Gastautor / 19.04.2019 / 06:25 / Foto: Nikolai Nikolajewitsch / 53 / Seite ausdrucken

Das Stigma des Gottesmordes

Von Hyam Maccoby.

Hyam Maccoby verdanken wir eine der innovativsten wissenschaftlichen Interpretationen zur Ideen- und Wirkungsgeschichte des Christentums. Die damit eng verknüpfte Theorie des Antisemitismus ist deutlich belastbarer als beispielsweise die schwachbrüstigen Ansätze des Antisemitismusbeauftragten Michael Blume. Maccoby ist im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert worden, was u.a. am unglücklichen Publikationsort der ersten Übersetzungen, dem Ahriman-Verlag des Alt-SDSlers und Sektierers Fritz Erik Hoevels, liegen mag. Dem renommierten Hentrich & Hentrich Verlag gebührt das Verdienst, Maccobys A Pariah People: The Anthropology of Antisemitism (1996) nun in deutscher Übersetzung verfügbar gemacht zu haben. Achgut.com bringt Auszüge, passend zur Karwoche:

Die Evangelien sind so geschickt und dramatisch konstruiert, dass sie die jüdische Schuld unterstreichen. Gleichzeitig betonen die Evangelien auch die Unvermeidbarkeit des Todes Jesu als Mittel der Erlösung für die Welt. Zusammen geben diese zwei Faktoren den Juden die Rolle der Heiligen Henker, dazu verurteilt, durch ihre eigene Verdammung die Erlösung herbeizuführen.

Jüdische Schuld wird auf vielen subtilen Wegen vermittelt. Wie wir gesehen haben, wirkt die Gestalt des Judas Ischariot symbolisch, um den Verrat der Juden allgemein an einem der ihren darzustellen. „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Alle Gruppen des jüdischen Volkes werden als feindselig gegenüber Jesus dargestellt, und wenn sie ihn zeitweilig unterstützen (wie am Palmsonntag), dann vergrößert dies nur ihre Schuld, weil ihr folgender Entzug der Unterstützung ein Element des Verrats hinzufügt. Einige Juden freilich unterstützen Jesus, nämlich seine nächsten Anhänger, die Apostel. Aber sogar sie zeigen einen Mangel an Loyalität und Verständnis (…). Wie wir gesehen haben, vervollständigt die Verunglimpfung der Pharisäer die Schande des jüdischen Volkes und seiner Überlieferung. Manchmal werden die Juden nur als blind und dumm geschildert und nicht als bösartig. Diese Haltung ist das Erbe der Gnosis mit ihrer Ansicht von den Juden und dem Judentum als irdisch und ungeistig. Häufiger wird aber ein Ton angeschlagen, der den Juden den boshaften, sinnlosen Wunsch unterstellt, Jesus aus teuflischem Hass auf das Gute zu töten.

Oft wird die Entschuldigung vorgetragen, dass die Evangelien sich nicht ausdrücklich gegen die Juden richten, sondern nur gegen das Böse im Menschen, für das die Juden damals zufällig standen. Oft ist zu hören: „Wenn wir dort gewesen wären, hätten wir das Gleiche getan.“ Diese Behauptung ist aus vielen Gründen falsch. Allein die Tatsache, dass die früheren schriftlichen Zeugnisse des Neuen Testaments den Juden nicht die Schuld zuweist, beweist, dass die antijüdische Ausrichtung der Evangelien eine bewusste Entscheidung war. Anstatt die Römer zu beschuldigen, die tatsächlich die Kreuzigung des Juden Jesus (und von tausenden anderen Juden, die als umstürzlerisch betrachtet wurden) durchführten, wurde die verständliche, wenngleich feige Entscheidung getroffen, die gesamte Schuld den Juden zu geben, einem Volk, das sich damals im tiefsten Elend der Niederlage befand. Es war eine ungefährliche Entscheidung, weil von einem hilflosen Volk keine Vergeltung zu erwarten war. Den Römern dagegen konnte man nicht gefahrlos die Schuld zuschieben, und die paulinischen Christen fürchteten zu recht, dass jede Andeutung von Schuld in Richtung Rom sie in römischen Augen in das gleiche rebellische Lager wie die Juden stecken würde. Dennoch ist es wirklich bemerkenswert, wie es den Evangelien gelingt, die Römer angesichts der Relikte der historischen Tatsachen, die selbst sie nicht verwischen konnten, von jeglicher Schuld reinzuwaschen.(…)

