Okay, durchatmen. Wir haben das erste Quartal 2021 hinter uns, und was uns in den ersten Tagen des Aprils um die Ohren gehauen wird, das ist ein Anlass, erst mal durchzuatmen – doch eine Meldung sticht selbst in diesen im unguten Sinne "atemberaubenden" Zeiten hervor.
Wer den Namen "Thomas de Maizière" hört, der denkt vielleicht zuerst an jenen Moment unabsichtlicher Wahrheit: "Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern." (welt.de, 18.11.2015) – Sein Nachfolger im Innenministerium wurde bekanntlich der bayerische Bettvorleger. Heute aber, im Jahr 2021, da könnte man fast meinen, dass Herr de Maizière sich wieder mit höheren Mächten gutstellen möchte, wieder ein williges Rädchen im großen Mahlwerk sein, indem er das Grundgesetz ändern lassen will, um schneller den Ausnahmezustand für Deutschland ausrufen zu können. Ach ja – "den Einsatz der Bundeswehr im Inneren" will er auch diskutieren. Ein Zyniker könnte erwarten: "Bald bekommen Andersdenkende auch in Deutschland die Chance, die Panzerszene vom Tiananmen-Platz nachzustellen." – "Noch Fragen?", so rufen wir aus – und wir atmen erst mal durch.
Was soll man als mit Gewissen und Verstand gestrafter Bürger tun? Es gibt denkbare Wege, doch sie riechen nach Ideologie, und das ist nicht das größte ihrer Probleme.
Das beste Mittel gegen gefährliche Praxis, wie in Deutschland, wäre eine gute Ideologie – oder?
Die eigentliche Frage hinter dem Geschehen in Deutschland ist doch, warum die Deutschen sich das antun lassen. Was die Deutschen (und global gesehen fürwahr nicht nur die) doch bräuchten, wäre ein besseres Denken. Das Konzept ist nicht ohne Denkvorgaben umsetzbar, womit wir bei der Ideologie wären – einem Konzept mit einer sehr brisanten eigenen Praxisgeschichte.
Denken, was du willst, aber nicht wollen, was du willst
Ideologie ist vorgegebenes Denken, das unreflektiert akzeptiert werden soll (also wie eigentlich das meiste in der Grundschule). – Ideologie sagt: "so musst du denken" – und es ist in der Geschichte wieder und wieder und wieder und wieder schiefgegangen. Was ist aber die Alternative zur Denkvorgabe? Wäre es "Denk, wie du willst"?
Nun, das wiederum hat philosophisch-pragmatische (ja, sowas gibt es) Probleme. – "Du kannst thun was du willst: aber du kannst, in jedem gegebenen Augenblick deines Lebens, nur ein Bestimmtes wollen und schlechterdings nicht Anderes, als dieses Eine", so Schopenhauer, und frei nach der populären Version jener philosophischen These gilt auch: Du kannst denken, was du willst, doch du kannst nicht wollen, was du willst.
Das Paradox ist: Je loser und instabiler deine Denkmuster sind, umso anfälliger bist du für Manipulation und spontane Fehlentscheidungen, die du bereuen wirst.
Mit festen Denkmustern kannst du nicht "denken, wie du willst" (außer du "willst" "zufälligerweise", was die Denkmuster besagen) – ohne feste Denkmuster bist du für zufällige Informationslagen und Manipulation anfällig.
Im Englischen spricht man von den "horns of a dilemma", den "Hörnern eines Dilemmas", und es fühlt sich tatsächlich oft genug an, als würde die reale Realität uns wie ein wütender Stier auf die Hörner nehmen und durch die Arena schleifen – das eine Horn ist die Logik der Dinge, das andere die Schwäche menschlicher Natur.
Einerseits: Alle erzwungenen Denkvorgaben der Vergangenheit – sprich: Ideologien – ließen nicht nur fragwürdige Maßnahmen notwendig erscheinen, sie resultierten auch zuverlässig in Leid und Armut, welche mindestens so lange anhielten, wie die Denkvorgabe durchgesetzt werden konnte – und dann noch ein paar Jahrzehnte darüber hinaus.
„Weg des geringsten (Denk-)Widerstandes“
Andererseits: Den Menschen zu sagen, "Denk doch, wie du willst", führt dazu, dass Menschen dem "Weg des geringsten (Denk-)Widerstandes" folgen – nein, wir sind nicht ein jeder ein Aristoteles oder ein Einstein.
Das Denken, das wir brauchen, ist nicht ein "Denken des geringsten Widerstands" (welches realistischerweise die Mehrheit der Menschen praktizieren wird), sondern ein Denken, das sich an die Realität anzupassen sucht, das Ungewissheit und Wahrscheinlichkeit erträgt, ohne sich in Passivität oder sozialkompatible Lügengebäude zu flüchten. Was also tun? Der Stier lässt uns noch nicht von seinen Hörnern herunter.
Es wäre ja geradezu einfach, wenn das vorliegende Paradox ein Dilemma wäre – es ist (mindestens!) ein Trilemma.
