Von Thomas-Michael Seibert.
Der Arzt Dr. Heinrich Habig ist Ende Juni bekanntlich vom Landgericht Bochum wegen Ausstellens falscher Gesundheitszeugnisse in 207 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden. Soll man das ein Strafverfahren nach Art Erdoğans nennen? Einige juristische Anmerkungen.
Der Arzt Dr. Heinrich Habig ist am 29. Juni 2023 vom Landgericht Bochum wegen Ausstellens falscher Gesundheitszeugnisse in 207 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt worden.
Dazu sind drei Anmerkungen aus juristischer Sicht erforderlich, die mit den Grundfragen des Strafprozesses zu tun haben. Ich beantworte sie vorweg: Ja, der Angeklagte hat sich strafbar gemacht. Und: Nein, die verhängte Strafe ist nicht schuldangemessen. Ich wage schließlich die Prognose, dass der Strafausspruch in der Revision aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung darüber zurückverwiesen wird. Nützt das dem Angeklagten? Nein, das nützt ihm nichts.
Er hat schon 13 Monate in Untersuchungshaft verbracht und das Revisionsverfahren wird weitere sechs bis neun Monate in Anspruch nehmen, mindestens. Die üblicherweise zu verbüßenden zwei Drittel der Strafe (bei Aussetzung des Restes zur Bewährung) sind sogar dann verbüßt, wenn die Revision als unbegründet zurückgewiesen wird. Die Haftanordnungen nach Antrag der Staatsanwaltschaft und deren Aufrechterhaltung durch die Strafkammer sind der eigentliche Skandal. Soll man das ein Strafverfahren nach Art Erdoğans nennen? Aber vermutlich würde man damit die Türkei beleidigen. Es ist einfach schlechte deutsche Praxis.
„Wegwerf-Recht“
Bleiben wir beim Urteil. Man wird es dem Tatbestand nach als juristisch vertretbar bezeichnen müssen. Vertretbar sind alle Entscheidungen, die man bei durchschnittlicher Urteilskraft als möglich ansehen kann. Da hat also jemand Impfungen bescheinigt, die er nicht verabreicht hat. Ich entnehme diese Feststellung der Berichterstattung, weil ich in der Hauptverhandlung nicht anwesend war. Der gewöhnliche, mit der sogenannten Subsumtion vertraute Richter liest also im § 278 StGB den allgemeinen Tatbestand: Ein Arzt, der zur Täuschung im Rechtsverkehr ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen ausstellt, wird bestraft. Es ist anerkannt, dass Impfbescheinigungen solche Zeugnisse sind, und sie wurden in der Tatzeit eingesetzt, um jene Regelungen zu umgehen, die als 3G, 2G oder 2Gplus abgekürzt worden sind und die man nachfolgenden Generationen wird erklären müssen. Gegen allgemeine Normen gibt es nach herkömmlicher juristischer Meinung auch keine Notwehr, wie die Verteidigung meinte.
Aber die ganze Wahrheit ist das nicht. Wer über die bisherigen Sätze nicht hinauskommt, hat seine praktische Urteilskraft schon in der Ausbildung verloren. Kann jemand eigentlich noch erklären, wofür 3G, 2G oder 2Gplus dienten, was sie bewirkt hätten, welche Grundlage sie hatten und vor allem, wie lange sie wo jeweils galten? Das konnte nicht einmal das BVerfG, das anstelle eigener Begründungen auf die Reputation angeblicher Sachverständiger und Sachverständigenräte verwiesen hat.
Noch ein Weiteres müsste diskutiert werden: Alle diese merkwürdigen, aus heutiger Sicht ohne sachliche Grundlage beschlossenen und verordneten Normen galten nur zeitweise. Für sie wurde jeweils eine von vornherein begrenzte Dauer beschlossen, bevor sie dann außer Kraft traten. Heute gehören sie bereits der Rechtsgeschichte an. In der französischen Diskussion der Rechtsgrundlagen hat man solche Vorschriften als Teil des droit jetable (Einwegrecht) bezeichnet.