In den Evangelien ist Rom sorgfältig entlastet

In den Evangelien (…) ist Rom sorgfältig entlastet. Pilatus, der römische Statthalter, wird als höchst unwillig, Jesus hinrichten zu lassen, geschildert. Es wird sogar betont, dass er ahnungslos gewesen sei, welche Gefahr für Rom von Jesus Anspruch, König der Juden zu sein, ausging. Im Johannesevangelium (Joh 19,12–15) stellt er vielmehr Jesus den Juden mit den Worten vor: „Da ist euer König!“ Er muss sich von den Juden sagen lassen: „Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; jeder, der sich als König ausgibt, lehnt sich gegen den Kaiser auf “, als ob man einem römischen Präfekten sagen müsse, jeder, der Anspruch auf den jüdischen Thron erhebe, müsse wegen Rebellion gekreuzigt werden. Die Juden rufen aus: „Weg mit ihm, kreuzige ihn!“, worauf der unglaubliche Dialog folgt: „Pilatus aber sagte zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser.“ Das Bild des Pilatus (aus anderen Quellen als Schlächter bekannt) als eines politisch Unschuldigen wird nur von der Unwahrscheinlichkeit übertroffen, dass Pilatus, anders als die groben weltlichen Juden, anerkennt, dass Jesus, als er sich als König bezeichnet, meint, sein Königtum sei nicht von dieser Welt.

Zuvor in derselben Szene, als Pilatus erklärt hatte, „Ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen“, hatten die Juden (die Szene wechselt zwischen „die Juden“ und „die Hohepriester“ in einer Weise ab, dass alle Juden von den höchsten bis zu den geringsten eingeschlossen sind) ihren angeblich wahren Grund für ihren Wunsch, Jesus aus dem Weg zu räumen, aufgedeckt. „Wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat.“ Also sieht das vollständige Drehbuch so aus: Die Juden wollen Jesus aus religiösen Gründen töten, weil sein Anspruch auf Göttlichkeit „blasphemisch“ sei; sie erfinden deshalb einen politischen Grund, um ihn bei den Römern zu denunzieren, obgleich sie sehr wohl wissen, dass Jesus keine politischen Ziele hat. Pilatus, der weiß, dass Jesus unpolitisch ist, beugt sich dem falschen jüdischen Vorwurf, Jesus sei eine politische Bedrohung, während er ehrfürchtig davon überzeugt ist, Jesus sei tatsächlich Gottes Sohn. Dieses ganze Szenario manipuliert die historischen Fakten, dass Jesus in der Tat eine Bedrohung für die römische Besatzungsmacht war, da er Anspruch auf den jüdischen Thron erhob, und dass die Römer, zusammen mit ein paar jüdischen Quislingen, ihn mit ihrer üblichen Bestrafung für Umsturzversuch mit der Kreuzigung aus dem Weg räumten. Das Gesamtergebnis der Manipulation durch die Evangelien ist, dass die Römer als unschuldige Opfer einer jüdischen List dastehen. Eine unwahrscheinlichere Verdrehung historischer Fakten ist kaum vorstellbar.

Zusätzlich zur Verharmlosung von Pilatus werden die Römer durchgängig in einem vorteilhaften Licht gezeigt. Der Erste, der die Göttlichkeit Jesus eingesteht, ist der römische Zenturio, der ihn sterben sieht und sagt: „Wahrhaftig, das war Gottes Sohn“ (Mt 27,54Mk 15,39, aber bei Lukas 23,47 sagt der Zenturio nur: „Das war wirklich ein gerechter Mensch“; offenbar sperrt sich Lukas gegen die Rohheit der Übertragung religiöser Erkenntnis und Autorität von den Juden auf die Römer). Ausgerechnet der Mensch, der die Kreuzigung beaufsichtigt, wird wegen seiner Verehrung des Gekreuzigten von der Schuld entlastet. Nirgendwo in den Evangelien sehen wir die Römer als grausame Unterdrücker eines brutal unterworfenen und ausgebeuteten Volkes.

