Als ich „Hunky Dory“ das erste Mal auflegte, hatte ich das Gefühl, seit den Beatles keine so gute und intelligent gemachte Popmusik mehr gehört zu haben. Das erste große Album David Bowies!
Als am 10. Januar 2016 die Nachricht von David Bowies Tod um die Welt ging, konnte die Bestürzung über sein unerwartetes Ableben nicht größer sein. Hatte er doch gerade mal zwei Tage zuvor, an seinem 69. Geburtstag, sein neues Album „Black Star“ herausgebracht. Und dann sollte er plötzlich tot sein? Das war schon ein Schocker. Mit einem Mal erschien sein finales Werk im Lichte eines Megastars, der im Angesicht des Todes seine letzten Songs geschrieben und seine letzten Gesangsparts eingesungen hat. Echt heftig! Plötzlich bekamen die Anspielungen in Stücken wie „Black Star“, „Lazarus“, „Dollar Days“ oder „I Can't Give Everything Away“ einen ganz neuen Sinn. Das ging – und geht mir immer noch – tief unter die Haut.
Aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil sich das Album wie eine Klammer um sein gesamtes musikalisches Lebenswerk legt, zählt „Black Star“ für mich zu Bowies besten Alben. Und das kryptische, gleichsam überirdisch schöne „Lazarus“ ist, für mein Dafürhalten, sein bester Song seit „Heroes“. Absolut grandios, wie eindringlich und dynamisch sich die Jazz-Musiker um den Saxophonisten Donny McCaslin da immer mehr in das Stück hineinsteigern und wie perfekt das von Produzenten-Legende Tony Visconti eingefangen wurde. Auf seinen letzten Promofotos ließ sich der einst so coole, fast schon emotionslos wirkende Superstar mit einem strahlenden Lachen auf seinem alles andere als krank erscheinenden Gesicht ablichten. Ganz so, als wollte er uns sagen: „Fürchtet euch nicht, der Tod ist gar nicht so schlimm!“ Es gab schon einmal eine Phase in Bowies Karriere, in der er sich als sympathischer, lachender, wenn auch skurriler Popsänger präsentierte. Und zwar gleich von Beginn seiner Karriere an bis in die Mitte der Siebzigerjahre, bevor er zu dem düster dreinblickenden, streng gekämmten und unnahbaren Gothic-Star mutierte, als den ihn wahrscheinlich die meisten in Erinnerung haben.
Seine erste Platte brachte der 1947 unter dem bürgerlichen Namen David Robert Jones geborene Londoner bereits im Jahr 1967 heraus. Das Album mit dem schlichten Titel „David Bowie“ erwies sich jedoch als Flop. Die verschrobene Mischung aus Folk-Pop und Music Hall war nicht Fisch und nicht Fleisch. Und schon bald wurde ihm klar, dass er sich etwas anderes einfallen lassen musste, wenn er im Musikgeschäft mitmischen wollte. Die neue Eingebung ließ nicht allzu lange auf sich warten: Stanley Kubricks Science-Fiction-Epos „2001: Odyssee im Weltraum“ von 1968 brachte ihn auf die Idee, einen Song über einen einsamen Astronauten zu schreiben, der verloren in seinem Raumschiff durchs Weltall schwebt. „Space Oddity“ von 1969 schaffte es schließlich in die britischen Top 10, und Major Tom aus dem Songtext sollte zu Bowies erstem Alter-Ego werden (das er gute zehn Jahre später in seiner Depro-Ballade „Ashes to Ashes“ von 1980 wiederauferstehen ließ). Während das meisterhaft komponierte „Space Oddity“ nach wie vor eines der Highlights in Bowies Repertoire darstellt, konnte der Rest des zweiten Albums, das man unter psychedelischem Folk-Rock einsortieren könnte und das zunächst erneut nur den Namen „David Bowie“ trug und später erst nach der erfolgreichen Hit-Single benannt wurde, weder überzeugen noch chartmäßig punkten. Und so war der unnachgiebige Brite wiederum gezwungen, sich neu erfinden zu müssen.
