Eine Wahl rückgängig zu machen, weil der Falsche gewonnen hat, scheint zu einer Thüringer Spezialität zu werden. Oder etabliert sich das bald überall in Deutschland? Besonders irrwitzig klingt es, dass mit der Ignoranz gegenüber dem Ergebnis einer demokratischen Wahl die Demokratie verteidigt werden soll.
Kann man das noch mit Humor nehmen? Soll ich jetzt locker schreiben, dass Wahlen rückgängig machen nun nach Rostbratwurst und Klößen auch zu einer Thüringer Spezialität geworden ist? Man will ja als Journalist mit etlichen Jahresringen schließlich, so wie man es einst gelernt hat, auch im Kommentar mit professioneller Distanz und ohne emotionale Ausbrüche schreiben, und da ist etwas Humor eigentlich immer eine gute Wahl. Doch ich fürchte, diesmal ist es fürs Humoristische etwas zu ernst. Den Vergleich eines weiteren beispiellosen Angriffs auf die Demokratie im Freistaat Thüringen mit Rostbratwurst und Kloß haben die Traditionsgerichte zudem nicht verdient. Und das, was hier erneut als Demokratie nach Thüringer Art dargeboten wird, droht ein fataler Trend überall in Deutschland zu werden.
Im Februar 2020 rief die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel bekanntlich aus Südafrika in die Heimat, dass die Wahl eines FDP-Ministerpräsidenten durch CDU, FDP und AfD-Abgeordnete unverzeihlich sei und rückgängig zu machen wäre. Was durch die Nötigung des Kurzzeitministerpräsidenten Kemmerich zum Rücktritt auch gelang. Als nun in Sonneberg der erste AfD-Landrat gewählt wurde, fragten manche Kommentatoren noch belustigt, woher wohl jetzt der Aufruf käme, auch diese Wahl rückgängig zu machen. Nun gab es keinen Aufruf des Kanzlers, aber so mancher Kollege wies schon mal den Weg zum Rückgängigmachen auch dieser Wahl, wie Claudio Casula gestern an dieser Stelle vermerkte. Wer gestern Morgen noch glaubte, da sei nur einem MDR-Journalisten auf Twitter mal das Demokratieverständnis entgleist, wurde einige Stunden später von folgender Nachricht überrascht:
„Die Wahl des AfD-Kandidaten Robert Sesselmann zum Landrat im thüringischen Sonneberg wird von Amts wegen überprüft. "Sobald das Wahlergebnis amtlich ist und der Gewählte die Wahl angenommen hat, werden wir die Prüfung der persönlichen Eignung und der Verfassungstreue von Amts wegen in die Wege leiten", sagte eine Sprecherin des Landesverwaltungsamtes Thüringen auf Nachfrage von ZEIT ONLINE.
Die Behörde sieht Anhaltspunkte dafür, dass Sesselmann nicht für das Amt geeignet ist und damit formal nicht wählbar war. "Eine solche Prüfung erfolgt nur, wenn es Hinweise darauf gibt, dass die Voraussetzungen für die Wählbarkeit nicht erfüllt sind", sagte die Sprecherin.“
Warum war die Wahltauglichkeit vor der Wahl kein Problem?
Das Landesverwaltungsamt – darauf verweisen die Berichterstatter – hat die Rechtsaufsicht über die Kommunen und ist damit auch für die Überprüfung von dortigen Wahlen zuständig. Die Prüfung von Sesselmanns Wählbarkeit, so heißt es weiter, könnte in wenigen Wochen beginnen, wenn das endgültige Wahlergebnis amtlich veröffentlicht sei. Doch warum wird die Wählbarkeit erst nach und nicht vor der Wahl geprüft? Auch der Bericht der Zeit-Kollegen behandelt diese Frage:
„Der Sonneberger Kreiswahlausschuss und der Wahlleiter hatten die Kandidatur Sesselmanns vor der Wahl nicht beanstandet. Nach Auskunft eines Sprechers sah der Ausschuss keine Notwendigkeit, Informationen bei Sicherheitsbehörden einzuholen, etwa beim Landesverfassungsschutz. Die Möglichkeit dazu sieht das Kommunalwahlrecht vor, wenn "Hinweise oder Verdachtsmomente" vorliegen, der Kandidat könne persönlich nicht geeignet sein.