Übertragung der Schuld von den wahren Henkern auf die Juden

So steht die Behauptung, die Juden repräsentierten nur das menschliche Böse, im Widerspruch zu der Tatsache, dass die Evangelien eine absichtliche Übertragung der Schuld von den wahren Henkern Jesu, den Römern, auf die Juden betreiben. Die Behauptung selbst ist als eine Art Trost oder Zuspruch für die Juden gedacht, die bestürzt sind, sich als die Schurken in der Erzählung der Evangelien wiederzufinden: „Wir geben euch nicht wirklich die Schuld, weil jeder andere das Gleiche getan hätte.“ Diese Versöhnlichkeit wiederholt den angeblichen (nur Lukas bekannten) Ruf Jesu am Kreuz: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ (Lk 23,34). Man fühlt sich an den von der römisch-katholischen Kirche heiliggesprochenen Pater Kolbe erinnert, der jede Anklage gegen die Juden glaubte, auch die Ritualmordlegende, ihnen aber alles verzieh. Solche Frömmelei kann von den Verleumdungsopfern kaum willkommen geheißen werden. Falsche Beschuldigungen werden durch Vergebung nicht besser, noch kann Vergebung die Untersuchung ersetzen, ob der Angeklagte wirklich schuldig ist.

Manche Kommentatoren schlagen vor, dass selbst die gegen die Juden erhobene Anklage des Gottesmordes nicht wahr sei, die Juden sollten sich nicht darum kümmern, denn die Anklage sei nur symbolisch. „Die Juden“, die ständig in der Erzählung des Johannes auftreten, sollten nicht mit wirklichen Juden gleichgesetzt werden, da der Begriff nur für menschliche Sünder im Allgemeinen stünde, die in jeder historischen Epoche Christus leugnen und die deshalb als „geistig verantwortlich“ für seinen Tod betrachtet werden können. Ich frage mich, wie die Reaktion wäre, wenn man den Begriff „die Schwarzen“ für „die Juden“ einsetzen würde. Ich meine, dann würde offenkundig, dass die Verwendung jeder Menschengruppe als Symbol des Bösen untragbar ist. Damit wird das genaue Gegenteil des Beabsichtigten erreicht: Anstatt Leser zu beeinflussen, sich selbst die Schuld für Böses zu geben, beeinflusst es sie unweigerlich, die gesamte Schuld auf die Gruppe abzuwälzen, die in der Erzählung der Verleumdung ausgesetzt ist.

Ein eingefleischter Bösewicht wie Jago, in seiner ganzen Niedertracht auf der Bühne vorgeführt, wird vom Publikum ausgepfiffen und dient nicht dazu, die eigene Einstellung zu Niedertracht zu überprüfen. Selbst Jago ist kein so melodramatischer Bösewicht wie Judas Ischariot (der tatsächlich alle grundlos satanischen Schurken in der westlichen Literatur inspiriert hat), und wenn das „Wir-sind-alle-schuldig“-Argument nicht auf Judas angewendet wird (was anscheinend nicht der Fall ist), sollte es nicht als relevant für den kollektiven Judas, das jüdische Volk, betrachtet werden. Wenn die Evangelien die Leser wirklich anregen wollen, sich selbst die Schuld zu geben, haben sie sich die am wenigsten wirksame künstlerische Methode zu diesem Zweck zu eigen gemacht.

Ritualisierter Hass als Teil des Erlösungsprozesses

Noch wichtiger für die Dämonisierung der Juden und ihre spätere Rolle als eine Pariakaste im Christentum ist die Erhöhung ihres Verbrechens des Gottesmordes in den Rang eines erlösenden Ereignisses. Dies mag überraschend und paradox erscheinen. Viele Juden (einschließlich Disraeli) haben sich gefragt, warum sie von Christen nicht mit Dankbarkeit, sondern mit Hass betrachtet werden, da doch ihre angebliche Tötung Jesu die direkte Ursache christlicher Erlösung war. Aber man ist dann nicht mehr überrascht, wenn man die christliche Erzählung von der Erlösung mit ähnlichen Erzählungen vergleicht, etwa den Mythen von OsirisBaldur und anderen. Die Einstellung der Eingeweihten zum Tod ihres Erlösers muss von reinem Schmerz und Leid geprägt sein.

