassung, dass sich Geschichte in Zyklen abspielt, ist alt und wirkt heute auf viele eher antiquiert bis esoterisch. Doch sie findet sich auch heute noch.
In dem Buch „The Fourth Turning“ (Die vierte Wendung), das gerade besonders aktuell wirkt, geht es im Kern darum, dass etwa alle 80 Jahre größere geschichtliche Brüche stattfinden, kataklystische Ereignisse wie Revolutionen, Kriege, Krisen, welche die Zeitläufte verändern. Den nächsten Epochenbruch sahen die Autoren für die Jahre 2010–2020 kommen. Das Buch stammt aus dem Jahr 1997.
Es geht dabei nicht darum, die Zukunft oder bestimmte Ereignisse vorauszusagen, sondern eine Annahme darüber zu treffen, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhalten, die in einer bestimmten Zeit sozialisiert wurden – denn der Rahmen bestimmt immer auch den Inhalt. Der Mensch entscheidet nicht in luftleerem Raum, sondern anhand der Muster seiner Umgebung, die ihn prägt und irgendwann imprägniert und seine Wahrnehmung der Wirklichkeit auf vielleicht nur noch einen Realitätskanal reduziert.
Die Ereignisse sind das Ergebnis von menschlichen Handlungen
So gesehen, ist es nicht die Geschichte, die letztlich endgültige Ereignisse schafft, sondern die Ereignisse sind das Ergebnis von menschlichen Handlungen, die wiederum auf menschlichen Eigenschaften beruhen. Es kommt darauf an, aus welchem Holz der Mensch gerade geschnitzt ist und an welchem Punkt sich die Gesellschaft als Ganzes gerade befindet, um eine Vorstellung davon zu gewinnen, wie Situationen aufgelöst werden könnten: ob in Richtung eines allgemeinen konstruktiven Erwachens oder hin zu Krise und destruktiver Verzweiflung.
Der aktuelle Zustand ist dabei sowohl individuell als auch gesellschaftlich von Substanzverlust geprägt. Wir leben in Zeiten aufgeweichter Standards, der kulturellen Ausdünnung, der demokratischen Lethargie und allgemeinen Überdehnung von Systemen. Führende Juristen berichten von einer Erosion des Rechtsstaates; Ökonomen warnen vor Wirtschaftskrise und Schuldenkatastrophe; medial sehen wir, dass tiefere Schichten der Wirklichkeitserfassung schon lange nicht mehr erreicht (oder auch nur versucht) werden, sondern oberflächlich in binären Codes von gut/böse, links/rechts verhandelt werden.
Wir sind in vielen Domänen gerade im Abfallen befindlich, also in einer Phase der Dekadenz, während zugleich Parvenüs in den Expertenhimmel berufen werden, wenn sie nur die Melodie des Zeitgeistes kennen und wiedergeben. Wir fliegen, wie Ikarus, einerseits in fataler Hybris zu hoch und zugleich zu niedrig, was das Niveau der Problemlösung angeht.
„Der Mensch is guad, die Leit’ san schlecht“
Ausbaden wird das vor allem die Generation der Millennials und die nachfolgende Generation Z (ab ca. Jahrgang 2000). Ihr Erwachen wird zugleich die Übertretung der Schwelle zum Erwachsenwerden sein, ein Moment der Individuation (Selbstwerdung) im Sinne C. G. Jungs, ein Schritt zur eigenen Heldenreise, die bisher zwischen Party, Schmalspurexistenz und kleinen Mittelstandsträumen blockiert war.
„Der Mensch is guad, die Leit’ san schlecht“, sagte Karl Valentin. Die Ausgangslage mag gerade nicht die beste sein, denn am Ende langer Wohlstandsphasen ist oft auch der Grad der Verweichlichung und moralischen Dekadenz am größten. Den Ernstfall erkennt man daran, dass man eben nicht auf ihn vorbereitet ist. Und doch ist an der jetzigen Situation tröstlich, dass sie hilft, Menschen zusammenzuführen, die sich nicht von medialen Scheinkonflikten auseinander reißen lassen.
Es braucht für Veränderung ohnehin nicht mehr als etwa 3,5 Prozent der Bevölkerung. Die kritische Masse. In einer Millionenstadt sind das 35.000 entschlossene Bürger. Sobald diese sich gefunden haben – und sie tun es gerade in zahlreichen Initiativen von Unternehmern, öffentlichen Intellektuellen, Medizinern, Juristen u.v.m. – werden sie nicht mehr aufzuhalten sein.
Zuerst erschienen im Blog „Freischwebende Intelligenz" von Milosz Matuschek.