Man könnte die Gesellschaften des industriellen Zeitalters danach zu kategorisieren versuchen, welche Seite des Dilemmas sie bedienen; die einen wollen Denkweisen aufzwingen, die anderen verführen durch PR und Propaganda, wobei es immer Mischformen geben wird – der Wille zu Macht und dem ganz großen Wohlstand darf sich nicht von Kategorien einengen lassen.
Wer auch immer den Menschen in größerem Maßstab die Kunst des realitätsadäquaten Denkens näherbringen will, muss sich nicht nur selbst davor hüten, zum Ideologen zu werden, er muss nicht nur den menschlichen Drang zum "Denken des geringsten Widerstandes" überwinden, er kämpft dazu noch mit keinen bis sehr begrenzten Mitteln gegen Ideologen und Propagandisten mit teils buchstäblich unbegrenzten Budgets (ja, unbegrenzt: Regierungen können das Geld, das sie für Propaganda brauchen, einfach als Steuern von den Propagandaopfern kassieren und dem Land, das sie in seinen eigenen Untergang manipulieren, immer neue Schulden aufladen).
„Weniger blöd“ lässt sich so nicht erreichen
Nun könnte man klug sein wollen, und als Fluchtweg vorschlagen: Mach doch Geld, indem Du mit der Verbreitung von "guten Denkmustern" selbst verdienst!
Im Kleinen mag das auch funktionieren. Es gibt ja Bestseller übers logische Denken, es gibt Verlage, freie Schreiber und YouTuber, die von der Aufdeckung unbequemer Wahrheiten leben. Das ist wahr: Jedoch, die reale/realistische Zielkundschaft dieser Verlage ist eine kleine Minderheit der Bevölkerung, selbst wenn sie ein oder zwei Millionen Leser oder Zuschauer erreichen sollten. Das ursprüngliche Ziel, das Mehrheitsdenken "weniger blöd" werden zu lassen, lässt sich so nicht erreichen.
Schon lange vor dem Internet begriffen etwa Boulevardzeitungen, dass Logik, Bildungswert und Realitätsadäquatheit nicht die ersten finanziellen oder sozialen Erfolgskriterien für Nachrichten sind – andere Faktoren wiegen schwerer. Zu diesen "anderen Faktoren" zählt natürlich die emotionale Kraft von Skandalen et cetera, doch ganz wesentlich auch die Einfachheit. Ja, einfach verständlich zu sein, dem Bürger das eigene Denken zu ersparen, ist ein eigener Marktwert.
Wenn zwei Narrative im Wettkampf stehen, wovon eines die Realität adäquat abbildet und zu logischem Denken anleitet, und das dazu echtes Geld kostet, aber die einfachen Bürger stärker macht, während das andere billig bis gratis daherkommt, dafür aber einfach und emotional verkauft wird, und dazu noch die Reichen reicher werden lässt – welches wird realistischerweise erfolgreich sein?
Nein, man wird nicht die Mehrheit erreichen, indem man ihr sagt: "Hier ist etwas, das dein Denken komplizierter macht, zahl mir Geld dafür – statt das anzunehmen, was einfacher und gratis oder superbillig ist."
Unsere eigene Dummheit wird unser letzter Gegner sein
Seit buchstäblich Jahrtausenden haben die Weisen und Vorkämpfer des Geistes versucht, das Denken des Halbtieres, das sich "Mensch" nennt, auf höhere, realitätsadäquatere Ebenen zu heben. Mal wurden sie missverstanden, mal wurde ihre Lehre zum Werkzeug der Mächtigen und dementsprechend pervertiert, mal beides, und mal sind sie aus anderen Gründen gescheitert – meist an der menschlichen Seele.
Eines unterscheidet unsere Zeit von jenen Zeiten: Unsere kommunikativen Werkzeuge sind weit, weit mächtiger als die Werkzeuge aller Generationen und Kulturen vor uns (und selbst von denen haben nicht wenige es geschafft, durch falsches Denken sich aus der Geschichte zu löschen).
Nicht Meteoriteneinschläge, nicht Außerirdische und nein, auch nicht die seit Jahrtausenden üblichen Schwankungen des Klimas werden unser Ende sein – unsere eigene Dummheit, die Dinge zulässt, die ganz und gar nicht gut für uns sind, das wird unser letzter Gegner sein.
Nun diskutieren sie in Deutschland also als nächsten Schritt die einfache Einführung des Ausnahmezustands (übrigens auch im Fall, dass die Stromversorgung kollabiert – etwa wegen Abbaus zuverlässiger Kraftwerke). Da sollte man erst einmal tief durchatmen, wenn man das hört!
Natürlich wünsche ich mir, dass jemand einen Weg findet, alle Menschen klüger werden zu lassen, während er das Ideologie-Einfachdenken-Propaganda-Multilemma erfolgreich umschifft. Bis es soweit ist, bis die Person gefunden ist und seine Magie ihre Wirksamkeit erwiesen hat, rate ich einem jeden von uns: Ordne deine Kreise – und hüte dich vor denen, die es nicht tun!
Dieser Beitrag erschien zuerst auf dushanwegner.com.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. In seinem Buch „Relevante Strukturen“ erklärt Wegner, wie er ethische Vorhersagen trifft und warum Glück immer Ordnung braucht.