Debatte: Zur Moral des Austauschs Geisel gegen Terroristen

Das sogenannte moralische Dilemma ist stets dasselbe, die entsprechenden Diskussionen ähneln sich, wenn es um die Frage geht, ob ein Geiselaustausch weitere künftige Opfer produziert und deshalb abzulehnen sei.

Der anstehende seit dem Massaker vom 7. Oktober zweite Tausch-Deal zur Freilassung israelischer Geiseln aus den Händen der Hamas ist über die Forderungen nach Feuerpause und Rückzug der israelischen Armee hinaus doppelt asymmetrisch. Quantitativ: hunderte Palästinenser gegen 33 Israelis. Qualitativ: verurteilte Verbrecher (darunter Terroristen) gegen Zivilisten und reguläre Soldaten.

Das Muster ist bekannt. 1985 wurden drei israelische Soldaten gegen 1.150 palästinensische Terroristen getauscht, 2004 der Geschäftsmann Tennenbaum sowie die Leichen von drei israelischen Soldaten gegen 435 palästinensische Terroristen. Um den im Juni 2006 von einem Hamas-Kommando entführten damals 19-jährigen Soldaten Gilad Schalit freizubekommen, wurden 1.029 inhaftierte Palästinenser – darunter zahlreiche Extremisten – von Israel im Jahr 2011 aus den Gefängnissen entlassen und abgeschoben. 

Das sogenannte moralische Dilemma ist stets dasselbe, die entsprechenden Diskussionen ähneln sich, mit einer Ausnahme, auf die gleich zu sprechen kommen sein wird. Richard Herzinger verteidigte den Deal zur Freilassung Gilad Schalits seinerzeit in einem Kommentar für die Welt (15.10.2011) wie folgt: 

„Ist das Eingehen auf einen solchen Deal, der verbrecherische Taten zu belohnen scheint, somit ein Zeichen der Schwäche Israels? Nicht, wenn man die moralische Dimension dieses Austauschs ins Auge fasst. Das Schicksal des jungen Soldaten, der mit 19 Jahren in die Fänge der Hamas geraten war, hat die Seele der israelischen Gesellschaft tief berührt. Das Zelt, das seine Eltern zur Mahnung an das Schicksal ihres Sohns nahe der Residenz des israelischen Ministerpräsidenten in Jerusalem errichtet hatten, war seit zwei Jahren zu so etwas wie dem moralischen Zentrum, zum Stachel im Gewissen der Nation geworden. Es gemahnte an ein tief in der religiösen und kulturellen Tradition des Judentums verankertes Gebot. Pikuach Nefesh, die Verpflichtung zur Rettung von Leben, ist eines der höchsten Prinzipien jüdischer Ethik, das über allen religiösen Gesetzen und Vorschriften steht. […] Ein allgemeingültiges Vorbild für den Umgang mit terroristischer Erpressung bietet der Fall Gilad Schalit in der Tat nicht. Die jeweils spezifische, quälende Abwägung, ob durch die Rettung eines Lebens nicht zu viele andere zu stark gefährdet werden könnten, bleibt freiheitlichen Gesellschaften auch in Zukunft nicht erspart.“

Formeln wie „Der Staat darf sich nicht erpressen lassen“ ist zu misstrauen

Wie von Herzinger vorausgesehen, stellt sich die „quälende Abwägung, ob durch die Rettung eines Lebens nicht zu viele andere zu stark gefährdet werden könnten“in diesen Tagen erneut, mit dem Unterschied – das wäre die Besonderheit, auf die ich zurückkommen wollte – , dass sich jene, die damals schon anders abwägten als Herzinger, heute auf tragische Weise bestätigt sehen könnten.

In einem Artikel für die Jerusalem Post vom 14.10.2011 wies Caroline Glick darauf hin, dass alle Statistiken dafür sprechen, dass freigelassene Terroristen wieder aktiv werden, was zwangläufig zu künftigen israelischen Opfern führen werde: 

„Das Einzige, was wir über diese zukünftigen Opfer nicht wissen, sind ihre Namen. Aber wir wissen, was aus ihnen wird, so sicher, wie wir wissen, dass die Nacht auf den Tag folgt.“

Heute kennen wir die Namen der am 7. Oktober über tausend ermordeten und über 200 entführten Israelis. Als Drahtzieher dieses Massakers gilt Yahya Sinwar – und damit ausgerechnet einer jener Terroristen, die Israel im Tausch für Gilad Schalit freigelassen hat. Man könnte also sagen – auch wenn dies unter den Kritikern des gegenwärtigen Deals niemand so auszusprechen wagt –, dass der Preis für einen Israeli (Gilad Schalit), von heute aus betrachtet, in über 1.000 Israelis (den Opfern des 7. Oktober) besteht.