Die Kandidatur habe alle gesetzlichen Anforderungen erfüllt, teilte der Sprecher des Wahlleiters mit. "Ebenso bestanden keine Amtsantrittshindernisse" – etwa die Mitgliedschaft in einer verbotenen Partei.“
Also warum kann man nun nach der Wahl versuchen, die Wahl rückgängig zu machen, indem man den Wahlsieger amtlicherseits für unwürdig erklärt, dieses Wahlamt auszufüllen? Bevor wir zum konkreten Fall kommen, sollten wir uns von Juristen erklären lassen, weshalb sich das manchmal nicht vorher feststellen lässt, obwohl das im konkreten Fall in Sonneberg nicht weiterhilft. Aber es soll ja kein Argument unerwähnt bleiben. Deshalb sei hier die Legal Tribune Online (LTO) zitiert:
„Die Gerichte fordern in solchen Fällen ein anspruchsvolles Prüfungsprogramm, das Verwaltungsgericht Neustadt erklärte 2011 etwa, geprüft werden könnten "eigene Veröffentlichungen (z.B. Flugblätter, Zeitungsanzeigen oder Abhandlungen mit verfassungsfeindlichen Aussagen oder einer verfassungsfeindlichen Zielrichtung), Teilnahme an Demonstrationen oder sonstigen Veranstaltungen mit verfassungsfeindlicher Tendenz, Mitgliedschaft oder sonstige Tätigkeit in einer verfassungsfeindlichen Vereinigung oder Bestrebung, Mitgliedschaft in Parteien mit verfassungsfeindlicher Zielrichtung, gleichgültig, ob die Partei für verfassungswidrig erklärt worden ist oder nicht." Das klingt eher nach der Aufgabenbeschreibung einer Verfassungsschutzbehörde als der eines Wahlausschusses. Deshalb darf ein Wahlleiter beim Verfassungsschutz auch "öffentlich verwertbare Erkenntnisse" einholen, wenn sich für ihn Hinweise oder Verdachtsmomente ergeben.“
Ein weiterer Sündenfall in Sachen Wahlen
Für den Fall, dass sich ein charismatischer politischer Hochstapler und Betrüger unter Vorspiegelung falscher Tatsachen ein Wahlamt erschleicht, ist eine gesetzliche Regelung, mit der man ihn nach Aufdeckung seiner Vergehen aus dem Amt auch wieder entfernen kann, sicherlich sinnvoll. Aber hier soll das Wahlergebnis doch ziemlich klar aus rein politischem Kalkül infrage gestellt werden, denn die 52 Prozent der Wähler des Landkreises Sonneberg, die den ortsansässigen Rechtsanwalt Robert Sesselmann in einer freien und demokratischen Wahl zum Landrat gewählt hatten, stimmten ja nicht für einen Unbekannten. Der Mann betreibt seine Rechtsanwaltskanzlei in der südthüringischen Kreisstadt seit einem Vierteljahrhundert. Da kann man durchaus davon ausgehen, dass viele seiner Sonneberger Wähler den Mann kannten, was ja bei einer Personenwahl entscheidend sein kann. Aber Sesselmann trat für die AfD an, und dass ein AfD-Mann zum Landrat gewählt wurde, halten viele Politiker und Medien-Meinungsbildner, insbesondere aus dem Staatsvertragsfunk, offenbar für nicht hinnehmbar. Schließlich haben sie engagiert gegen eine Stimmabgabe für die AfD geredet, geschrieben und gesendet. Wie konnte es da sein, dass sich die Mehrheit der Wähler dennoch gegen ihre Empfehlung entschied?
Vielleicht hat es einfach auch mit dem vorigen Thüringer Sündenfall in Sachen Wahlen und Demokratie zu tun. Manche Leser werden die folgenden Argumente schon kennen, denn ich habe sie jüngst, direkt nach der Wahl, schon einmal beschrieben. Wer es da schon gelesen hat, kann die nächsten kursiv gesetzten Absätze einfach überspringen, weil ich mich da nur selbst zitiere:
„Vor allem die überregionalen Warner vor der Wahl des AfD-Landrats fragen sich nun, wie das nur passieren konnte, dass die Sonneberger Wähler diese vielen Warnungen mehrheitlich einfach in den Wind schlugen? Eigentlich gibt es da gleich eine ganze Reihe von Erklärungen, nur muss man dazu bereit sein, die Wirklichkeit wahrzunehmen, auch wenn die nicht zur eigenen Ideologie passt.