Es darf keine Beimischung von Befriedigung oder Freude bei dem Gedanken geben, dass dieser schreckliche Tod Erlösung bringt, ein Gedanke, der in der Zeit des Trauerns aus dem Geist verbannt wird. Wenn die gute Nachricht überbracht wird, dass die Auferstehung stattgefunden hat, kommt eine erstaunte Freude hinzu, die umso größer ist, als die Erlösung völlig unerwartet ist. Die Phänomenologie der Erlösung durch Opferung geht somit von gespaltenen Geisteszuständen aus, die getrennt gehalten werden müssen, damit sich nicht das ganze Erlösungsgeschehen auflöst. Den Eingeweihten wird dann bewusst, dass sie alles andere als die Empfänger einer unerwarteten Erlösung sind, sondern das ganze Drama selbst arrangiert haben. (…)

Es ist diese tragische Gespaltenheit, die den besonderen gegen die Juden gerichteten Hass erklärt. Wo das Opfer vom Menschen, nicht vom Gott, getötet wird, ist es von überragender Wichtigkeit, dass die Eingeweihten saubere Hände haben. Deshalb ist es notwendig, eine Person oder Klasse von Personen zu haben, der man die Schuld an der Bluttat zuschieben kann. Je mehr diese Person oder die Klasse von Personen aus Abscheu abgelehnt wird, desto stärker kann der Eingeweihte die Verantwortung für den abscheulichen Mord, der ihm Erlösung bringt, abstreiten. Somit wird Hass ritualisiert. Der Hass an sich wird Teil des Erlösungsprozesses.

Bei wirklichen Riten des Menschenopfers, wie sie in primitiven Zeiten und sporadisch in historischen Zeiten bis in die Gegenwart ausgeübt wurden, gab es eine rituelle Figur, die die Opferung ausführte und dann vom Stamm verflucht und in die Wüste verbannt wurde. In der hellenistischen Welt ist dieses antike Ritual der Erlösung zu Initiationskulten vergeistigt worden, in denen das Opfer symbolisch war, nämlich enthalten in einer Erzählung oder einem Mythos vom gewaltsamen Tod eines Gottmenschen, der von einer bösen, manchmal übernatürlichen Gestalt verraten worden war. Im Christentum ging es um den Tod einer historischen Gestalt, des Juden Jesus, der beanspruchte, der Messias zu sein, dessen Tod durch die Römer zum Opfertod mystifiziert worden war. Die Rolle des Heiligen Henkers ging deshalb ebenfalls an die historischen Gestalten über – die Juden. Sie wurden für diese Rolle ausgewählt, weil sich das paulinische Christentum vom jüdischen Kampf gegen Rom distanzierte.

Auszug aus: „Ein Pariavolk. Zur Anthropologie des Antisemitismus“ von Hyam Maccoby, 1. Auflage der deutschen Ausgabe 2019, Hentrich & Hentrich Verlag: Berlin/Leipzig (Original: A Pariah People. The Anthropology of Antisemitism, London: Constable and Company Limited 1996), hier bestellbar.

Hyam Maccoby (1924–2004) war Talmudphilologe, Bibliothekar am Leo Baeck College in London und zuletzt Professor für Judaistik an der Universität Leeds. Er erforschte die Entstehung und historische Dynamik von Christentum und Judentum. Seine zentralen Werke Jesus der PharisäerDer Mythenschmied und Der Heilige Henker wurden auch außerhalb der akademischen Welt bekannt. Sein Theaterstück Die Disputation wurde in zahlreichen Städten der USA sehr erfolgreich aufgeführt.

Den zweiten Teil dieser Beitragsfolge finden Sie hier.

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Mathias Opitz / 19.04.2019

Sogenannte Beweisführungen, die den Zuhörer mit “wie wir gesehen haben”, gefangen nehmen, taugen tatsächlich nur in Sekten und Verschwörungstheorien. Dadurch zwingt man den Leser sich zu entscheiden, für oder gegen die These zu sein. Wer es nämlich bis dahin nicht “gesehen” hat, weil er es vielleicht anders auffasst, stellt sich ins Abseits. Nach dem Motto: “Dir ist eben nicht mehr zu helfen”. Selten habe ich so ein schlecht verfasstes Pamphlet gelesen. Man könnte auch in einem Kochrezept die Gewinnmarge des Salzherstellers beklagen. Die Verlagswahl ist sicher kein zu kritisierende Punkt. Die Veröffentlichung hier, ist bedauerlich.

Klaus Reichert / 19.04.2019

Ich habe das so fundiert bislang noch nicht gelesen. Dafür Dank. Ähnliche Darstellungen lassen mich aber schon lange nicht mehr los. Die Evangelien als ein Kompromiss, um die Geschichte Jesu zu erzählen und sich gleichzeitig nicht mit der Besatzungsmacht anzulegen. Die Juden als Sündenböcke.  Die Urchristen lebten in Rom in ständiger Gefahr. Besser also eine Story erzählen, bei der die Römer gut aussehen!

