Unbestechliche Menschenrechtshüter wollen sich – bestätigt von der globalen Intifada-Stimmung – nicht mehr zurückhalten und endlich die deutsche Meinung über Israel zur israelischen Staatsräson erklären.
Die seit der Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel gebräuchliche Beteuerung, dass die Sicherheit Israels als „deutsche Staatsräson“ unverhandelbar sei, sorgt mehr denn je für Unmut. Unbestechliche Menschenrechtshüter wollen sich – bestätigt von der globalen Intifada-Stimmung – nicht mehr zurückhalten und endlich auch umgekehrt die deutsche Meinung über Israel zur israelischen Staatsräson erklären, an der sich der Staat der Juden künftig messen lassen müsse.
Aus diesem Grund ging die grüne Bundestagsabgeordnete Lamya Kaddor, die üblicherweise damit beschäftigt ist, mehr Islam gegen den Islamismus zu fordern, am 12. August 2024 in der Sendung Hart aber fair in die Offensive: „Die Sicherheit und die Existenz des Staates Israel ist unsere Staatsräson, und die gilt dauerhaft und immer. Aber sie gilt nicht für jede israelische Regierung. Das ist ein großer Unterschied, und das muss man nochmal deutlich sagen.“
Bisher galt, dass Deutschland wegen seiner „besonderen Verantwortung“ unabhängig vom politischen Tagesgeschäft für die Sicherheitsinteressen Israels einzustehen habe. Doch Israel soll endlich nach europäischen, also deutschen, Regeln spielen: friedlich, pluralistisch und gegen rechts. Jedoch brauchte es keinen grünen Talkshowhampel, um das aufarbeitungsweltmeisterliche Staatsversprechen zu desavouieren. Ein Staat, dem es nicht einmal gelingt, den Antisemiten im eigenen Land Paroli zu bieten, sollte nicht vortäuschen, er könnte im Nahen Osten Entscheidendes für die Sicherheit Israels tun. Symptomatisch für die gegenwärtige deutsche Politik ist dennoch, dass sie in kumpelhafter Belehrungspose zur Schwächung Israels beiträgt.
Den Krieg der Fernsehbilder hat die Hamas nach dem 7. Oktober gewonnen, weil die westlichen Medien und Regierungen die Propaganda der Djihadisten reproduzieren. Zur Entpolitisierung und Verharmlosung des antisemitischen Vernichtungsfeldzuges der Palästinenser trägt aber auch eine grüne Außenministerin bei, die Anfang September bereits zum elften Mal in den Nahen Osten reiste. Nachdem sich Annalena Baerbock unmittelbar nach den Massakern auf israelischem Boden erschrocken und solidarisch zeigte, wechselte sie schon wenige Wochen später in den routinierten Modus der Äquidistanz.
Angesichts der Bilder von verletzten Kindern in den Trümmern Gazas, die ohne jede Quellenkritik als Beweislast gegen Israel gesetzt sind, fühle sie sich nicht mehr „nur als Politikerin, sondern auch als Mutter“ betroffen (1). Minutiöse Protokolle der eigenen Gemütslage gelten als Ausweis politischer Authentizität, weswegen es auch nicht negativ auffällt, wenn eine ranghohe Repräsentantin des Staates, statt in ihrer Rolle zu bleiben, über das durchschnittliche Maß hinaus zur „Enthüllung innerer Regungen“ (Richard Sennett) neigt.
Die obligatorische Betroffenheit
Das Problem ist, dass die obligatorische Betroffenheit die politische Urteilskraft sabotiert und bloße Willkür zum Prinzip erhebt: Bald nach den ersten Einschlägen im Kriegsgebiet Gaza wollte keiner mehr etwas von den Kriegsgründen wissen oder etwas von der asymmetrischen Strategie der Hamas hören, deren Stärke darin besteht, der israelischen Armee die gesamte Gaza-Bevölkerung entgegenzusetzen, während der Partisanenkrieg weiterhin indirekt aus Deutschland mitfinanziert wird (2).