Diesmal probierte er es mit mädchenhaft langen blonden Haaren und in Frauenkleidern. So gestylt, räkelt er sich auf einer Chaiselongue auf dem Cover seiner dritten LP „The Man Who Sold the World“. Aber nicht nur optisch, sondern auch musikalisch präsentierte er sich in einem völlig neuen Gewand. Begleitet von einer richtigen Rockband, schlug er deutlich härtere Töne an, die unter dem Einfluss des durchschlagenden Erfolgs von Hardrock-Bands wie Led Zeppelin oder Black Sabbath standen. Allerdings waren auch diese Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt (erst durch die Coverversion der Grunge-Rocker von Nirvana im Rahmen ihres Live-Auftritts bei „MTV Unplugged in New York“ von 1993 wurde der Titelsong einem breiteren Publikum bekannt). Also, was tun? Zuerst muss eine neue Plattenfirma her. Am besten gleich eine amerikanische, da „The Man Who Sold the World“ in den Vereinigten Staaten noch etwas besser ankam als im United Kingdom. Das Image kann man im Prinzip erst mal beibehalten. Aber die Musik sollte vielleicht wieder eingängiger werden. Und so legte Bowie die Gitarre aus der Hand, setzte sich ans Klavier und begann Songs zu schreiben, die seine bisherigen musikalischen Ansätze nicht nur rekapitulierten, sondern auf ein ganz neues Level hoben.
Brillante Klavier-Ballade „Life On Mars?“
Auf seinem nächsten, vierten Album mit dem Titel „Hunky Dory“, das im Dezember 1971 auf dem US-amerikanischen Label RCA Records erschien, erklangen dann wieder Harmonien, die an das Kabarett der englischen Music Halls des frühen 20. Jahrhunderts erinnerten; nun aber mit poppigen Bandarrangements und fidelen Backgroundgesängen. Als ich „Hunky Dory“ das erste Mal auflegte, hatte ich das Gefühl, seit den Beatles keine so gute und intelligent gemachte Popmusik mehr gehört zu haben. Gleich der Opener „Changes“, in dem Bowie seine bisherigen Wandlungen thematisiert, überrascht mit einem Ohrwurm-Refrain, wie man ihn weder vorher noch nachher je wieder von ihm gehört hat. Allenfalls noch beim nachfolgenden „Oh! You Pretty Things“, das musikalisch nach demselben Muster gestrickt ist und textlich auf die Lehren des deutschen Dichterphilosophen Friedrich Nietzsche und des britischen Okkultisten Aleister Crowley rekurriert. Der Song wurde übrigens vor der Veröffentlichung von „Hunky Dory“ schon von Herman's Hermits' Peter Noone gesungen, der damit einen respektablen zwölften Platz in den britischen Charts erreichte; was Bowies bis dahin größter Erfolg als Songwriter nach „Space Oddity“ gewesen war.
Weiter geht es mit einer Art Intermezzo namens „Eight Line Poem“ – und dann kommt der Oberhammer: die geniale Klavier-Ballade „Life On Mars?“, für die Elton John wahrscheinlich beide Beine gegeben hätte, wenn sie nur ihm eingefallen wäre. Das Stück kann in jedem Songwriting-Workshop als Paradebeispiel herangezogen werden, wie man kompositorisch, von einer harmonisch ausgeglichenen Strophe kommend, eine sich zuspitzende Spannung in der Bridge aufbaut, die sich dann geradezu kathartisch im Refrain entlädt. Brillant! Nicht umsonst wurde es in einer Leserumfrage des britischen Digital Spy aus dem Jahr 2012 zu Bowies bestem Song gewählt. Nach seinem Tode avancierte „Life On Mars?“ nochmal zu einem internationalen Charterfolg und entwickelte sich zu einem seiner meistinterpretierten Stücke.
Die Idee für „Life On Mars?“ entstand, Bowie zufolge, aufgrund von Claude François' „Comme d'habitude“, für das er einen englischen Text verfasst hatte. Paul Anka hatte dieselbe Idee, war jedoch schneller, sicherte sich die Veröffentlichungsrechte und schrieb dazu einen eigenen Text mit dem Titel „My Way“, der dann durch die Version von Frank Sinatra von 1969 weltberühmt wurde. „Life On Mars?“ war zunächst als Parodie darauf gedacht, entwickelte sich dann aber immer mehr zu einer eigenständigen Ballade über ein Mädchen, das sich im Kino Filme anschaut, um seinem realen Leben zu entfliehen. Das schöne Klavier, wie die allermeisten Klavierparts auf „Hunky Dory“, hat übrigens der virtuose Pianist und Keyboarder Rick Wakeman eingespielt, der auch schon das Mellotron bei „Space Oddity“ bedient hatte. In seiner Autobiographie erinnert sich Wakeman, dass er in seinem ganzen Leben noch nie so viele großartige Songs am Stück gehört habe wie beim Vortreffen zu den Aufnahmesessions für „Hunky Dory“.
