Archi W. Bechlenberg / 21.05.2017 / 06:10 / Foto: Tomaschoff / 3 / Seite ausdrucken

Das Anti-Depressivum zum Sonntag: Der Kongress tanzt

Eine irre Woche liegt hinter uns, und ich kann nur hoffen, dass zwischen dem Freitag, an dem ich dies hier zu Papier bringe, und dem Sonntag, an dem Sie es lesen, nicht noch mehr dazu kommt. Möglich ist heutzutage alles; oder hätten Sie noch vor wenigen Tagen für denkbar gehalten, dass der Stuhl des sympathischen SPD-Vize Ralf Stegner wackeln könnte? Genau das ist gerade geschehen. Nicht vom politischen Gegner, sondern aus den Reihen seiner SPD kommen Rücktrittsforderungen, und sogar ein ansonsten jeglicher kritischen Berichterstattung völlig unverdächtiges Blatt wie der Focus spricht in einer Überschrift vom „Twitter-Pöbler“ und meint damit nicht etwa den, den gleich alle im Visier haben, sondern niemand anderen als Stegner! Man kann es nicht fassen, in welcher Geschwindigkeit jemandes Stern sinken kann.

Dabei ist der Mann wertvoller als Gold, da können Sie jeden Nicht-SPDler fragen! Ich habe jedenfalls sogleich eine Initiative auf Facebook gegründet: „NEIN zu Rücktrittsforderungen gegen Ralle Stegner!“, eine Initiative, der bereits zahlreiche meiner Freunde dort folgen und sie weiter hinaus in die Republik tragen. Zeigen wir uns solidarisch, bilden wir endlose Gelichterketten statt hämischer Gelächterketten und schmettern wie aus einer Kehle: „Der Ralle, der Ralle, wir lieben ihn doch alle!“ Denn mal im Ernst: hat er uns nicht köstlich amüsiert, als er Facebook-COO Sheryl Sandberg mit Beate Zschäpe verglich? Auf so etwas muss man doch erst einmal kommen!

Und was hätten Hölderlin und Mörike wohl für ein Poem wie dieses gegeben: „Merkel schweigt und Horsti grollt, doch der Schulzzug weiter rollt. Nach Berlin in voller Fahrt #jetztistschulz – der Mann mit Bart.“  Keine Frage, er würde uns wirklich fehlen. Können Sie sich etwa eine Talkshow ohne Ralf Stegner vorstellen, ein kontroverses Gespräch, in dem er nicht durch seine moderate, ruhige, sachliche und ganz dem Argument verpflichtete Art Garant dafür ist, dass die Diskussion inhaltlich und sprachlich nicht aus der Kurve … eben!

Für Sauberkeit, Ordnung und Frische im Internet

Keiner derartigen Solidaritätsbekundungen bedarf sein Parteifreund Heiko Maas; der sitzt fest im Sattel und setzt sich mit aller zur Verfügung stehenden Verve für die Bekämpfung der Unterdrückung der Meinungsfreiheit sowie für Sauberkeit, Ordnung und Frische im Internet ein, und dazu ist ihm jedes gesetzliche Mittel recht. Und da er sie nicht alle beisammen hat (die gesetzlichen Mittel, meine ich), schafft er sich gerade das, was noch fehlt. Vor allem so genannten Hassbeiträgen im Internet gilt sein Kampf, also dem, was unverantwortliche Elemente in Onlinemedien wie Facebook oder Twitter ablaichen.

Man wird mit dem „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“  zwar nicht einem Logorrhoeiker wie dem noch amtierenden POTUS das Trumpwerk legen können, aber der ist ja nur die Spitze des Hassbergs. Richtig zwar: Heiko Maas wird Trump (jedenfalls vorläufig) weiter hinnehmen müssen, aber es gibt ja im Sprengel des deutschen Justizministers auch sonst reichlich Leute, denen er zeigen kann, wie in Deutschland Meinungsfreiheit funktioniert. Seine eingebrachte Gesetzesmaßnahme kommt leider sehr spät, eigentlich um Jahrzehnte, denn Hass im Internet ist keine neue Erscheinung. Ich erinnere mich nur noch allzu gut an die ersten Hasspostings im Internet, die ich zu lesen bekam, und das ist mehr als 20 Jahre her. 20 Jahre, in denen nichts dagegen unternommen wurde, dass unsere Bürger sich immer mehr verfeindeten.