Ich möchte dieser Logik, die nur scheinplausibel ist, entschieden widersprechen. Auch gewissen Formeln wie „Der Staat darf sich nicht erpressen lassen“ wäre zu misstrauen. Ebenso ist die Abwägung von verschiedenen Schutzpflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern moralisch weniger dilemmatisch, als man gemeinhin annimmt.

Der Unterschied zwischen einer konkreten Lebensgefahr und einer abstrakten Lebensgefahr

Meiner Auffassung nach wiegt die Verantwortung des Staates für gegenwärtige Geiseln, deren Namen und Angehörige man kennt, über deren konkrete Gefährdung man weiß und die man gegebenfalls per Deal konkret retten könnte, schwerer als die zukünftige und abstrakte Gefahr, der man die Bevölkerung aussetzt, wenn man Terroristen freilässt. Man weiß eben jetzt nicht, ob und wie viele und wen genau es in Zukunft treffen könnte, man weiß jetzt aber, dass die Geiseln in Gefahr sind. Es gibt auch keinen logisch-kausalen Zwangszusammenhang zwischen der Freilassung von Terroristen und Opfern künftigen Terrors. Zum einen könnte sich ein Freigelassener auch umbesinnen oder einen Herzinfarkt erleiden. Zum anderen können Terroranschläge in der Zukunft, dann, wenn es soweit ist, auch verhindert werden. Gerade im Zusammenhang des 7. Oktober gibt es ja Hinweise auch auf Staatsversagen, Vorwürfe, denen die Regierung Netanjahu sich nach dem Krieg noch zu stellen haben wird. 

Beim lebensrettenden Abwägen spielen also nicht (Opfer-)Zahlen eine Rolle (wie viele mögliche andere Leben wäre ein Leben wert?), sondern die Begriffspaare gegenwärtig/konkret hier und zukünftig/abstrakt da.

Wer im Sinne von „Der Staat darf sich nicht als erpressbar zeigen“ abschrecken möchte, könnte erwägen, die freigelassenen Terroristen den Geheimdiensten auf eine Liquidationsliste zu schreiben, die nach dem abgeschlossen Deal abzuarbeiten wäre. Das gilt in bürgerlichen Rechtsstaaten zwar nicht in Gänze als politisch korrekt, wäre aber allemal moralischer, als entführte Zivilisten der Staatsräson zu opfern.

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Wer hat diesen Krieg eigentlich gewonnen?

Der Hamas-Waffenstillstands-Deal bedeutet: Israel verliert

 

Thomas Maul ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem zum Islam und zu Kritischer Theorie. Er war bis März 2020 Autor (seit 2007) und Redakteur (seit 2012) der ideologiekritischen Zeitschrift BAHAMAS. Seit 2023 ist er Redakteur der von ihm mitgegründeten Halbjahreszeitschrift „casa|blanca. Texte zur falschen Zeit“ (https://textezurfalschenzeit.de/).

Foto: Montage achgut.com

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L. Luhmann / 17.01.2025

@j. heini / 17.01.2025 - “Es ist in meinen Augen völlig egal, was Israel tut. Der radikale Islam - egal ob Hamas oder andere Gruppen - wird niemals von seinem Terror abrücken. (...)” - Der Islam ist absolut immer radikal! Es gibt keinen unradikalen Islam ...

H. Berger / 17.01.2025

Das mit der Liquidationsliste ist nett, aber der Deal sieht vermutlich genau aus solchen Gründen die Ansiedlung der Terroristen ausserhalb der Palizonen vor. Da ist die Liquidierung unter den bekannten gegenwärtigen Arrangements weitgehend ausgeschlossen. Im Amt hat man vermutlich schon Bedarf für deren Weiterverwendung in Germanistan angemeldet.

Ben Goldstein / 17.01.2025

Doch, bei einer großen Zahl von freigelassenen Terroristen ergeben sich zwingend daraus folgende konkrete Todesopfer. Das ist nicht abstrakt. Statistiker nennen das das Gesetz der großen Zahlen. Wir reden von tausenden Freigelassenen über die Jahre und einer signifikanten Rückfallquote, die sich eben manifestiert.