Im politischen Überbau avancierte dann auch die Wut zum Leitgefühl, die Baerbock hinsichtlich der Lieferung von Hilfspaketen nach Gaza im April 2024 streng werden ließ: „Wir erwarten, dass die israelische Regierung ihre Ankündigungen rasch umsetzt. Keine Ausreden mehr.“
Ätzender noch als der kindergartenaufseherische Befehlston ist die Hybris, mit der sie Israel, das auch zur wirklichen Vergeltung jedes Recht hätte, als Patienten auf der deutschen Couch pathologisiert: „Unsere Staatsräson bedeutet, für die Sicherheit des Staates Israel einzustehen, sie bedeutet auch, alles dafür zu tun, dass sich Israel in diesem Krieg nicht selbst verliert“ (3). Das wahre Wesen Israels kennt nur Annalena Baerbock, die daher auch besser als Israel weiß, ob es bei Besinnung ist oder sich aufgibt.
Geschichte der Wurzelgrünen
Die israelkritischen Invektiven aus dem deutschen Außenministerium enttäuschten diejenigen Freunde Israels, die die Grünen als proisraelisch, mithin prowestlich, zu schätzen gelernt haben und dabei die notorische Äquidistanz der habituellen Opportunisten ebenso ignorieren müssen, wie das Appeasement gegenüber dem Islam im In- und Ausland (4). Die Grünen haben sich selbst transformiert, doch dabei handelt es sich – anders als zumeist in um Lustigkeit bemühten Geschichtsabrissen über bärtige Wollpulliträger kolportiert – nicht um eine politische Erfolgsgeschichte, in der finstere Esoteriker sukzessive westlich wurden.
Vielmehr hat sich der suizidale Westen den modernisierten Grünen derart angeglichen, dass diese sich ohne große Verrenkungen heute als Schutzmacht freiheitlicher Werte in die Brust werfen können. In ihren Anfangszeiten konzentrierten sich die Grünen auf Umwelt- und Heimatschutz, das Spektrum reichte von ökologisch interessierten Nachbarschaftsnetzwerken über parteilose Sozialisten bis hin zu völkisch-spiritualistischen Landkommunarden. Der zunächst harmlose Umweltschutzgedanke steigerte sich in die chronische Angst, dass das Stück Erde, das man bewohnt, nicht verschandelt, vergiftet oder vom Atomtod überzogen werde.
Das Ausland wurde entweder als Bedrohung der eigenen Scholle wahrgenommen, etwa in Gestalt amerikanischer Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II, oder anti-imperialistisch romantisiert. Mit Außenpolitik hatten die Grünen folglich recht wenig zu tun. Das einzige Buch, das sich explizit mit den außenpolitischen Debatten in der Anfangszeit der Grünen beschäftigt, ist aus dem Jahr 1998 und trägt den treffenden Titel: „Die Grünen und die Außenpolitik – ein schwieriges Verhältnis“ (5).
Der Schutz der fetischisierten Natur vor dem als Schädling angesehenen Menschen
Ins Rampenlicht der Außenpolitik gerieten die Grünen erstmals, als eine sechsköpfige Fraktions- und Parteidelegation im Jahr 1984 in den Nahen Osten aufbrach, um Israel vor Ort den Frieden zu erklären. Die Delegation hatte noch vor Reisebeginn eine „Abschlusserklärung“ verfasst, die während ihrer Reise in die Öffentlichkeit gelangte. Darin hieß es, die israelische Regierung trage die „volle Verantwortung für das sich abzeichnende Blutbad im Nahen Osten, wenn sie ihre Politik nicht entscheidend ändert“ (6). Jürgen Reents, Delegationsleiter der Gruppe, sprach auf der Abschluss-Pressekonferenz in Tel Aviv von den Palästinensern als „Opfer der (Nazi-)Opfer“ (7). In einer nötig gewordenen Klarstellung lehnte die Gruppe „jeden Vergleich zwischen der israelischen Besatzungspolitik im Südlibanon und dem Terror des früheren deutschen Nazi-Regimes“ ab, denn: dem „Kampf des palästinensischen Volkes“ werde „mit solchen Vergleichen ein sehr schlechter Dienst erwiesen“ (8). Wie nett, aber genützt hat es nichts, die grüne Pleitentour wurde in israelischen Medien derart scharf attackiert, dass man sich sogar in Deutschland schämte. In Martin Klokes Standardwerk zur Kritik des linken Antisemitismus heißt es dazu: „Keine andere außenpolitische Aktivität der Partei hat jemals zuvor größere öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen vermocht als diese als ,fact-finding-mission‘ ausgegebene Visite.“ (9)
Christian Ströbele, viele Jahre einer der medienwirksamsten Grünen, verursachte 1991 den nächsten größeren Skandal mit Israel-Bezug. Er verfocht die heute in universitären Protestcamps beliebte Auffassung, dass die Juden den mörderischen Hass, der sie trifft, provozieren. Nachdem die Streitkräfte des Irak auf Tel Aviv und Haifa Scud-Raketen abgefeuert hatten, bezeichnete Ströbele die Angriffe als „die logische, fast zwingende Konsequenz der israelischen Politik den Palästinensern und den arabischen Staaten gegenüber“. Noch in Merkels Amtszeit forderte die grüne Fraktion im Bundestag eine Kennzeichnung israelischer Waren aus dem Westjordanland.
