Rainer Bonhorst / 20.08.2019 / 16:30 / Foto: Elekes Andor / 15 / Seite ausdrucken

Das hohe Me-too

In Salzburg, wo man ein Herz hat und die Musik liebt, darf Placido Domingo noch auftreten. Ein Gnadenakt für den Sänger und Dirigenten, um den sich die größten Häuser Jahrzehnte lang gerissen haben. Anderswo wurde er gnadenlos ausgeladen, gleich zweimal in Amerika. Wer, wie jetzt auch Domingo, in den Strudel der Me-too-Bewegung gerät, darf auf das uralte Prinzip der Unschuldsvermutung, solange die Missetaten nicht bewiesen sind, nicht mehr rechnen. Neue Zeiten, neue Unsitten.

Apropos neue Zeiten, neue Unsitten: Ich weiß nicht, wie nah der Gesangs-Star der einen oder anderen Künstlerin tatsächlich getreten ist. Könnte er wie im „Bettelstudent“ singen: „Ach ich hab sie ja nur auf die Schulter geküsst“? Oder ging er wie in der Operette „Paganini“ etwas weiter: „Gern hab ich die Frau'n geküsst. Hab nicht gefragt, ob es gestattet ist“? Oder ging er noch weiter, wie in der gleichen Arie: „Ich sagte mir, nimm sie dir. Denn dazu sind sie hier.“ Ja, so dichtete man noch in der guten beziehungsweise bösen alten Zeit. Und ja, auch Placido Domingo hat die heute politisch höchst unkorrekten Zeilen gesungen.

Auch im wirklichen Leben haben sich die Sitten und Grenzen solcher Annäherungen im Laufe der Zeit  dramatisch verändert. Wir sind heute auf dem Weg in einen Zustand, dass der Flirtende der zu Beflirtenden vor dem Flirtvorgang ein juristisch wasserdichtes Schriftstück zur Unterschrift vorlegen und das Dokument sorgsam aufbewahren sollte. Wer weiß, was in künftigen Jahrzehnten auf den einstmals Flirtenden von Seiten der Beflirteten zukommt.

Als alter weißer Mann (AWM) erinnere ich mich an etwas andere Zeiten. An Zeiten, in  denen erwartet wurde, dass der Mann (oder der Junge) den ersten Schritt wagt. Auch ist es vorgekommen, dass sich die Frau (oder das Mädchen) ein wenig zierte. Ein zweiter Versuch konnte die zunächst auf ihren keuschen Ruf Bedachte vielleicht doch noch überzeugen. Aber mit ein wenig Signalkunde konnte der Versucher in diesem Spiel auch ein klares Nein erkennen. Und die meisten Frauen (oder Mädchen) wussten, wie man sich eines Signalverweigerers, also eines zu aufdringlichen Verehrers erwehrt. 

Das Spiel zwischen Mann und Frau wurde lockerer

Das war noch vor den wilden Siebzigern, in denen der junge Mann mit Bart und Langhaar fröhlich skandieren konnte: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Auch viele Frauen atmeten damals erleichtert auf und befreiten sich aus dem einschnürenden Moralkorsett der fünfziger Jahre. Das Spiel zwischen Mann und Frau (oder zwischen Junge und Mädchen) wurde lockerer. Aber auch in diesen libidinösen Zeiten, galten klare Ja- und Nein-Signale, ob in Wort oder Geste, im Zweifel mit beidem.

Problematisch war es zu jeder Zeit, wenn Männer mit Macht diese nutzten, um zu erreichen, was eigentlich nicht erwünscht war. Aber selbst in dieser prekären Situation, haben sich die Grenzen dessen, was als erträglich galt und was nicht, verschoben. Was in lockereren Zeiten vielleicht gerade noch akzeptabel war, gehört heute klar ins Feld des Unzulässigen. 

Leider misst man nun, in Zeiten der wieder enger geschnürten Moralkorsette, die Vorgänge von damals mit dem Maßstab von heute. Jeder Historiker aber weiß, dass die Menschen und ihre Taten aus ihrer Zeit heraus betrachtet werden sollten, ehe man ein Urteil fällt. In der Juristerei gilt das Prinzip, dass ein neues Gesetz nicht rückwirkend angewendet werden sollte. Ja, es gibt sogar Verjährungsfristen für Missetaten. Das Prinzip der Unschuldsvermutung habe ich eingangs schon erwähnt.

All diese Grundsätze werden im Me-too-Kampf außer Kraft gesetzt. Die Strafe folgt vor dem Beweis. Verjährungsfristen sind abgeschafft, auch für Missetaten, die nicht in die Kategorie der schweren Vergehen gehören. Selbst nach langjährigem verdruckten Schweigen kann noch strafbewehrt zugeschlagen werden. Strafen, die auf Bewährung ausgesetzt werden, wie vor Gericht durchaus üblich, kennt das Me-too-Tribunal überhaupt nicht. Der Versuch, eine Tat aus dem Geiste ihrer Zeit heraus zu verstehen und dies eventuell als Anlass für mildernde Umstände zu nehmen, wird gar nicht erst unternommen.

