Susanne Baumstark / 08.01.2020 / 15:00 / Foto: Carl Spitzweg / 2 / Seite ausdrucken

„…daß die Regierungen über den Parteyen erhaben stehen“

Man könnte fast Sehnsucht nach dem 19. Jahrhundert bekommen, was das Verständnis von „Regierung“ betrifft – zumindest, was die 1824 erschienenen „Geheimen Papiere“ von Friedrich Ludwig Lindner*, Arzt und Publizist, anbelangt. Ihm zufolge sind Regierungen nicht selbst zur Partei geworden, sie gehören dem Ganzen. Und zum größten Troste gereiche: „…daß die Regierungen über den Parteyen erhaben stehen, und Jedem eine sichere Zuflucht gewähren, der gegen Heuchler aller Art, gegen Obscuranten wie gegen Anarchisten, sich nach mächtigem Schutz umsieht. Die deutschen Regierungen wenigstens können nicht in den Verdacht kommen, daß sie den Geist unterdrücken, und eben so wenig, daß sie die Anarchie begünstigen wollen.“

Vermutlich lag es außerhalb der Fantasie des Autors dieser Zeilen, dass sich 200 Jahre später in „deutschen Regierungen“ nahezu Gegenteiliges abspielt. Was Lindner desweiteren zur Natur der Parteikämpfe schrieb, entspricht geradewegs dem Kampf der heutigen „Partei“ Regierung und ihrer medialen Mitspieler gegen oppositionell eingestellte Bürger: Gemeinplätzen werden andere Gemeinplätze entgegengestellt und bei diesen „Klopfechtereien“ schien sich „alle Bewegung im Staatsleben auf Controverse zweier Doktrinen“ zu beschränken. „Jede Partei bestand jedoch nur durch den Widerstand der andern … es waren Skelette, durch den Wind gegeneinander geschleudert … Nichts hat mich mehr gewundert, als daß ernsthafte Leute an solchen Gaukeleyen Theil nahmen, und sich zu Mitspielern hergeben mochten.“

Die Fabulanten alleine lassen

Analog könnte das heute bedeuten, sich ab sofort nicht mehr auf all die Provokationen und öffentlich-rechtliche Stigmatisierungen einzulassen; einfach nicht mehr darauf reagieren und dadurch in den Vordergrund rücken, dass die gut dotierten Verantwortlichen vielfach Arbeitsverweigerung betreiben, dass sie weder willens noch fähig sind, Lösungen für gesellschaftliche Dringlichkeiten zu präsentieren und durchzusetzen. Sobald sie nichts mehr „zu bekämpfen finden, hat es mit ihrer Thätigkeit ein Ende; denn sie haben sonst nichts gelernt“, so Lindner zum Parteienkampf. Im Fall der gewählten Regierung kommt es freilich nicht deswegen zum Ende.

Eine Wirkung könnte sich dennoch entfalten; schwer vorstellbar jedenfalls, noch ein weiteres Jahr mit diesem miesen Angriff-Verteidigungsspiel zu vergeuden. Alternative Medien könnten derweil rein sachlich-inhaltlich, also ohne jede emotionale Empörung beschreiben, wo hierzulande dringender Handlungsbedarf besteht oder über politische Fortschritte in anderen Ländern berichten und die Fabulanten allerorten mit ihren unproduktiven wie desintegrativen Äußerungen alleine zurücklassen; vielleicht auch nur mal experimentell einen Monat lang, das aber konsequent. Für Zwecke der späteren Geschichtsschreibung wollen die Provokationen und Stigmatisierungen von höchst offiziellen Stellen und ihrer Zuarbeiter schon dokumentiert sein – unkommentiert.

*Es wurde zwischenzeitlich bezweifelt, dass die „Geheimen Papiere“ Friedrich Ludwig Lindner zuzuschreiben sind. Später rückte man von den Zweifeln ab, es gibt aber nach wie vor Gegenmeinungen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Susanne Baumstarks Blog Luftwurzel.

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Leserpost

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P. F. Hilker / 08.01.2020

Lindners Worte treffen in der Tat des Pudel’s Kern. Da die heutige Presse ” ja kaum noch was zu bekämpfen findet, dürfte es ja bald mit ihrer Tätigkeit ein Ende haben. Denn sie haben ja sonst nichts gelernt”. Fürwahr.

Jörg Themlitz / 08.01.2020

“Die deutschen Regierungen wenigstens können nicht in den Verdacht kommen, daß sie den Geist unterdrücken, ...”;  Derartige Aussagen waren dem damaligen freiheitlichen, nachnapoleonischen Zeitgeist geschuldet. Der doch sehr schnell wieder eingefangen wurde, wie unter vielen anderen, das 1833 gefällte preußische Todesurteil (aufrührerische Reden u. damit Majestätsbeleidigung) gegen den Studenten Fritz Reuter belegt. semper idem

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