Mit Israel hat es wenig zu tun, dass „Grünen-Bashing“ heute tendenziell als rechts gilt. In Zeiten, in denen polemische Kritik noch nicht ubiquitär mit Hassrede und Staatsdelegitimierung identifiziert wurde, war die Verachtung der Grünen auch unter vernünftigen Linken noch weit verbreitet. Nicht zuletzt wegen der frappierenden Ähnlichkeiten in den Argumentationen grüner und brauner Natur- oder Friedensfreunde, die sich für einen alternativ reformierten Idiotismus des Landlebens engagierten. Der autoritären Ökobewegung ging es nicht um die menschenfreundliche Gestaltung der Umwelt, sondern um den Schutz der fetischisierten Natur vor dem als Schädling angesehenen Menschen. Das verbindet sie durchaus mit den Grünen von heute, denen es allerdings nicht mehr um die lokale Umwelt, sondern ums globale Klima geht; die Städte so sehr mögen, dass sie sie verdorfen, und die im Wesentlichen darauf zielen, das Risiko Mensch mittels technokratischer Bevölkerungskontrolle kleinzuhalten.
Die voranschreitende Radikalisierung Baerbocks
Das frühgrüne Ressentiment gegen Israel entspringt der gleichen regressiven Verstocktheit gegen die Zivilisation, die im Postnazismus mit dem kollektiven Drang korreliert, Juden als Täter zu entlarven. Daher auch der pathologisch selbstreferenzielle Mitleidsfimmel für Palästinenser, deren Kampf für völkische Selbstbestimmung gegen den Judenstaat als „Gegenbild ordentlicher Staatlichkeit“ (Joachim Bruhn) projektiv angefeuert wird. In der Rede von den „Opfern der Opfer“ spricht sich diese Zwangsneurose aus. Anders als in kleineren Sekten gab es bei den Grünen jedoch immer auch Leute, denen die antiimperialistische Abstraktion von der deutschen Geschichte missfiel. Die sogenannten Realos haben früh erkannt, dass Israelfeindschaft und Antiimperialismus hinderlich sind, wenn es darum geht, an die Macht zu kommen.
Der anfangs konsensuale Radikalpazifismus wurde zugunsten einer „verantwortungsbewussten“ Realpolitik aufgegeben. Der erste grüne Außenminister, Joschka Fischer, floskelte den Weg für eine allgemeindeutsche Außenpolitik frei, die „wegen Auschwitz“ in anderen Ländern aktiv zu werden verpflichtet sei. Das mit der Selbstbeschreibung als Nation der erfolgreichen Vergangenheitsbewältiger zwingend zusammenhängende besondere Verhältnis zu Israel nötigt deutsche Politiker seither dazu, auf ordinären Antizionismus zu verzichten. Den kontrafaktischen Ruf, pro-israelisch zu sein, genießen die Grünen auch, weil sie offen für die akademische Kritik des Antisemitismus sind. Unter jüngeren Grünen gehören längst auch antideutsche Theorieversatzstücke zum Basiswissen im Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, während umgekehrt Antideutsche in ihrem Bemühen, Deutschland neuerdings nicht mehr als Speerspitze der Gegenaufklärung im Westen zu kritisieren, sondern als Teil des zu bewahrenden Westens zu verklären, mittlerweile oft klingen wie der außerparlamentarische Arm der Grünen, also ziemlich peinlich.