Zum einen ist es der Punkt, der auch für das gegenwärtige Umfragehoch der AfD sorgt. Die de facto mit lockender Sozialversorgung geförderte und weitgehend ungesteuerte Asyl-Zuwanderung, mehrheitlich in die Sozialssysteme, oder die wohlstandsbedrohende „Energiewende“ und die geplanten vormundschaftlichen Regeln und Verbote im Zeichen der sogenannten Klimarettung wird von keiner der einst und/oder jetzt regierenden Parteien wirklich überzeugend infrage gestellt. Wenn ein Bürger auf einem dieser Gebiete mit der herrschenden Politik nicht einverstanden ist und das mit seiner Wählerstimme mitteilen möchte, wen kann er da wählen? Welche Angebote gibt’s denn da im demokratischen Spektrum?
Natürlich war die Sonneberger Wahl eine Landratswahl, in der es eigentlich nicht um Themenfelder gehen müsste, die nicht in die Kompetenzen eines Landrats fallen. Nur wenn man überregional in schrillem Ton vor Mehrheiten für einen AfD-Landrat warnt, als ginge es darum, stellverstretend für die Vorfahren vor 90 Jahren eine NS-Machtergreifung zu vehindern, darf man sich nicht darüber beschweren, wenn nicht mehr übers Lokale diskutiert wird. Dabei ist es völlig egal, ob der AfD-Kandidat damit angefangen hat, solche Themen zu plakatieren. Man hätte ihn dann im Wahlkampf mit Landkreisthemen stellen können. Aber vielleicht brennt auch vielen Sonnebergern anderes mehr unter den Nägeln.
Vielleicht spielt in Thüringen auch eine Rolle, dass die Wähler im kleinsten Freistaat um ein versprochenes Wählervotum geprellt wurden. Außerhalb kann man sich ja vielleicht noch daran erinnern, dass im Februar 2020 der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, AfD und FDP zum Thüringer Ministerpräsidenten gewählt wurde. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel dekretierte bekanntlich aus Südafrika, dass diese Wahl rückgängig gemacht werden müsse, woraufhin Kemmerich quasi zum Rücktritt genötigt wurde, auch von Berliner Parteifreunden. Die CDU sollte die Rolle des Mehrheitsbeschaffers für eine weitere von der Linken geführte rotrotgrüne Regierung spielen. Und damit sich die Thüringer Wähler, die die rotrotgrüne Landesregierung zuvor klar abgewählt hatten, sich nicht durch deren Fortsetzung völlig verschaukelt fühlen, wurden ihnen Neuwahlen nach einem Jahr versprochen.
Die Neuwahlen gab es nicht, die CDU spielte trotz einiger Spiegelfechtereien ihre Rolle als Mehrheitsbeschaffer für eine rotrotgrüne Landespolitik brav weiter und wird dies wohl auch bis zum regulären Landtagswahltermin im nächsten Jahr tun. Eine Legislaturperiode lang sind die Thüringer dann von einer 2019 abgewählten Regierung regiert worden. Ist es verwunderlich, wenn das manch ein Bürger für einen Systemfehler in einem demokratischen System hält? Und dass das manche Wähler bei einer stattfindenden Wahl – und sei es eine Landratswahl – der Obrigkeit auch mit ihrer Stimmabgabe mitteilen wollen?“
Es geht nicht um den Führer
Wenn nun diese freie Wahl auf dem Verwaltungswege rückgängig gemacht werden soll, wie werden die Wähler wohl reagieren? In einer Demokratie kommt es vor, dass Mehrheiten nach Auffassung der Wahlverlierer falsch wählen. Aber Demokraten stellen deshalb nicht die Wahl an sich infrage. Schon gar nicht würden sie erklären, dass sich die Demokratie durch die Nicht-Akzeptanz demokratischer Entscheidungen retten ließe. Außerdem geht es im Landkreis Sonneberg lediglich um einen Landrat, der von den Bürgern direkt gewählt wurde, nicht um einen zum Reichskanzler ernannten Führer. Manche Reaktionen wirkten ja beinahe so, als sei es im Landkreis Sonneberg zur Machtergreifung gekommen.
