Alexander Horn, Gastautor / 27.12.2021 / 10:00 / Foto: Mateussf / 15 / Seite ausdrucken

Demokratie ohne Volk (3): Macht der Worte

Durch die inflationäre Stigmatisierung unliebsamer Auffassungen als „Hass und Hetze“ kommt die Meinungsfreiheit unter die Räder. Dass Worte inzwischen als genauso schlimm gelten wie Taten, ist eine gefährliche Fehleinschätzung.

Die Zweifel an der Demokratiefähigkeit des Gros der Bürger unterhöhlen nicht nur die Demokratie, sie legitimieren auch die Aushöhlung der Meinungsfreiheit. Die Redefreiheit ist jedoch, wie der britische Journalist Mick Hume in einer exzellenten Verteidigung von „Hassrede“ schreibt, „der mächtigste Faktor zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer zivilisierten Gesellschaft“, denn „ohne die Bereitschaft einiger, auf ihrem Recht zu bestehen, alles infrage zu stellen und zu sagen, was sie für wahr halten“, würden wir vielleicht heute noch glauben, die Erde sei flach und Frauen würden kein Wahlrecht haben (1). 

Immanuel Kant zeigte, dass fehlender Mut zum Selbstdenken, also mangelndes Vertrauen auf die eigene Vernunft, in die Unmündigkeit führe. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung“, schrieb er 1784 (2). Frei zu denken, erfordert auch, zu sagen und zu schreiben, was man selbst für richtig hält. Und es geht darum, die eigene Meinung auf die Probe zu stellen, indem andere die Möglichkeit erhalten, die eigenen Auffassungen zu hören, zu prüfen und zu kritisieren. Der radikaldemokratische Denker Thomas Paine, ein Revolutionär des 18. Jahrhunderts, schrieb in der Einführung zu „The Age of Reason“ von 1794, dass derjenige, der anderen die freie Meinungsäußerung verweigere, in selbstverschuldeter Unmündigkeit verharre: „Derjenige, der einem anderen dieses Recht verweigert, macht sich selbst zu einem Sklaven seiner Meinung, weil er sich selbst das Recht vorenthält, sie zu ändern.“ (3)

Von diesem Standpunkt aus betrachtet, wird die Wahrheit durch unabhängiges Denken der Bürger entdeckt, die in offenen Debatten voneinander lernen. In seiner eloquenten Verteidigung der Redefreiheit betont John Stuart Mill, dass Einschränkungen der Meinungsfreiheit sich nicht einfach gegen individuelle Menschen richten, denn dann wäre „die Verhinderung ihrer Ausübung nur eine private Beeinträchtigung“. Das „eigentliche Übel der Unterdrückung einer Meinung“ sei der „Raub an der Menschheit“. (4)

Auch das deutsche Grundgesetz schützt, trotz einer Vielzahl von Einschränkungen, formal das Recht, eine Meinung frei und ungehindert zu äußern. Meinung gilt dabei als Aussage, der „ein Element der Stellungnahme“ und „des Dafürhaltens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung“ innewohnt, also ein subjektives Werturteil im Sinne von Stellungnahmen, Beurteilungen, Wertungen, Auffassungen. Auch Meinungen, die der verfassungsmäßigen Ordnung zuwiderlaufen, werden durch die Meinungsfreiheit geschützt. 

Diese so definierte Meinungsfreiheit ist durch die inflationäre Verwendung des Vorwurfs von „Hass und Hetze“ jedoch erheblich unter Druck geraten. Als „Hass und Hetze“ werden längst nicht mehr nur Tatbestände betrachtet, die strafrechtlich relevant sind. Denn die Bewertung, ob etwas als Hassrede gilt, erfolgt primär aus der subjektiven Perspektive der Betroffenen. Hinzu kommt, dass sich zunehmend die Vorstellung durchsetzt, Sprache sei ein elementarer Bestandteil struktureller Dominanz und gesellschaftlicher Machtstrukturen.

Worte und Taten

Eine der wohl größten Bedrohungen der Meinungsfreiheit geht heute von der Vorstellung aus, Worte seien so schlimm wie Taten. Sie ist Ausdruck einer inzwischen kulturell verankerten und tief empfundenen emotionalen Verletzlichkeit.

Wir scheinen vergessen zu haben, dass Meinungen, wie verletzend sie auch sein mögen, nur Worte sind. Sie können zwar mächtige Waffen sein, sie alleine sind jedoch nicht in der Lage, die Realität zu verändern. Das können nur Taten. Worte sollten daher als das betrachtet werden, was sie sind und nicht als krimineller Akt. Wie auch immer hart und einflussreich Worte sein mögen, sie sind weder Messer noch Knüppel.