Dass sich Antisemitismus-Konferenzen und geschichtssensible Leerformeln durch ihre Nutzlosigkeit auszeichnen, ist auch an der voranschreitenden Radikalisierung Baerbocks zu beobachten, die inzwischen Israelsolidaritätsfloskeln mit dem traditionellen Ströbele-Sound kombiniert. Anfang September postete sie ein Foto von sich selbst, aufgenommen auf einem Hügel in Ramallah City, und fügte ihrer feldherrenmäßigen Pose ein paar nachdenkliche Zeilen über die Gefräßigkeit der Zionisten hinzu: „Früher sahen die Bewohner im Westen von Ramallah auf Hügel mit Olivenbäumen, Weideflächen und Strommasten am Horizont. Heute sehen sie auch auf israelische Siedlungen, die sich fast bis ins Tal gefressen haben“ (10). Angesichts solcher sich aufgeklärt gebender Überheblichkeit stellt sich die Frage, ob die ordinäre Israelfeindschaft von Traditionslinken wie Sahra Wagenknecht nicht weniger verheerend ist, weil man bei denen wenigstens weiß, woran man ist.
Deutschland spielt Weltinnenpolitik
Bereits Kanzlerin Merkel hatte als Kurskorrektur gegenüber Gerhard Schröders bräsiger Männerfreundschafts-Diplomatie den Schwerpunkt auf eine stärker an „Werten“ orientierte Außenpolitik gelegt. Man wolle, so Merkel, zu Menschenrechtsverletzungen nicht schweigen, „gegenüber niemandem auf der Welt, und seien es noch so hoffnungsvolle Handelspartner und noch so wichtige Staaten für Stabilität und Sicherheit“ (11). Der verbreitete Neomanichäismus, wonach den wackeren Demokraten im letzten Gefecht destruktive Populisten und Autoritäre gegenüberstehen, kommt auch in der deutschen Außenpolitik immer rigoroser zum Vorschein. Beabsichtigt ist, Werte und Interessen so miteinander in Einklang zu bringen, dass „nachhaltige Handelsbeziehungen“ die Welt reicher, vor allem aber besser und schließlich CO2-frei machen.
Ob Klima, Populismus oder Demokratie, wer mit den Deutschen Verträge schließen will, gerät heute unter Bekenntniszwang. Dabei wird unterstellt, dass die Länder, die in die „Wertepartnerschaft“ einbezogen sind, am Wahren, Guten und Schönen unmittelbar teilhaben. Zur Veranschaulichung genügt ein Blick in die „Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands“, in der es im Jahr 2023 im Pippi-Langstrumpf-Duktus heißt, Sicherheit bedeute „so frei zu sein, dass wir unser Leben, unsere Wirtschaft so gestalten können, wie wir es möchten. Ohne politischen Zwang, ohne wirtschaftliche Abhängigkeiten.“ (12) Kurz nach ihrer Amtseinführung ließ Baerbock über ihr politisches Selbstverständnis wissen: „Ich verstehe Außenpolitik als Weltinnenpolitik: Krisen wirken über Grenzen hinweg. Sie können nur global und kooperativ bewältigt werden.“ (13) In der Vokabel, die der „Friedensforscher“ Carl Friedrich von Weizsäcker eingeführt hatte, bevor Jürgen Habermas sie zum Paradigma für post-nationales Regieren aufpolierte, schwingt der Wille zur grenzüberschreitenden Verwaltung des deregulierten Akkumulationsregimes mit.
Zur moralisch forcierten Regulierung fühlen sich die Grünen berufen. Zu ihren Kompetenzen zählt unbedingte Willensstärke, die sich etwa darin ausdrückt, dass sie sich vom Scheitern ihrer Planfantasien in den Grenzen Deutschlands gar nicht erst irritieren lassen. Die Instrumentalisierung von weltweiten Krisen und Kriegen für die nationale Arbeits- und Sozialpolitik ist derweil eine verlässliche Begleiterscheinung solcher Politik. Seit dreißig Jahren wird die Mobilmachung für den Wettbewerb auf dem totalen Weltmarkt mit Verweis auf die unvermeidlichen Anforderungen angesichts der Globalisierung durchgesetzt.