In Sonneberg könnte nun im Kleinen geschehen, was die Thüringer aus ihrer Landeshauptstadt schon kennen. Dort konnte die abgewählte Landesregierung in Neuauflage bis heute regieren, und die einst hoch und heilig versprochenen Neuwahlen sind längst vergessen. Wenn der gewählte Landrat von Sonneberg nun nach amtlicher Prüfung für nicht genügend grundgesetztreu erklärt und abgesetzt wird, dann dürfte es vor Neuwahlen erst einen langen, erbitterten Rechtsstreit geben. Die Arbeit des Landrats würde dann lange Zeit kommissarisch von einem Nichtgewählten übernommen. Und was ist, wenn die Wähler dann bei der nächsten Wahl aus Trotz wieder einen AfD-Landrat wählen? Oder wird dann jeder AfD-Kandidat schon vor der Wahl als amtsunwürdig aussortiert?
In welches demokratische Dilemma dieser Kurs führt, war bereits nach den letzten Thüringer Landtagswahlen absehbar. Die Parteien der alten Bundesrepublik hatten auch zusammen keine Mehrheit mehr. Die Mehrheit der Thüringer Wähler hatte AfD und Linke gewählt. Angesichts des Wahlergebnisses war eine Regierung ohne Zustimmung der AfD oder der Linken nicht möglich und die Parteien der alten Bundesrepublik entschlossen sich nach der kurzen Kemmerich-Störung dafür, sich in die Arme der Linken zu begeben. Dass man auch wieder ohne Linke mehrheitsfähig werden muss, scheinen sie verdrängt zu haben. Es war und ist anscheinend leichter, sich die SED-Erben zu Musterdemokraten schön zu reden, als den eigenen politischen Kurs eventuell den Signalen der Wähler entsprechend zu modifizieren. Dabei müsste es doch eigentlich in einer Demokratie so sein, dass die Bürger den Politikern, die gewählt werden wollen, durch die Wahlen mitteilen, wohin die Reise gehen soll, und die Gewählten dann den Auftrag haben, sich im Rahmen der verantwortbaren Möglichkeiten daran zu halten. Aber mehr und mehr Bürger haben das Gefühl, dass die Gewählten dies nicht tun, und sind zur Protestwahl bereit.
Wann folgt das Parteiverbot?
Wenn das dazu führt, dass 52 Prozent der Wähler einen AfD-Kandidaten zum Landrat wählen und dieses Votum dann von einem Landesverwaltungsamt kassiert wird, rettet man damit dann die Demokratie? Man erreicht wohl eher das Gegenteil. Offenbar gehen die AfD-Gegner im Grunde davon aus, dass der neu gewählte Landrat zu einer zufriedenstellenden Amtsführung in der Lage ist. Sonst wäre es ja klüger gewesen, nach einiger Zeit einfach seine tatsächliche Arbeit von der Kommunalaufsicht genau prüfen lassen. Als schlechter Landrat wäre der Mann wohl weder unter Protestwählern noch wirklichen AfD-Anhängern lange populär. Aber es geht eben weder um das Amt noch um den gewählten Kandidaten, sondern nur um die AfD und darum, diese zu bekämpfen.
Das Landesverwaltungsamt, das nun die Demokratietauglichkeit von Landrat Sesselmann prüfen soll, wird übrigens geleitet von einem Mann, der in sein Amt ohne Ausschreibung kam, was seinerzeit vom Rechnungshof moniert wurde. Zuvor hatte er ohne Erfolg für ein Landtagsmandat kandidiert. Bis 1989 war der vormalige Lehrer SED-Mitglied und wechselte dann 1990 noch vor der Wiedervereinigung zur SPD. Aber das nur am Rande.
Wir dürfen nun warten, wie das Landesverwaltungsamt entscheidet. Wenn nun der AfD der Wahlsieg auf dem Verordnungsweg genommen wird, um damit angeblich die Demokratie zu retten, dürfte das für die Partei, die man damit bekämpfen will, wie ein Förderprogramm wirken. Insbesondere dann, wenn solche fatalen Spielchen in eine Zeit fallen, in der die Bürger mehr und mehr den der Ampel-Politik folgenden Wohlstandsverlust spüren. Was folgt, wenn dann aus Trotz noch mehr AfD gewählt wird, weil die anderen Parteien sich weiterhin weigern, wahrzunehmen, was viele Bürger mit ihrer Protestwahlstimme mitteilen wollen? Wie werden sich die anderen Parteien dieser Konkurrenz dann erwehren? Mit einem Parteiverbot? Und dann? Auf welche Art wird sich der steigende Unmut, der sich in den AfD-Ergebnissen ausdrückt, dann artikulieren?