Sie stellen mit Vorliebe Prominente an den Pranger

Die späte Rache wird kalt genossen. Notorischen und unbelehrbaren Tyrannen der Besetzungs-Couch wie Harvey Weinstein geschieht das auch nach meinem Gefühl ganz recht. Wobei auch mein Gefühl allerdings das Prinzip der Unschuldsvermutung missachtet. Aber wie sehr Placido Domingo seine Star-Position gegenüber den neun anklagenden Frauen auch ausgenutzt haben mag: Ist er wirklich ein Harvey Weinstein? Also ein so schlimmer Finger, dass ihn nach all den Jahren des Schweigens die Höchststrafe, also die berufliche Ächtung ereilen muss?

Oder bin ich ihm nur wohlgesonnen, weil er so schön singt? Und weil ich ihn weiter dirigieren sehen will? Weil ich in ihm womöglich mehr sehe als einen Grabscher? Nämlich einen großen Künstler. Vielleicht.  

Sicher, man soll nicht mit zweierlei Maß messen. Grabscher ist Grabscher und Küsser ist Küsser, auch wenn es nur die Schulter ist und erst recht, wenn er nicht gefragt hat, ob es gestattet ist. Vor dem Gesetz sind Großkünstler und Nachtwächter gleich.

Aber sind sie es auch vor dem Me-too-Tribunal? Mir scheint, dass diese Richterinnen selber mit zweierlei Maß zu messen. Sie stellen mit Vorliebe Prominente an den Pranger. Das lohnt sich medial. Und auch sonst. Normalos haben das Glück der Anonymität. Im Kampf der Geschlechter geht es nun mal, wie in jedem Krieg, um Wirkungstreffer. Also vorzugsweise um öffentlichkeitswirksame Abschüsse. 

So einer hat nun auch den Kunst-Promi Placido Domingo erwischt. Mal sehen, ob er unter dem Beifall des streng gewordenen Publikums zu Boden geht oder ob ihm hier und da noch Musik-Asyl gewährt wird.     

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Roland Stolla-Besta / 20.08.2019

Seit diese MeToo-Chose am Laufen ist, zittere auch ich um meinen Ruf, habe ich doch, damals 6- oder 7-jährig, in unserer häuslichen Waschküche (die gab es in den 50ern noch) eine Klassenkameradin aus der Nachbarschaft heftig geküßt. Vielleicht aber hat Marina D. mich längst schon vergessen, was mir andererseits wenig schmeicheln würde.

Klaus Reichert / 20.08.2019

Eine Dame in mittleren Jahren berichtet (Tagesschau), wie Domingo ihr bis auf eine Handbreit nahe kam und ihr irgendetwas noch nicht einmal wirklich Anzügliches zugeflüstert hat. Mehr ist offenbar nicht passiert. Sie kämpft dabei mit den Tränen. Im Jahre 2019 - das Ganze geschah vor 30 Jahren! Da braucht es nicht viel Phantasie um zu erkennen, dass hier eine Kampagne losgetreten wurde, vielleicht von Anwälten, die auf einen außergerichtlichen Vergleich mit entsprechenden Abfindungen seitens des steinreichen Opernstars hoffen.

Michael Sachs / 20.08.2019

Ich unterstelle jetzt mal einfach das alle diese Frauen genau das wollten was er getan haben, denn was gibt es größeres als von einem Weltstar bezirzt zu werden, jetzt nach langer Zeit wollen selbige Damen offiziell von ihm begrapscht worden sein damit es die ganze Welt erfährt, warum haben sie nach dem Vorfall nicht sofort Strafanzeige erstattet, vermutlich wären sie damals ausgelacht worden, erst jetzt, nachdem der Moralismus die Macht gegen die weißen bösen Männer übernommen hat kommt das Ganze zum tragen. Komischerweise sind häufig genau diese Frauen die die schlimmsten Männer herzlich einladen, die bekanntermaßen erst gar nicht flirten sondern sofort zustechen wenn sie nicht erhört werde, der Islam serviert den schlimmsten Machomann aber der bleibt von der Mee too Bewegung unbetroffen, häufig werden diese Männer ganz besonders beschützt u. mit Bewährung entlassen womit sie ermuntert werden. Für mich sind diese Frauen hochgradig Schizophren u. haben ein gespaltenes Bewusstsein das scheinbar vollkommen außer Kontrolle geraten ist, Gespräch mit diesen Personen sind unmöglich, sie verlassen wortlos beleidigt die Stelle des Gespräches, da Sie wissen daß sie dazu keine Antwort parat haben.

Frank Stricker / 20.08.2019

Placido Domingo hat nur eine Chance rehabillitiert zu werden , wenn er als “alter , weißer Mann”  den Othello spielt und singt. Rossinis Othello hieß im Original übrigens , “Othello , der Mohr von Venedig”, das ist im Zeitalter von #metoo# und sonstigen Hyperventilierern auch nicht mehr sagbar.

Volker Kleinophorst / 20.08.2019

Grabscher ist nicht Grabscher, Küsser nicht Küsser und Schubser nicht gleich Schubser. Ich weine jeden Tag, was Frauen in unserer Gesellschaft erleiden mussten/ müssen. Aber Islam und die Gewaltkultur Afrikas wird es schon richten und den Frauen endlich das geben, was sie verdienen. (Enthält eventuell Spuren von Ironie)

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