Der „Aufstand der Anständigen“ der aktuellen Kundgebungen überzeugt durch Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit. Die Beteiligten sollten bei der Deutschen Bahn anheuern.
Angeblich sollen allein in Berlin 160.000 Menschen gegen AfD und CDU demonstriert haben. Die Veranstalter meldeten sogar bis zu 250.000 Teilnehmer. Wer bietet mehr? Zumindest bieten andere Städte noch weitere, also zusätzliche Demonstrantenzahlen auf. Was zeigt das? Gegen rechts lassen sich immer noch Massen in Deutschland auf die Straße bringen. Aber auch: Das Organisationsvermögen all der direkt und indirekt mit staatlichen Fördermitteln finanzierten politischen Vorfeldorganisationen aus dem rotrotgrünen Teil des politischen Spektrums – selbst nennen sie sich bekanntlich lieber "Vertreter der Zivilgesellschaft" – ist beeindruckend. Denn die Demonstrationen vor CDU-Büros begannen ja sofort und fast flächendeckend, nachdem deren Bundestagsabgeordneten auch ohne den Segen der Regierungsparteien SPD und Grüne für einen eigenen Antrag stimmten, obwohl auch AfD-Abgeordnete dafür votierten.
Die Schnelligkeit, Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit dieses Demonstrationsgeschehens sollte man durchaus würdigen. Sollten den Organisatoren einmal wegen fehlender Steuereinnahmen und notwendiger Sparmaßnahmen die Fördermittel gekürzt und es vielleicht eng mit dem Lebensunterhalt werden, dann könnten sie bei der Bahn anheuern oder in Verkehrsämtern. Denen scheint es hierzulande an Organisationstalenten zu fehlen.
Für die gestrige Großdemonstration in Berlin hatten die Organisatoren allerdings ein paar Tage mehr Vorbereitungszeit. Von der hätten sie vielleicht ein Stündchen mehr zum Nachdenken über ein besseres Motto verwenden sollen. „Der Aufstand der Anständigen: Wir sind die Brandmauer!“, hatten sie plakatiert.
Daran, dass den moralischen Anspruch, "anständig" geblieben zu sein, auch die schlimmsten Mörder in Deutschland für sich erhoben hatten, muss sich nicht jeder erinnern. Die Kenntnis von Heinrich Himmlers Posener Rede bei einer SS-Gruppenführertagung im Oktober 1943 („Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte“) ist sicher keine Voraussetzung, um gegen rechts zu kämpfen. Wenn man sich allerdings für befähigt hält, unter Andersdenkenden die Nazis erkennen und brandmarken zu können, dann sollte man vielleicht doch etwas mehr über die nationalsozialistischen Massenmörder wissen.
Kanzler Scholz ist "sehr einverstanden"
Aber vielleicht ist das auch etwas zu kleinkrämerisch gedacht und eine unangemessene Reaktion darauf, dass die sprachpolizeilich auftretenden Sachwalter der politischen Korrektheit oft den Nicht-Gebrauch von Wörtern anmahnen, die vielleicht eine unschöne Konnotation haben könnten.
Befremdlich wirkt allerdings auch der Begriff „Aufstand“ in diesem Zusammenhang. Ein Aufstand richtet sich doch normalerweise gegen die Mächtigen, gegen die Regierung. Dieser „Aufstand“ aber richtet sich – im Wahlkampf – mit Unterstützung der Regierungsparteien gegen Oppositionsparteien. Die beiden Vorsitzenden der Kanzlerpartei SPD, Klingbeil und Esken, gingen auf die Straße, um gegen die Opposition zu demonstrieren. Bundeskanzler Olaf Scholz selbst schrieb laut Medienberichten auf X, er wäre "mit dieser Botschaft von Hunderttausenden Bürgerinnen und Bürgern" landesweit "sehr einverstanden". Sicher gefallen den Genossen die Massen auf der Straße. Solche Bilder bleiben nie ohne Wirkung. Sie suggerieren eine bestimmte allgemeine Stimmung, auch wenn die nicht dem Umfrage-Stimmungsbild entspricht und die Regierungsparteien ja offenbar selbst fürchten, dass auch das Wahlergebnis etwas anderes sagen wird.
Wie wirkmächtig die eindrucksvollen Bilder demonstrierender Massen am Ende sein werden, kann derzeit niemand ermessen. Aber auf wen können sie überhaupt wirken? Wer wird damit erreicht? Die AfD, die bislang im Windschutz der Brandmauer zu beträchtlicher Größe wachsen konnte, muss diese Demonstrationen zum Brandmauer-Erhalt kaum fürchten. Wähler, die eher der AfD zuneigen, sind dadurch kaum zu einer Änderung ihres Wahlverhaltens zu bewegen. Es ist auch unwahrscheinlich, dass es viele CDU-Wähler gibt, die jetzt – aufgeschreckt durch die Massen auf der Straße – stattdessen beabsichtigen, rot oder grün zu wählen. Vielmehr geht es wahrscheinlich darum, die eigenen Truppen zu sammeln, diejenigen nicht zu verlieren, die bislang SPD oder Grüne gewählt haben, aber – wie die meisten Bürger – den bisherigen Regierungskurs angesichts seiner Folgen geändert wissen wollen. Und richtig gefährliche Rechtsextremisten dürfte das Ringen um Löcher in der Brandmauer ohnehin nicht allzu sehr beeindrucken, denn die wollen sich gar nicht im demokratischen Alltag aufreiben.
Ist es vielleicht nur eine gestörte Wahrnehmung, die dem Aufwachsen in einer Diktatur geschuldet ist, wenn mir bei Demonstrationen für Regierungsparteien unwohl wird? Wenn SPD oder Grüne erklärtermaßen zu einer Wahlkampf-Kundgebung gebeten hätten, gäbe es nichts daran zu beanstanden. Aber in diesem Fall ist es ja nicht so. Erklärtes Ziel dieser Demonstration ist es, dass zwei Oppositionsparteien nicht miteinander kooperieren, ja nicht einmal zusammen in Parlamenten abstimmen sollen.
Der Ruf von Kanzler Schröder
Darin unterscheidet sich der „Aufstand der Anständigen“ von 2025 auch von dem des Jahres 2000. Seinerzeit hatte bekanntlich der SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder schon einmal zu einem „Aufstand der Anständigen“ gegen rechts gerufen. Da ging es aber nicht gegen eine Oppositionspartei, sondern um die Reaktion auf rechtsextreme Anschläge. Der aufrüttelnde Anlass war damals ein Brandanschlag auf die Neue Synagoge in Düsseldorf. Da es in den neunziger Jahren eine Reihe rechtsextremer Anschläge gab, glaubten nicht nur Politik und Medien, sondern auch viele Bürger sofort, dass es nach dem Angriff auf die Synagoge höchste Zeit wäre, ein klares Zeichen gegen den Rechtsextremismus zu setzen.
Zwei Monate später meldete u.a. der Tagesspiegel: „Der Brandanschlag auf die Düsseldorfer Synagoge war nicht das Werk deutscher Rechtsextremisten, sondern die Tat zweier gebürtiger Araber. Die 19 und 20 Jahre alten in Düsseldorf lebenden Männer legten bei ihrer Vernehmung ein umfassendes Geständnis ab, wie Generalbundesanwalt Kay Nehm mitteilte. (…) Als Tatmotiv geben sie Hass auf den Staat Israel und die Juden an.“
Aber mit Antisemiten nichtdeutscher Herkunft mochte man sich auch damals schon nicht so gern auseinandersetzen.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.