Ich musste als Beobachter voller Ekel oft genug mitverfolgen, welche Ungeheuerlichkeiten in der Anonymität von Foren und Diskussionsgruppen geäußert werden. Da wurde mit schlimmsten Attacken auf unterstem menschlichen Niveau gegen Andersgläubige gehetzt und gepöbelt. Wer an Apple glaubte, ließ an Windows kein gutes Haar, und umgekehrt genau so. „Du arbeitest als Grafiker mit einem IBM-Rechner statt mit einem Mac? Abschaum, du!“ Und als sei das nicht schon schlimm genug, kamen dann noch die Jünger des Heiligen Pinguins dazu und nannten jeden, der nicht mit Linux arbeitete … ja, schon damals hätte massivst eingeschritten werden müssen. Aber belassen wir es bei diesen wenigen Beispielen. Wahre Abgründe täten sich in der Rückschau auf.

So etwas hatte es zuvor nie gegeben. Bis zur Eröffnung des Internets waren Menschen stets höflich und tolerant miteinander umgegangen, und selbst bei ernsthaften Meinungsverschiedenheiten und Lösungsversuchen weltpolitisch wichtiger Gegebenheiten setzte man sich gesittet zusammen und behielt Contenance. Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht: der Wiener Kongress, an dem 8 Signatarstaaten des Vertrags von Paris, 33 Fürsten, Freie Städte und souveräne Staaten Deutschlands, 12 nichtdeutsche souveräne oder früher souveräne Staaten, 28 Delegationen mit partikularen Interessen sowie 67 Vertreter des mediatisierten Reichsadel teilnahmen, dauerte fast ein ganzes Jahr, und obwohl es da um etwas mehr ging als um die Frage, ob Samsung oder Apple die besseren Telefone baut, vertrug man sich vorbildlich. Ich möchte wetten, dass damals in Wien niemals Wörter wie „Vollpfosten, Sackgesicht, Hackfresse oder Aber-Nazi“ gefallen sind, da konnten die Gegensätze noch so unüberbrückbar scheinen.

Es gibt natürlich auch guten, korrekten Hass

Mir empfahl einmal vor etlichen Jahren – da nahm ich noch an solchen Diskussionen teil – ein  Fahrradfahrer (zudem ein Vegaganer), ich möge mich, da ich fürs Autofahren argumentierte, doch in der Garage in meine Karre setzen, das Tor schließen und den Motor laufen lassen. Nicht etwa smiliend, sondern ganz und gar ernsthaft aus dem tiefsten Abgrund seiner säuberlichen Seele heraus. Unmöglich, sich vorstellen, dass einst eidgenössische Diplomaten in Wien so etwas dem, sagen wir mal, russischen Delegierten Karl Robert Graf von Nesselrode oder dem sächsischen Vertreter Friedrich Albrecht von der Schulenburg vorgeschlagen hätten, nur weil die Schweiz das Veltlin, Chiavenna, Bormio sowie Mülhausen im Elsass aufgeben sollte! Da wäre aber was los gewesen!

Damals waren die Gegenüber nämlich noch satisfaktionsfähig. Heute müssen Sie nur etwas für/gegen Homöopathie, Fleischverzehr, Chemtrails, Ufosichtungen oder das Rauchen von sich geben, von ertrinkenden Eisbären, gekeulten Giraffen und Energieversorgung gar nicht zu reden, und schon geht es verbal voll zur Sache, und das mit ganzem Einsatz menschlicher Fantasie. Ich erinnere mich, dass jemand vorschlug, man möge einer Künstlerin, in deren Bildern Zigaretten und Zigarren vorkamen, „Kippen in alle Körperöffnungen einführen, selbstverständlich mit der glühenden Seite voran“ und in einem anderen Schätzchen aus meinem Screenshot-Archiv regt der Schreiber an, er plädiere dafür, „jedem Raucher eine Sonde in den Arsch einzubauen, der bei den geringsten Anzeichen von Rauch einen Stromschlag von 10.000 Volt erzeugt“. Goldig, nicht?

Hätte es 1814 schon das Internet und – das wäre natürlich die Grundvoraussetzung gewesen – ein derart pöbeliges Volk (auch „die Netze“ genannt) wie heute gegeben, es wäre innerhalb kürzester Zeit in Wien zu realen Gemetzeln gekommen, wie sie auch Napoléon nicht besser hinbekommen hätte. Und wenn davon noch der Türke erfahren hätte, der ohnehin ja immer schon Wien als lohnenswerte Zwischenetappe auf dem Weg zur Eroberung des Abendlandes … aber ich will nicht abschweifen, das ist wieder eine andere Geschichte, und die hat nichts mit Hassausbrüchen über das musikalische Wirken und Wimmern von Xavier Naidoo, Justin Bieber oder Dustin Bisam zu tun.