Aufstieg zur prägenden Stil-Ikone des Glamrock
Im selben Jahr hatte er auch schon das Piano und die Zwischenspiele bei „Morning Has Broken“ von Cat Stevens komponiert und gespielt sowie das Klavier bei „Get It On“ von T. Rex und die Hammond-Orgel bei diversen Stücken auf Elton Johns „Madman Across The Water“-Album. Bowie hätte ihn gerne als festes Mitglied für seine Begleitband gehabt, was Wakeman aber dankend ablehnte und lieber bei den Prog-Rockern von Yes einstieg, wo er sich besser entfalten zu können glaubte (was man eindrucksvoll auf seinem Debüt bei der vierten Yes-Scheibe „Fragile“ vom November 1971 nachhören kann). Die tollen Streicherarrangements stammen wiederum von Gitarrist Mick Ronson, der seit dem vorigen Album fester Bestandteil von Bowies Begleitband war, die schon bald auf den Namen The Spiders From Mars getauft werden sollte. Dazu gehörte auch Schlagzeuger Mick Woodmansey und Bassist Trevor Bolder mit dem beeindruckenden Backenbart, der erstmals auf „Hunky Dory“ mit von der Partie war (und einige Jahre später bei Uriah Heep anheuerte).
Weitere Glanznummern auf „Hunky Dory“ – was soviel wie „in Ordnung“ oder „alles gut“ bedeutet – sind der Song „Kooks“ für Bowies kleinen Sohn Duncan und das gedankenversunkene „Quicksand“, dessen Text, nach eigenen Aussagen, vom Buddhismus, der Kabbala und der Philosophie Nietzsches inspiriert ist und in dem erneut Crowley sowie die Namen von Himmler, Churchill und dem spanischen Doppelagenten Juan Pujol Garcia alias Garbo auftauchen. Was uns der Künstler aber wirklich damit sagen wollte, blieb – wie so oft bei Bowie – sein Geheimnis. Auf jeden Fall endet damit die grandiose erste Seite. Auf der zweiten huldigt er dann in verschiedenen Stücken einigen Künstlerkollegen, die ihn maßgeblich beeinflusst haben, wie Bob Dylan und Andy Warhol sowie die New Yorker Avantgarde-Rockband Velvet Underground in dem Song „Queen Bitch“. Und mit der traumverlorenen Folk-Ballade „The Bewlay Brothers“ beschließt Bowie sodann sein erstes großes Album. Allerdings erhielt auch „Hunky Dory“ nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient gehabt hätte. Der fleißige und beharrliche Engländer ließ sich davon aber nicht beirren und bereitete schon seinen nächsten großen Schritt vor: das Glamrock-Epos „The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“, das ihm 1972 den langersehnten Durchbruch bescheren sollte.
Mit dem Erfolg von „Ziggy Stardust“ stieg auch das Interesse an Bowies vorhergehenden Alben, was sich insbesondere auf die Verkaufszahlen von „Hunky Dory“ auswirkte, das sich in den britischen Album-Charts des Jahres 1972 mit Platz 3 sogar zwei Plätze vor „Ziggy Stardust“ positionieren konnte. Im Jahr darauf wurde auch „Life On Mars?“ nochmal als Single veröffentlicht und erreichte ebenfalls den dritten Platz der UK-Single-Charts. Seine drei nachfolgenden Alben landeten im Vereinigten Königreich allesamt auf Platz 1. Parallel dazu wurden seine Outfits und seine Auftritte immer schriller, und Bowie stieg zu einer der prägenden Stil-Ikonen des Glamrock auf. Ab Mitte der Siebzigerjahre, nach einem kurzen Ausflug in die Soulmusic mit dem Album „Young Americans“, änderte das Chamäleon der Rockmusik erneut sein Image und wurde mit dem Album „Station to Station“ zu dem strengen, nie lächelnden Thin White Duke, der schon aussah wie der androgyne Außerirdische, den er in dem Film „Der Mann, der vom Himmel fiel“ von 1976 so glaubhaft verkörpern sollte. Wir werden zu gegebener Zeit definitiv wieder auf ihn zurückkommen. Denn nur ganz wenige Künstler haben es geschafft, sich so oft zu wandeln und trotzdem ganz oben zu bleiben und die Musikwelt so nachhaltig zu beeinflussen wie der vielgestaltige und zugleich einzigartige David Bowie.
YouTube-Link zur Music-Hall-Popperle „Changes“
YouTube-Link zum Geniestreich „Life On Mars?“
YouTube-Link zu einer Live-Aufnahme von „Oh! You Pretty Things“ im BBC aus dem Jahr 1972 und einem Bowie, der optisch schon auf dem Weg zu seinem neuen Alter Ego Ziggy Stardust ist.