Es gibt seit längerer Zeit Notstandsvorschriften, die sich Rechtscharakter beilegen, diesem aber sachlich nicht genügen. Stéphanie Hennette Vauchez, Professorin für Menschenrechte an der Universität Paris-Nanterre (siehe La Démocratie en État d’Urgence, Paris 2022, Seite 29 bis 33), hat solche minderen Rechtskategorien seit den Unruhen im Algerienkrieg und in Neu-Kaledonien bis zur präsidialen Ausnahme-Verordnung vom 11. Mai 2020 zur „Lockerung“ der pandemischen Pauschalbeschränkungen beschrieben und die Covid-Verordnung schlicht als „décret Kleenex“ (Kleenex-Dekret) eingestuft. Das muss auf Deutsch noch übersetzt und dann diskutiert werden. Der Rechtsanwalt Alexander Christ hat den minderen Charakter der Corona-Verordnungen als Teil des Corona-Staats schon beschrieben (Christ, Corona-Staat, München 2022, 129–136). Ich übersetze es wie Alexander Christ als „Wegwerf-Recht“ (ebd., 135).
Zwei Jahre und zehn Monate sind viel
In Bochum ist der Angeklagte wegen Täuschung nach solchem Wegwerf-Recht für strafbar angesehen worden. Fällt es jemandem überhaupt auf, dass es sich um einen Verstoß gegen nur zeitweilig geltendes Recht handelt? Denkt jemand darüber nach, ob Jahre später dafür noch Strafen verhängt und vollstreckt werden dürfen? Fällt jemandem der Unrechtscharakter dieses Rechts auf? Der Strafkammer jedenfalls nicht. Sie tut so, als handele es sich bei den Zugangsbeschränkungen ohne sogenannte Impfung um natürliches Recht.
Etwas anderes fällt allen auf – oder sollte es wenigstens: Es ist verurteilt worden zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Der Tatbestand des § 278 sieht überhaupt nur eine Höchststrafe von 2 Jahren vor. Nun wurde freilich verurteilt in 207 Fällen. Rechnet man hier einfach irgendwelche Einzelstrafen mathematisch zusammen, käme man zu einer Freiheitsstrafe, die die erwartbare Lebenszeit weit überschreitet. Bei der sogenannten Gesamtstrafenbildung (§ 54 Abs. 2 StGB) wird allerdings anders gerechnet. Zwei Jahre und zehn Monate liegen jedenfalls unter den 15 Jahren, die bei einer Gesamtstrafenbildung die gesetzliche Obergrenze bilden. In der Sache bleibt die Frage, wie hoch eine Strafe ausfallen soll.
Die Verhandlung fand vor einer großen Strafkammer statt, die aus drei Berufsrichtern und zwei Schöffen, also Laienrichtern, besteht. Manchmal pflegt man in einer solchen Sache die Frage des Strafmaßes und der Tatfolgen an die Laienrichter weiterzugeben. Jeder hat für diese Fragen einen Sachverstand, also darf man fragen: Was halten denn Sie für angemessen? Ich selbst war elf Jahre lang Vorsitzender verschiedener Strafkammern, in Umwelt- und Wirtschaftsstrafsachen, als Kleine Strafkammer und auch als Schwurgericht. Ich habe einerseits lebenslange Freiheitsstrafen verkündet und andererseits Verwarnungen mit Strafvorbehalt beobachtet, die es nach den vielen Strafrechtsreformen als unterste Stufe inzwischen auch gibt.
Zwei Jahre und zehn Monate sind viel, viel mehr als in den meisten Wirtschaftsstrafverfahren mit hohen Schadenssummen als Strafe ausgeurteilt werden, eine Strafe vor allem, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Ist sie trotzdem angemessen? Leider geben die Schöffen die Frage meist an die Berufsrichter zurück mit einem Kommentar wie: Sie sind der Richter, Sie müssen es besser wissen, denn Sie kennen viele solcher Fälle. Nein, diese vielen Fälle kennen die Richter nicht. Zu § 278 StGB und zum Ausstellen falscher Gesundheitszeugnisse gibt es nicht viele Fälle, sondern in der Regel gar keine. Viele Juristen müssen den Tatbestand überhaupt erst lesen, um zu wissen, worum es geht. Es gibt keine eingeführte Sanktionspraxis für das Ausstellen von Gesundheitszeugnissen.