Dem Hass soll maasstabsgerecht das Wasser abgegraben werden. Genauer gesagt: dem falschen Hass. Es gibt natürlich auch guten, korrekten Hass. Was falscher Hass ist und was nicht, wird nach Heiko Maas' Gesetz genau unterschieden und anschließend überwacht. Die zur Durchsetzung des Gesetzes notwendige Infrastruktur wie die Kahane-Behörde oder dieser andere Spitzelclub, dessen Name ich mir nicht merken kann, irgendwas mit Coyoten, Concorde oder Cornichon, besteht bereits, sie warten auf den Startschuss und üben bis dahin ein wenig anhand missbeliebiger Opfer wie der AfD Kandidatin, die mal bei rotem Licht gearbeitet hat; schon damit keine Langeweile aufkommt, ehe das Gesetz in einiger Zeit in Kraft tritt.

Vielleicht irgendwas mit mikronesischen Sprachen

Kraft, das vorletzte Stichwort für heute. Die frühere Ministerpräsidentin von NRW war fassungslos nach der Niederlage vom letzten Sonntag. Wieso dieser Absturz und dieser Vertrauensverlust, wird sie sich immer und immer wieder gefragt haben. Ich habe doch nie etwas getan! Ungewissen Zeiten entgegen geht NRW nun entgegen, auch gesundheitlich. Wie wird es zukünftig mit der Homöopathie weiter gehen, da Ex-Ministerin Steffens ihre persönliche Überzeugung von deren Wirksamkeit nun nicht weiter durchsetzen kann; statt dessen muss sie sich jetzt für zwei, drei Semester ein neues Studienfach suchen, vielleicht irgendwas mit mikronesischen Sprachen oder auch mit  Logik; dafür gibt es in Leipzig einen eigenen Studiengang, wenn auch nur mit einer handvoll Plätzen; bei einer eventuellen Bewerbung dort würde ich im Lebenslauf den Komplex „Homöopathie“ vielleicht besser nicht erwähnen.

Das allerletzte Wort zum Sonntag muss dem Kandidaten der Herzen, Martin Schulz, gewidmet sein. Der hat ja seit seiner triumphalen Wahl zum Alleinherrscher über die SPD drei bittere Niederlagen hinnehmen müssen, Ralf Stegner stets hinter sich. (Haben Sie dessen Mimik am letzten Sonntagabend gesehen? So schmerzverzerrte Mundwinkel hat es seit Waterloo nicht mehr gegeben.) Martin Schulz war nicht weniger angeschlagen und rang sichtbar nach Worten. In Würselen überlegt man schon, wie man auf eine durchaus denkbare Job-Anfrage zwecks Bürgermeisteramt oder Bademeister reagieren soll, von Brüssel ganz zu schweigen, und in der Berliner SPD Zentrale regiert nun der Blanke Hans, wie sonst nur auf einer Hallig bei Jahrhundertsturmflut. Wer traut sich denn noch, lauthals „Martin, Martin!“ zu rufen, wo das Wasser  bis Oberkante Unterlippe steht? Was kann Schulz noch retten, was die Partei? Vielleicht kann sie sich ja, in Abwandlung eines Spotts von Kurt Tucholsky, zukünftig „Hier können Familien halal kochen“ nennen.

Ich muss dazu etwas anmerken. Als die SPD Martin Schulz Anfang 2017 aus der Zipfelmütze zog, war mein erster Gedanke: Die übergehen gleich „Projekt 18“ und wollen ohne weitere Verzögerung die 5 Prozent-Hürde erreichen. Mit einer 4 vor dem Komma. Als der Schulzzug dann aber nach Abwurf einer Altlast innerhalb eines Tages von 0 auf über 30 in Fahrt kam und die SPD tatsächlich Schwung bekam, habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Sollte ich mit meiner Vermutung, das könne nicht ernst gemeint sein, wirklich so daneben liegen? Und wenn ich da daneben lag, wo vielleicht sonst noch? Ich war ehrlich erschrocken, das bis dahin unerschütterliche Vertrauen in meine Weltsicht geriet ins Wanken. Aber jetzt bin ich wieder mit mir im Reinen.

Link und Filmtipp: Der Kongreß tanzt (1955), mit Rudolf Prack, Hans Moser und Gunther Philipp

 

Foto: Tomaschoff

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Felix G. Bernd / 21.05.2017

Eine geniale Analyse die mir den Sonntag versüßt. Lieber Herr Bechlenberg Humor ist das beste Mittel gegen Depression. Danke dafür.

Thomas Dornheck / 21.05.2017

Es ist ein Fest, solche Texte zu lesen!! Er war lang, aber von mir aus hätte er noch doppelt so lang sein dürfen! Ich habe mich gekugelt vor Lachen. Danke, danke, danke :-)

Heiko Stadler / 21.05.2017

Ein herrlicher Beitrag, Herr Blechenberg! Ihre Initiative “NEIN zu Rücktrittsforderungen gegen Ralle Stegner!” werde ich sofort unterstützen.

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