Die Funktionsweise von politischem Machterhalt und Entscheidungsfindung hat der spätere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits 1999 sehr treffend beschrieben: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“
Die entscheidende volatile Größe bei dieser Beschreibung ist das, was Juncker das große Geschrei nennt. In Deutschland neigt eine satte 2/3-Mehrheit der Journalisten den linken Parteien zu. Das große Geschrei, das sie erheben, betrifft eben nur das, was sich innerhalb ihrer Blase als unliebsam darstellt. Über alles andere macht der linke Journalismus kein großes Geschrei, so dass bei den Herrschenden der Eindruck entstehen kann, dass – solange sie mit den Medien gut zusammenarbeiten – das Geschrei schon ausbleibt.
Umso größer sind dann die Erschütterungen, wenn die Briten für den Brexit und die Amerikaner für Donald Trump stimmen. Denn das große Geschrei einer nicht unerheblichen Anzahl von Menschen findet schon lange nicht mehr in der abgedichteten Echokammer der klassischen Medien statt, sondern in den sozialen Netzwerken. Und die haben sich für die Politik als unbeherrschbar herausgestellt, was den so aggressiven Wunsch nach meinungsfreiheitseinschränkenden Gesetzen erklären hilft.
Ob es die Kölner Silvesterereignisse 2015/16 waren, die Vergewaltigung und der Mord an der Freiburgerin Maria L. oder die den Herrschenden unangenehme Lesart der Kriminalitätsstatistiken: Die etablierten Medien machen kein großes Geschrei mehr um derartige Petitessen. Zu gut funktioniert eine Verschleierungsdynamik, bei der die Journalisten mehr Wert auf die Beachtung der politisch korrekten Wortwahl legen, als dem Informationsbedürfnis ihrer Konsumenten Rechnung zu tragen. Niemand anderes als der deutsche Innenminister Thomas de Maizière brachte diese Verschleierungstaktik 2015 auf den Punkt: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“.
Nur haben es sich die Herrschenden schlicht zu gemütlich in dem Umstand eingerichtet, dass ausschließlich sie es sind, die darüber entscheiden dürfen, was die Bevölkerung denn nicht zu verunsichern habe. Diese Art Betreuungsjournalismus ist in Zeiten der weltweiten Informationsvernetzung völlig überholt; und so konnte innerhalb von kürzester Zeit das Internet die Aufgabe übernehmen, die weiland in der DDR das Westfernsehen innehatte.
Die Tendenz, sich betreuen lassen zu wollen
Dabei ist es eine durchaus typisch deutsche Tendenz, sich auch betreuen lassen zu wollen, der die politische Klasse natürlich nur zu gerne nachkommt – sichert es doch ihre eigenen Pfründe. Mit Forderungen nach mehr Freiheit, Abbau der Bürokratie und Stärkung des Individuums gewinnt man in Deutschland keine Wahlen. Um eine Volkspartei sein zu können, muss man vor allem Sicherheit, Gerechtigkeit und Steuererhöhungen versprechen. Das Denken im Kollektiv ist in Deutschland ein weit verbreiteter positiver Subtext, während das Individuum eher mit Egoismus assoziiert wird. Egoismus fördert den Streit, während nur das Kollektiv für Harmonie und Konsens sorgen kann. Der Schritt zur Konsensvollstreckung durch das Kollektiv am Individuum ist dann nur noch ein kleiner. Diese eigentümlich totalitäre Konsenssucht der Deutschen mit der Funktionsweise einer Demokratie verschmolzen zu haben, ist das Markenzeichen der Bundesrepublik Deutschland geworden.
Angela Merkel ist zum Symbol dieser deutschen Sehnsucht nach einer Konsensdemokratie ohne Streit und Diskurs geworden. Selten vorher wurde diese Sehnsucht so schamlos ausgenutzt wie unter ihr, indem alles, was hätte Streit bedeuten können, aus dem Diskurs entfernt wurde. Dass dabei auch alles, was wirtschaftspolitische Strukturreformmaßnahmen oder den Umgang mit der sich seit Jahren abzeichnenden Völkerwanderung betrifft, aus dem Diskurs verschwand, hat ja nicht Frau Merkel geschadet, sondern nur dem Land und seinen Debatten. Aber auch Angela Merkel als Symbol legt ja nur den Blick frei auf eine Eigenart der Deutschen, die in der zivilisierten Welt dann doch eigentümlich einmalig ist. Denn demokratische Prozesse durch eine höhere Moral so zu überdehnen, dass einige Kritiker bereits von einem Primat der Moral über das Recht sprechen, hat Angela Merkel ja nicht nur in der Flüchtlingspolitik als Strategie angewendet, sondern auch bei der „Euro-Rettung“ und dem Atomausstieg. Und sie ist damit jedes Mal durchgekommen und sogar wiedergewählt worden.