H. Berger / 17.01.2025

Generell heisst es im Umgang mit fanatisierten Psychopathen Abschied nehmen von allerlei Arrangements, die einst unter mehr oder weniger christlichen Akteuren ersonnen oder unter deren Vorherrschaft in Geltung gebracht wurden. Die Anhänger des Tod- und Mordkults haben diese Arrangements nie akzeptiert, und auf Einseitigkeit gebürstet bilden diese Arrangements einen gigantischen Suizidpakt, worüber sich der Feind bekanntlich immer wieder lautstark amüsiert. Realistisch betrachtet ist schon die fiktive Trennung von Zivilisten und Kombatanten absurd.Wie man weltweit in jeder muslimischen Siedlung sehen kann, verstehen sich die meisten Anhänger des TMK als Kämpfer etwa der Hamas, identifizieren sich mit deren Zielen und mehr oder weniger offen auch mit deren Strategien. Hamas ist praktischer Islam und alle heute islamischen Gebiete, von Mekka über Jakarta bis nach Neukölln sind durch Hamas-Methoden islamische Gebiete geworden. Jeder Moslem weiss das, und seine gründeutschen Steigbügelhalter mit oder ohne C wissen das auch. Von ihren schwarzrotweissen und braunen Ahnen nota bene. Das TMK-Problem braucht ABC-Lösungen, christlich-humanistische Massstäbe sind gänzlich fehl am Platz.

H. Berger / 17.01.2025

Moralphilosophische Spekulationen sind in diesem Kontext weder relevant noch zielführend. Die Annahme eines bereits vor Monaten von Blinken und den Hamas-Kuratoren in Doha ausgeknobelten miesen Deals dürfte für Israel nur wegen der veränderten Gesamtwetterlage, insbesondere der Schwächung der Hezbollah, akzeptabel sein. Was es mit dem scheinbar massiven Druck durch Trump auf sich hat, welcher derweil auf seiner Medienplattform mit der Begeisterung von „arab officials“ prahlt, bleibt abzuwarten. Gut möglich, dass er einfach das irrsinnige Gezeter um die Geiseln und sonstigen Seelenweihrauch vermeiden will, wenn es um einen reellen Umgang mit dem Iran und anderen bad actors dieser Grössenordnung geht. Der Iran hatte zuletzt immerhin ein Attentat auf Kandidat Trump während des US-Wahlkampfs und auf amerikanischem Boden lanciert. Das Gegenargument mit der erhofften Nichterpressbarkeit des Staates geht ebenso ins Leere, das Entführen, Foltern und Töten von Geiseln gehört zum Selbstverständnis terroristischer Strategen, es symbolisiert die ultimative Macht über Menschen, die zum satanisch-nihilistschen Kernbestand des Terror-Imaginaire zählt. Terroristen, allen voran die umnachteten Anhänger des Tod- und Mordkultes aus der Fledermaushöhle, würden Geiseln auch nehmen, foltern und töten, wenn sie damit politisch nichts erreichen.

Karl-Heinz Böhnke / 17.01.2025

Die Liste ist schon geschrieben. Generell darf sich niemand erpressen lassen, schon gar nicht ein Staat wegen eines Soldaten, dessen Leben er vorher ohne weiteres aufs Spiel gesetzt hat. Eine Geisel nicht abzuschreiben, bedeutet, den Kampf verloren zu geben. Helmut Schmidt hat nur gehofft, daß die Terroristen Martin Schleyer leben lassen. In Palästina geschieht seit Jahrzehnten doch immer dasselbe: Israelis werden präsentiert, von ihren Nachbarn getötet und zu gegebenem Anlaß gefangen zu werden. Gerade das Ereignis vom 7.10.2023 läßt vermuten, daß der Ablauf in den vergangenen 15 Monaten genauso geplant war. Es wird also auch so weitergehen, wozu es neue alte Terroristen braucht. Rücksicht auf ihre Bevölkerung nimmt die israelische Führung sowieso nicht, denn sonst hätte sie diese nicht als Versuchskaninchen und Opfer der US-Spritzen mißbraucht. Aber mit diesem Schicksal stehen die Schutzbefohlenen ja weltweit nicht alleine da.

Gus Schiller / 17.01.2025

Warum sieht man auf den Bildern so viele feiernde Frauen und Kinder? Sind die Kämpfer im Tunnel und setzen die nächsten Raketen zusammen?

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