Peter Müller / 19.04.2019

Ich finde diese Sichtweise grotesk und zeitgeistig. Allein der Vorschlag, sich vermeintliche Argumentationsketten doch mal mit Schwarzen statt mit Juden vorzustellen, verrät eine intellektuelle Herangehensweise, die dem politischen Heckmeck der Post-2015-Ära entspringt. Eine dem Christentum zentrale Botschaft ist es, dass man Schuld in sich selbst und in der eigenen Gruppe zu suchen hat, NICHT in einem externen Bösewicht. Die Anstrengung, die Zustände zu verbessern, sollen sich nach innen richten, nicht nach außen. Wenn man Religion als Erzählung vom Idealen begreift, dem es nachzueifern gilt, ist die Sichtweise geradezu der Kern dessen, was wir heute als westliche Kultur kennen!

Lutz Herzer / 19.04.2019

Ich plädiere auf Freispruch für die Römer. Der religiöse Konflikt war eine innerjüdische Angelegenheit, bei der Jesus die Spielregeln gebrochen hatte, nach denen der Messias zwar erwartet wird, jedoch keinesfalls kommen darf. Die Entscheidung, Jesus hinrichten zu lassen, lag beim Hohepriester Kaiphas. Die Verurteilung zur Todesstrafe und deren Vollstreckung war formell der römischen Besatzungsmacht vorbehalten, wie es im Artikel angedeutet wird. Hätte Pontius Pilatus Jesus begnadigt, wäre das diplomatische Verhältnis zwischen Römern und Tempel getrübt worden, was es zu vermeiden galt. Aus einem eigenem Interesse heraus hätten sich die Römer nicht um einen wortgewandten, exzentrischen Sandalenträger gekümmert, da ihnen Gotteslästerung im Sinne der hebräischen Bibel ziemlich gleichgültig gewesen sein dürfte. Und angenommen, die Provinz Judäa wäre nicht unter römischer Besatzung gestanden, wäre Jesus halt nicht gekreuzigt sondern gesteinigt worden. Mit dem heutigen Antisemitismus hat das alles jedoch wenig zu tun. Solange sich Juden als das von Gott auserwählte Volk betrachten, wird es Antisemitismus geben. Zum diesem Thema gäbe es noch weitere Aspekte, doch die würden an dieser Stelle zu weit führen.

Helmut Driesel / 19.04.2019

  Das beste, was ich bisher zum Thema gelesen habe, exzellent! Der Karfreitag ist ja der Gedenktag des Leides. Und als ich noch Glied einer christlichen Gemeinde war, habe ich mich an diesem Tage gefragt: Wieso ist Jesus auf diese Weise zu Tode gekommen, also mit Tortur, Demütigung und Erniedrigung vor der Öffentlichkeit. Qualvoll und für die Zuschauer unterhaltsam choreografiert, wem hätte das besser einfallen sollen als einem elitären Römer? Hat der alttestamentarische Gott keine Möglichkeit gesehen, seinen Gläubigen die Möglichkeit einer Wiederauferstehung und Erlösung ihrer Seelen verständlich darzustellen, als den Weg des Leidens, also die Passion nach römischem Brauch? Mag dieser Gott ja cholerisch sein, oft zornig, unbarmherzig und leicht reizbar, so muss man sich ja als naiver nachgeborener Menschling vorstellen: Es war ja nicht ein schlimmer Sünder, auch nicht irgendeiner aus der Masse, sondern es war sein treuester Diener und künftige Gottessohn, der da zum Leiden getrieben wurde. Wenn Gott nach menschlichem Ermessen intelligent ist und überhaupt Wesenszüge des Guten in sich trägt, so dachte ich, konnte er sich unmöglich in so schmählicher Weise den Römern angedient haben. Aus Sicht der römischen Aristokratie macht es nämlich sehr wohl Sinn, den Leuten die Wirksamkeit einer Religion vorzuführen, die Demut und Unterwerfung lehrt, nur kein Widerstand, kein Widerspruch, das garantiert Euch nach dem Tode die Erlösung. Das gesamte überlieferte Evangelium ist darauf zugeschnitten, den römischen Besatzern das Leben und Herrschen zu erleichtern. Kann das Zufall sein? Im Gegensatz zur heutigen modernen Theologie haben die jüdischen und christlichen Gläubigen aller Sektionen Gott als allmächtigen Weltenlenker und Schicksalsgestalter gesehen. Nicht als Verwalter und therapeutischer Berater von Prozessen, die einmal angestoßen, selbstorganisiert in Eigenverantwortung weiterlaufen. Warum beispielsweise haben die gläubigen Griechen sich damals nicht einfach ergeben?