Das globale Klima wird in Deutschland entschieden, und in den zurückliegenden Wintern war man parteiübergreifend der Meinung, dass der Gürtel wegen Putin enger geschnallt werden müsse. Das politische Geschehen außerhalb Deutschlands wird so fast ausschließlich als Verlängerung eigener Probleme wahrgenommen, während hinter dem pseudohumanistischen Moralismus die voluntaristische Auffassung steht, dass Politik sich sowohl über Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktion als auch über die objektive Konkurrenz der Staaten hinwegsetzen könne. „Weltinnenpolitik“ ist in diesem Sinn ein Titel für den von größenwahnsinniger Weltbeglückungsabsicht befeuerten Verzicht auf berechenbare Außenpolitik wie auf eine dem nationalen Interesse in vernünftiger Weise dienende Innenpolitik.
Diese Selbstreferentialität begründet den Rückzug der klassischen Diplomatie: Während in der alten Bunderepublik, etwa in Helmut Kohls Amtszeit, eine sogenannte stille Diplomatie gepflegt wurde, für die konstitutiv war, dass von den intensiven Verhandlungen meist nur die Ergebnisse in die Öffentlichkeit drangen, scheint heute der – später vertwitterte – Kameraauftritt der Verhandlungspartner der eigentliche Zweck des Zusammenkommens zu sein. So richtig es ist, wenn Baerbock vor laufender Bühne dem chinesischen Kollegen Vorhaltungen macht, so lebt doch die Inszenierung davon, dass das Ganze auf zwischenstaatlicher Ebene, bis auf eine kurze Phase chinesischen Beleidigtseins, folgenlos bleibt. Dass sich gerade die Grünen bei ihren Planspielen zur Implementierung klima-, energie- und gesundheitspolitischer Ziele in den Alltag der Bürger durchaus vom chinesischen Totalitarismus und seiner Zerstörung jeglicher Privatsphäre und individueller Entscheidungsfreiheit inspirieren lassen, kommt bei alldem erst gar nicht in den Blick.
Basisdemokratische Weltinnenpolitik
Linke und speziell grüne Politik zeichnet sich nicht mehr dadurch aus, dass mehr Zeit und größere Anteile am gesellschaftlichen Reichtum für alle gefordert werden. Im Angebot hat man stattdessen das permanente Hineingequatsche in private Angelegenheiten, mehr Kontrolle dank Digitalisierung sowie die Forderung, den Gürtel zwecks Krisenbewältigung noch enger zu schnallen. So ist auch die „Weltinnenpolitik“ eine Mahnung an alle Privilegierten, die zu träge und zu wenig empathisch für den globalen Fortschritt sind. In einer mittlerweile in Buchform erschienenen Artikelreihe in der Frankfurter Rundschau, die den Zweck hatte, den Begriff der Weltinnenpolitik zu schärfen, proklamierte Ulrich Beck schon vor Jahren, dass im Zeitalter der Weltinnenpolitik die Legitimation schwinde, fremdes Leid zu ignorieren, denn die neuen Informationsströme sorgten dafür, dass Menschen fast überall mitbekämen, was in anderen Gegenden der Welt passiert. Dabei geht es natürlich nicht ohne NS-Relativierung: „Unseren Eltern haben wir vorgehalten: Wie konntet ihr von den Gräueltaten der Nationalsozialisten nichts wissen?! Heute sterben Tausende an den Grenzen der EU, verhungern Millionen Kinder Tag für Tag. Aber wir kucken weg. Das ist trivial und zutiefst empörend zugleich.“ (14)
Der Appell an die christliche Mitleidsethik, die für sich genommen zivilisierende Effekte hat, wird zur Warnung vor individuellem Egoismus verkehrt, dabei wäre das Bewusstsein um die eigenen Interessen zu stärken, die auch dann, wenn sie aufs Allgemeine verweisen, immer lokal und spezifisch sind und der Lebenssituation des je Einzelnen entspringen, sich also mit vollem Recht zunächst einmal nicht darum scheren, wie viele Menschen aus welchen Gründen auf Kontinenten hungern, die man selbst nie besucht hat. Keiner fragt sich, was die gesellschaftliche Basis des Hinschauens und Helfenwollens sein soll: Das Christentum wird lustvoll abgewrackt und die Arbeiterbewegung, in der zumindest ansatzweise Formen der internationalen Solidarität gepflegt wurden, ist politisch tot.