Um die Meinungsfreiheit gegenüber dem Vorwurf von „Hass und Hetze“ verteidigen zu können, muss unterschieden werden zwischen der Formulierung eines Gedankens, was als Redefreiheit zu schützen ist, also Meinungen, Ideen, Beschimpfungen, Beleidigungen, Witze bis hin zu Feindseligkeit und Hass gegenüber politischen oder sozialen Gruppen und andererseits Worten, die Teil einer Handlung werden, also etwa die absichtliche Anstiftung oder Aufforderung zu Gewalt gegenüber Institutionen, Gruppen oder Individuen. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, sollten wir die Rhetorik von „Hass und Hetze“ komplett ablehnen. Wenn vom Kampf gegen „Hass und Hetze“ die Rede ist, sollte stets nachgefragt werden, worum es konkret geht. Was genau soll verhindert werden und warum? (5)

Toleranz ohne Widerspruch ist Gleichgültigkeit

Die Gleichsetzung von Worten und Taten zerstört die Meinungsfreiheit und löst gesellschaftszersetzende Prozesse aus. Wohin dies führen kann, zeigte sich in der islamistischen Attacke auf die Macher des französischen Satiremagazins Charlie Hebdo. In den Augen ihrer Mörder verletzten die Journalisten mit der Publikation satirischer Mohammed-Abbildungen die Gefühle gläubiger Muslime. Indem sie Worte und Taten auf die gleiche Stufe stellten, konnten sie die Legitimität ihres Racheakts ableiten.

Noch bedrückender als die Mordtat war, dass viele Menschen zwar in Anbetracht der Ermordung das Recht auf Meinungsfreiheit verteidigten, gleichzeitig aber Verständnis dafür aufbrachten, dass Charlie Hebdos Gotteslästerung als „Hass und Hetze“ empfunden werden konnte. Daher sei ein sensibler Umgang erforderlich, um die Gefühle der Betroffenen möglichst nicht zu verletzen. Das jedoch ist das Ende von Meinungsfreiheit und ein Einfallstor für die Anwendung von Gewalt gegenüber allen, die zu recht der Auffassung sind, dass Meinungsfreiheit auch für Hohn und Spott gelten muss.

Die leichtfertige Ächtung und Unterdrückung unliebsamer Auffassungen als „Hass und Hetze“ behindert die unabhängige Meinungsbildung aller Bürger. Meinungsfreiheit erfordert ein Höchstmaß an Toleranz. In diesem Sinn bedeutet Toleranz, jedwede politische Auffassung zuzulassen, auch wenn sie den eigenen Vorstellungen oder den vorherrschenden gesellschaftlichen Moral- und Wertmaßstäben widerspricht. Auch wenn sie einen abstößt und anwidert. Toleranz bedeutet jedoch nicht, diese Auffassungen mit respektvoller Gleichgültigkeit hinzunehmen gar zu akzeptieren, sondern sie schließt die Möglichkeit oder gar Pflicht ein, durch eigene Meinungsäußerung den als falsch empfunden Vorstellungen entgegenzutreten (6). Toleranz ohne Widerspruch ist Gleichgültigkeit.

Indem wir Toleranz üben, ermöglichen wir, dass auch solche Meinungen sicht- und hörbar werden, die wir ablehnen. Die freie Artikulation ist sogar ausdrücklich zu begrüßen, denn nur dann können eine andere Idee und Argumentation verstehen, dieser zustimmen oder sie ablehnen, sie dann selbst einer öffentlichen Kritik unterziehen. Das verlangt uns mehr ab als der einfache Weg der Diffamierung oder Unterdrückung durch Verbote. Aber es ist unabdingbar für mehr Freiheit durch Meinungsfreiheit und Demokratie.

Dieser Beitrag ist zuerst in „Sag, was Du denkst! Meinungsfreiheit in Zeiten der Cancel Culture" (Edition Novo Nr. 134 – 1/2021) erschienen.

Teil 1 finden Sie hier.

Teil 2 finden Sie hier.

Weitere Anmerkungen:

(1) Mick Hume: “Trigger Warning – Is the fear of being offensive killing free speech?”, 2015, William Collins, S. 11.

(2) Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, Berlinische Monatsschrift, 1784,2, S. 481–494

(3) Thomas Paine, Common Sense, Rights of Man and other essential writings of Thomas Paine, 2003, Penguin Group, S. 351.

(4) John Stuart Mill: „Die Freiheit“, 1970, Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, S. 140.

(5) Mick Hume: Trigger Warning – Is the fear of being offensive killing free speech?”, 2015, William Collins.

(6) Frank Furedi: „On Tolerance – A Defence of Moral Independence”, 2011, Continuum, S. VI.