Hans-Peter Dollhopf / 19.04.2019

An diesem Beitrag wird mir wieder einmal die Bedeutung von Heuristik klar, mit der sich unsereiner, Krethi und Plethi, an öffentlichen Diskussionen beteiligt. Was habe ich Malocher mit meiner 40h-Arbeitswoche an Ressourcen, an freier Zeit und Motivation übrig, um mir profunde Erkenntnisse über ideologische Ausrichtungen des Christentums seit der Urkirche selbst anzuerforschen? Man hat weder die Lateinkenntnisse noch die Zutrittsberechtigungen zu historischen Dokumenten des Vatikans, um Ausrichtungsbeschlüsse auf irgendwelchen spätantiken oder frühmittelalterlichen Konzilen zu durchleuchten. Öffentliche Diskussionen komplexer populärer, in den Hintergründen und Zusammenhängen aber irgendwelchen Spezialthemen-Nerds und Eggheads genauso unvollständig bekannten Problemen, findet auf Nicht- und Halbwissen, selbst gemachter Erfahrung oder Bauchgefühl statt! Meinen und Wollen ist darum in der Summe bei Entscheidern wie für Betroffene konsequent suboptimal. Ziel freier und offener Republiken ist es, den Angehörigen durch Bildung zur klaren Vorstellung davon zu führen, was zuerst überhaupt sicher gewusst werden kann, was immer nur prognostisch und was nie: Aufklärung ist Bildungsziel zertifizierter Republiken. Auf diese relativ kostengünstig zu bewerkstelligende Weise würde die allgegenwärtige heuristische Praxis des selbstherrlichen Mitmischens und Mitentscheidens zum Nutzen und “Frommen” von allen optimaler.

Manfred Lang / 19.04.2019

1. Maccoby blendet aus, dass Jesus selbst Jude war. Nur so kann man die Evangelien als antisemitisch beurteilen. 2. Die Evangelien sind im Zeitraum zwischen 70 und 120 n. Chr. entstanden. Und sie wurden von Judenchristen verfasst, die sich ihrer jüdischen Zugehörigkeit sehr bewusst waren (1. Apostelkonzil: Streit zwischen Petrus und Paulus, Heidenchristen). 3. “Zur Entfremdung (zw. Juden und Judenchristen) tragen entscheidend die Verfolgungen und Hinrichtungen bei: schon früh die des hellenistischen Judenchristen Stephanus…Jakobus…schließlich die Verhaftung des Heidenapostels Paul in Jerusalem und seine Hinrichtung.” Küng,Kl. Kirchengeschichte,S.39. Den endgültigen Bruch gab es nach der Zerstörung des 2. Tempels durch die Römer und dem pharisäisch besetzten, jüdischen Konzil, das die formelle Exkommunikation der Christen beschloss und verfügte, dass am Anfang jedes Synagogengottesdienstes eine “Ketzerverfluchung” zu wiederholen ist. So Küng. “Der Antijudaismus schon der Judenchristen, wie er sich beklagenswerterweise schon im Matthäus- und im Joh.-Evangelium niederschlägt, hat in der Verfolgung und dann in der Ausstoßung aus der Synagoge die entscheidenden Wurzeln. Die Exkommunikation der Christen…geht aller Verfolgung der Juden durch die Christen voraus.” K. S.39-40. 4. Entscheidend bleibt aber für mich die “Brüderlichkeitsethik” z.B. des Kolosserbriefes, in dem es heißt, es gebe jetzt nicht mehr “Juden und Griechen, Beschnittene und Unbeschnittene, Fremde, Skythen, Sklaven und Freie” ...all diese Schranken seien im christlichen Glauben überwunden, und im Johannesevangelium steht dafür die provokative Begründung: Die Christen seien alle gleichermaßen Kinder Gotttes, nicht aus Willen des Fleisches, nicht aus Willen des Menschen.” , sondern “aus Gott geboren” Joh.1,13 (Lütz S.26)Abschließend bleibt zu sagen, dass die Bibel anders als der Koran nicht das wörtlich zu nehmende Wort Gottes, sondern ein Bericht über das Wirken Gottes in derWelt ist, auch das NT. 

Rolf Lindner / 19.04.2019

Die Ausübung der Todesstrafe durch Kreuzigung war eine römische (und keine jüdische) Praxis und möglicherweise sogar Erfindung gewesen.

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