Davon unbekümmert, erwartet Deutschland von den europäischen Staaten, dass sie gar nicht erst auf die Idee kommen, „nationale Alleingänge“ zu wagen. Die moralische Führungsmacht bemüht sich, in supranationalen Institutionen wie EU und UN tonangebend zu werden, um durch die Macht des Überstaatlichen den eigenen Einfluss zu potenzieren. Zu den relevanten Protagonisten der Weltpolitik zählen einstweilen NGOs, die im Ruf stehen, keine eigenen Interessen zu verfolgen, sondern kompetent die Welt zu verbessern. Sie sind der natürliche Partner Deutschlands, zumal sie imstande sind, Druck aufzubauen.
Die NGO-Praxis ist Folge des Outsourcings von Staatsaufgaben auf globaler Ebene, sie fungieren dort als Souveränitätsersatz, wo der Wille und das Geld fehlen, nacktes Elend und brutales Unrecht abzuschaffen. Ihr Job ist, in Zusammenarbeit mit den dominanten Kräften vor Ort die Elendsverwaltung zu übernehmen, was trotz aller Hilfspakete auf die Subsumierung der Einzelnen unter die Vorherrschaft lokaler Rackets hinausläuft (15). Was der grüne Mittelstand als basisdemokratische Weltinnenpolitik betrachtet, bedeutet die Zementierung von Verhältnissen, in denen die gesellschaftlich institutionalisierten Vermittlungen sukzessive liquidiert werden. Postnationale verdrängen, dass Rechte der Menschen und Völker wertlos sind, wenn es keine souveränen Staaten gibt, die sie schützen. So wird im Namen westlich-progressiver Werte einer globalen Ordnung zum Durchbruch verholfen, die das Ende nationalstaatlicher Rechtsgarantie und Berechenbarkeit bedeutet. Nichts bezeugt das Elend der „Global Governance“ so sehr wie die Tatsache, dass die Prediger der Grenzenlosigkeit, ob Internationaler Gerichtshof, UN, WHO oder diverse NGOs, gebündelten Hass auf den Judenstaat pflegen, der seine Grenzen und seine Souveränität gegen die antisemitischen Horden schützt.
Lesen Sie demnächst in Teil 2: Annalena Baerbock und der Verlust jeden Sinnzusammenhangs (2)
Dieser Text erschien zuerst in casa|blanca.Texte zur falschen Zeit (2/2024). Das Heft kann hier bestellt werden.
David Schneider ist Autor der Zeitschrift BAHAMAS.
Anmerkungen:
(1) Georg Schwarte: Baerbocks Politik der kleinen Schritte, tagesschau.de, 12.11.2023.
(2) So berichtete das Handelsblatt am 6.9.2024, dass Deutschland seine Hilfe „für die vom Gaza-Krieg betroffenen Palästinenser“ um weitere 50 Millionen aufstockt.
(3) Außenministerin Baerbock zur Lage in Rafah, auswaertiges-amt.de/de/newsroom/-/2657344, 16.5.2024.
(4) Vgl. Lennart Pfahler, Alexander Dinger: Der Grüne und die radikalen Palästinenser, welt.de, 27.8.2024.
(5) Ludger Volmer: Die Grünen und die Außenpolitik – ein schwieriges Verhältnis, Münster 1998.
(6) o.A.: Gefundenes Fressen, in: Der Spiegel, 24.2.1991.
(7) Zit. n. Martin W. Kloke: Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1994, 265.
(8) Zit. n. ebd., 262.
(9) Ebd.
(10) So festgehalten auf Baerbocks Instagram-Account am 7.9.2024.
(11) Zit. n. Stephan Bierling: Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart, München 2014, 155.
(12) Auswärtiges Amt (Hg.): Wehrhaft. Resilient. Nachhaltig. Integrierte Sicherheit für Deutschland. Nationale Sicherheitsstrategie, Berlin 2023.
(13) Felix Lee u.a.: „Schweigen ist keine Diplomatie“, taz.de, 1.12.2021.
(14) Ulrich Beck: Nachrichten aus der Weltinnenpolitik, Berlin 2010, 128.
(15) Vgl. Sören Pünjer: Globaler dritter Weg, in: Bahamas, Nr. 86 (2021), 84–90.