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Rolf Mainz / 27.12.2021

“Hass und Hetze” dienen lediglich als Totschlagargumente für den immer selteneren Fall abweichender Meinung. Es wird eine einzig wahre “Haltung” konstruiert, die an Stelle der fundamental demokratischen Meinungsfreiheit getreten ist. Diskurs und Meinungsvielfalt wurden abgelöst durch totalitäres “Narrativ”, übrigens interessanterweise insbesondere von denen getrieben, welche ansonsten so gern eben jene “Vielfalt”/“Diversität” predigen. Wer von der somit einzig legitimen Auffassung abweicht (egal in welcher Hinsicht), dem wird flugs “Hass und Hetze” unterstellt - und dem droht unmittelbar die Isolation und Diskreditierung, evtl. sogar die Kriminalisierung. Ein ebenso plumpes wie wirksames Vorgehen - und es funktioniert, in Deutschland sogar besonders gut, wieder einmal.

Peter Woller / 27.12.2021

Es wird jetzt alles auf den Kopf gestellt. Gutes wird böse. Böses wird gut. Wahrheit wird zur Lüge. Lüge wird zur Wahrheit. Die Demokratie-Feinde werden zu Rettern der Demokratie. Und die Demokratie-Verteidiger werden zu Demokratie-Feinden erklärt. Die Verwirrung und Verirrung der Geister ist total und allumfassend. In Wirklichkeit hat sich überall eine tiefe Finsternis ausgebreitet. Ich habe inzwischen sogar schon Angst davor, heute Abend auf die Straße zu gehen. Aber ich muss auf die Straße gehen. Ich kann nicht anders.

Sabine Lotus / 27.12.2021

Oh, Hass und Hetze mal wieder. Fragen wir doch noch mal die Frau Buyx mit ihrer doch sehr speziellen Ethikauffassung und ihrer seltsamen Zusatzbeschäftigung als Mitglied des WHO Expert Advisory Committee on Developing Global Standards for Governance and Oversight of Human Genome Editing, wie sie die Sache sieht. Zur Not kann sie ja eine Umfrage in Auftrag geben oder einen Global Shaper losschicken.

Lutz Herrmann / 27.12.2021

Welche Politsekte bildet wirklich jede Fragestellung auf das moralische Spektrum ab? Das ist eine kerngrüne Eigenschaft. Demonstriert man z.B. gegen die Corona-Politik der Regierung, hat man in jeder Kleinstadt gleich die selbsternannte Antifa an den Hacken. Freie Impfentscheidung versus Unsere Kleinstadt ist bunt und Nazis raus! Der jeweilige grüne Stadthalter organisiert An- und Abtransport der Gegendemonstranten und verteilt auch Handgelder nach erfolgreicher Einschüchterung. Alles selbst beobachtet ...

Wolf Hagen / 27.12.2021

Das Nicht-Zulassen anderer Meinungen ist schlicht die Schwäche der eigenen Argumentation. Und so ziemlich jeder ist schon mal “Opfer” von Beleidigungen, Beschimpfungen, Hass und Hetze geworden. Ich auch. Tat das weh? Ja. War es unangenehm und verletzend? Ja. Ich habe mich immer gefragt warum und habe die Situationen für mich analysiert. Beleidigungen, Beschimpfungen, Hass und Hetze bekam ich immer dann zu spüren, wenn andere Schwäche bei mir witterten. In der Kneipe/Club/Bar beenden ein paar Schläge in die Fresse sowas ziemlich zuverlässig. Im Inet nützt meist Rhetorik, oder notfalls rabulistische Arroganz, jedenfalls wenn man es mit einer Person zu tun hat. Beim Shitstorm helfen Ignorieren und Smilies. Unserer überempfindlichen Gesellschaft jedoch, will jede Form von Kampf, Sieg und Niederlage vermeiden, damit sich bloß keiner unwohl fühlt. Also wählt man die härteste Form des Kampfes, nämlich das Verbot. Ironischerweise fühlen sich genau dadurch natürlich viel mehr Menschen, als nötig schlecht. Und natürlich kann so ein Verbot nur nach “innen” wirken, also nur die eigene Gesellschaft betreffen. Andere Gesellschaftsformen kümmert das wenig, denn sie unterwerfen sich nicht dem Verbot und/oder unterliegen diesem schlicht nicht. Der eigenen Gesellschaft fehlt aber das Ventil, ähnlich einem Schnellkochtopf mit verstopften Ventil und es fehlt die Übung in der Verteidigung der eigenen Sichtweise. Eine solche Gesellschaft muss untergehen, denn sie steht von innen und von außen unter Druck. Diesen Untergang durch Spaltung, Unterdrückung und Wehrlosigkeit sehen wir derzeit überall in der westlichen Welt. Neu und besonders lustig ist allerdings, dass viele Menschen den eigenen Untergang als Fortschritt sehen, bzw. sehen wollen. Allerdings wird Realitätsferne das Ergebnis nicht verfälschen…

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