Das im Euro-Vertrag festgeschriebene Gesetz, dass kein Staat für die Schulden eines anderen Staates haftet, wurde faktisch gebrochen, auch wenn die Rückzahlung griechischer Schulden am Sankt-Nimmerleinstag weiterhin vorgesehen ist. Auch bei der Energiewende und dem völlig überhasteten Ausstieg aus der Kernenergie hat es Frau Merkel mit deutschem Recht, das sie selbst noch einige Monate vorher zugunsten der Verlängerung der KKW-Laufzeiten geändert hatte, nicht ganz so ernst genommen, was ihr zwar inzwischen mit einem Bundesverfassungsgerichtsurteil zu Entschädigungszahlungen an die Energiekonzerne auf die Füße gefallen ist, ihr aber in der Beliebtheit bei der Bevölkerung gleichzeitig nie geschadet hat – und das trotz einer Energiewende, die sich immer mehr als sinnloses Milliardengrab entpuppt und die Strompreise zu den höchsten in der Eurozone gemacht hat. Tendenz: weiter steigend. Und immer hat Angela Merkel fulminante Alleingänge und Kehrtwenden, die man auch Selbstermächtigungen nennen könnte, hingelegt und versucht, den Bundestag bei diesen Entscheidungen auszuhebeln.
Führer prima, nur bitte nicht der Falsche
Bei der wohl am weitesten reichenden Entscheidung seit der deutschen Wiedervereinigung, nämlich der zur großen Öffnung im September 2015, ist Angela Merkel diese Aushebelung des deutschen Parlaments schließlich gelungen. Ohne Debatte, ohne Grundsatzbeschluss, ohne demokratischen Diskurs. Der Konsens, der alle Parteien im deutschen Bundestag ereilt hatte, führte dazu, dass es bis heute keine parlamentarische Abstimmung über den Umgang mit dem Problem der Völkerwanderung gegeben hat. Und obwohl das Problem noch lange nicht vorbei ist, wird es auch im Parteiprogramm der CDU zur Bundestagswahl 2017 schlicht nicht thematisiert.
Das Verständnis der Deutschen für die Demokratie kann sich als großes Missverständnis entpuppen. Denn ganz offenkundig weigern sich die Deutschen nicht, einem alternativlosen Führer zu folgen, sondern sie haben nur Angst, dass es nochmal der falsche sein könnte. Aber Demokratie ist zuvorderst ein Rechtssystem, das Religions-, Meinungs- und Wahlfreiheit garantiert, Rechtsstaatlichkeit durch Gewaltenteilung herstellt und mit einem obersten Gericht ein recht weises Organ hat, die Herrschenden zu mäßigen und sie auf die bestehenden Gesetze zu verpflichten. Das moralische Pathos, selbst irgendein „liberaler“ Geist ist in einer Demokratie nicht zwingend vorgesehen. Und irgendeine Moral über das Recht zu stellen, noch weniger, selbst wenn der Führer noch so weise ist.
Blickt man auf die USA und die ersten Wochen der Präsidentschaft Donald Trumps, dann kann man recht deutlich den Unterschied zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Demokratieverständnis sehen. Donald Trump fühlte sich bemüßigt, als eine der ersten Amtshandlungen die Verschärfung des Einwanderungsgesetzes vorzunehmen. In den Medien wurde es schlicht „Muslim Ban“ genannt, und dieser hatte grobe handwerkliche Fehler. Bundesrichter hoben es schließlich als nicht im Einklang mit der US-Verfassung stehend auf. Es ist die große Stärke der US-Amerikaner, diese checks & balances zu haben und auch anzuwenden, egal wie laut der US-Präsident dann auch zetern mag.
Als es in Deutschland zur großen Öffnung kam, ließ auch die CSU eine Beurteilung durch einen ehemaligen Verfassungsrichter erstellen und „drohte“ mit dem Gang vor das Bundesverfassungsgericht. In Deutschland – soviel lässt sich resümieren – wird die Einforderung der checks & balances als Drohung ins Spiel gebracht, statt als urdemokratische Gepflogenheit. Die Konsenskultur, die in Deutschland immer noch mehr zu zählen scheint als der demokratische Streit, entpuppt sich eben als wundersame Waffe der Herrschenden, um einsame Entscheidungen unbesorgt vollenden zu können. Aber, und das ist die Absurdität dieses neuen deutschen Selbstwertgefühls, es soll Donald Trump gewesen sein, der das Ende der Demokratie und überhaupt das „Ende der Welt“ einläutete. Realitätssinn war noch nie eine ausgeprägte deutsche Tugend.
Politik verwandelt sich in salbungsvollen Kitsch
Dabei war es doch vor allem die Linke, die mit dem bundesrepublikanischen Konsens brach und den Streit und die Provokation in die Demokratie einbrachte. Widerstand gegen die Herrschenden wurde zum erklärten ersten Ziel, um die Verhältnisse, unter denen man litt, verändern zu können. Vor allem das homogene Kollektiv rief bei den Apologeten der Studentenbewegung das größte Unbehagen hervor. Mit dem September 2015 jedoch wurde endlich wahr, was Kaiser Wilhelm II so gerne gekannt hätte: keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Und die Linke skandierte mit Entzücken.
Angela Merkel wird oft vorgeworfen, die CDU sozialdemokratisiert zu haben. Doch ist das eine Beleidigung der Sozialdemokraten. Vergleicht man den letzten SPD-Kanzler mit Merkel, so fällt auf, dass Gerhard Schröder eine Agenda hatte und sie verfolgte, bis sie durchgesetzt war und dafür sogar seine Abwahl in Kauf nahm. Die Strategie Merkels dagegen ist vollkommen agendalos. Sie wartet ab, was die Medien an Stimmung transportieren, bevor sie im letzten Moment dann eine Entscheidung fällt. Oftmals sind das dann Kehrtwenden, als hätte sich Angela Merkel vom Saulus zum Paulus gewandelt, freilich ohne dass es einen gesellschaftlichen Diskurs darüber gegeben hätte. Die CDU ist also nicht sozialdemokratisiert, sondern hat sich unter Merkel schlicht entpolitisieren lassen.
Die Entpolitisierung der Politik, die Angela Merkel zum Ziel der asymmetrischen Wählermobilisierung vorangetrieben hatte, und die schließlich dazu führte, dass sich Politik in salbungsvollen Kitsch verwandelte, rächt sich inzwischen an den etablierten politischen Parteien. Denn die Entpolitisierung der Politik ist vergleichbar dem kurzfristigen share-holder-value bei Aktiengesellschaften: Man kann mit ihm wiedergewählt werden, aber man läuft Gefahr, die langfristigen Strategien und nachhaltigen Entwicklungen einer Gesellschaft auszuhöhlen und das Tafelsilber zu verkloppen. Dass sich eine konservative Partei um des kurzfristigen share-holder-value willen geschlossen um ihren Markenkern bringen lässt, ist ein mehr als Besorgnis erregendes Menetekel des deutschen Konservativismus.
Ganz aktuell wird dies wieder sichtbar an der Diskussion um die „Ehe für alle“, wie die gleichgeschlechtliche Ehegemeinschaft inzwischen im Medienmund heißt. Es gibt gute Gründe für diese „Ehe für alle“, und es gibt auch gute Gründe gegen sie. Viel weniger irritierend als die Begründungen, ist die Rasanz, mit der ein familienpolitisches Modell, das seit Jahrhunderten gilt, nun über Bord geworfen wird: durch eine einzige Aussage der Bundeskanzlerin.
Als in Frankreich die gleichgeschlechtliche Ehe 2013 im Parlament beschlossen wurde, gingen fast anderthalb Millionen Menschen auf die Straße, um gegen dieses Gesetz zu demonstrieren. Kann man sich eine solche Großkundgebung konservativer Kräfte in Deutschland vorstellen? Wohl eher nicht. Vor allem: welche politische Partei in Deutschland würde sich trauen, einen derartigen Protest zu organisieren? Seitdem der deutsche Konservativismus aufgegeben hat, sich gegen den Generalverdacht der linksliberalen Jakobiner, konservativ sei vulgär und vor allem rechts, zur Wehr zu setzen, ist Deutschland alternativlos progressiv. Und die Entdemokratisierung der Demokratie schreitet in Meilenstiefeln voran.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch: Mal eben kurz die Welt retten - Die Deutschen zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung, Markus Vahlefeld und Henryk M. Broder (Vorwort), im gut sortierten Buchhandel, bei amazon oder direkt bei markus-vahlefeld.de