Das Unrecht wird nicht aufgehoben
Für die Strafzumessung gibt es aber wenigstens eine Norm, wie für fast alles, was Gerichte machen. Sie steht in § 46 StGB, nach dem die verschiedensten Umstände berücksichtigt werden sollen, etwa auch die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat u.v.m. Da ist man gespannt, was die Kollegen am Landgericht Bochum im Urteil begründen werden und wie sie Beweggründe und Ziele, Gesinnung und Pflichtwidrigkeit oder die verschuldeten Auswirkungen der Tat würdigen werden.
In der mündlichen Urteilsbegründung scheint von einer rechtsfeindlichen Gesinnung des Angeklagten die Rede gewesen zu sein. Man will möglicherweise eintauchen in die Formeln, die der politische Propaganda-Apparat in den letzten Jahren bereitgestellt hat. Dabei ist aber Vorsicht geboten. Längst distanzieren sich die maßgeblichen Politiker von den Reden, die sie vor nicht allzu langer Zeit gehalten haben, längst ist offenkundig, dass die zur Behandlung des SARS-CoV-2-Virus angebotenen Substanzen keinen Fremdschutz bewirkt haben und die indirekten Behandlungspflichten, die Personen auferlegt worden sind, ohne Grundlage waren. Längst wissen wir auch, dass die staatlichen Kontaktverbote und Nachweispflichten epidemiologisch wirkungslos waren. Es ist kaum anzunehmen, dass die Strafkammer bessere und andere Einsichten und Beweisergebnisse der Hauptverhandlung hat entnehmen können.
Deshalb ist die Aufgabe einer Begründung für die Strafzumessung so schwierig. Man kann dabei nicht die angebliche Vielzahl der Fälle heranziehen. Es handelt sich jeweils um den gleichen, im Tatsächlichen folgenlos gebliebenen Verstoß gegen zeitweilig geltendes positives Recht, das vor dem Hintergrund von Schutzvorstellungen erlassen worden ist, die sich inzwischen als unbegründet erwiesen haben und bei richtiger Tatsachenwürdigung auch niemals beschlossen worden wären. Man muss den Kollegen deshalb Zurückhaltung bei der Motivzuschreibung empfehlen. Wer in die Gesinnung des Angeklagten zu tief hineinsieht, auf den sieht die Gesinnungsfrage zurück. Ich erspare es mir, diese Gesinnungsfrage zu erörtern, weil sie abwegig ist.
In den Kriminalitätstheorien der letzten 60 Jahre ist aus den USA eine soziologische Deutung berühmt geworden, die fast alle praktizierenden Strafjuristen abgelehnt haben. Sie geht dahin, dass Straftaten nur deshalb solche sind, weil diejenigen, die strafen wollen, sie so bezeichnen. Man nannte das den Etikettierungsansatz oder „Labeling approach“. Die Täuschung im Rechtsverkehr, die gegenüber dem Angeklagten hier festgestellt worden ist, beruht auf nichts anderem als solcher Etikettierung. Man mag der Meinung sein, dass jedem positiven Gesetz – wie irrtümlich es gewesen sein mag – dann Gehorsam geschuldet wird, wenn es nicht der sogenannten „Radbruchschen Formel“ unterfällt, also so offensichtlich rechtswidrig und menschenfeindlich ist, dass ihm kein Rechtsgehorsam geschuldet wird.
Ich will nicht diskutieren, ob dahingehende Ansichten, die in der aktuellen Impfdiskussion auch vertreten werden, berechtigt sein könnten. Ich gehe vom geschriebenen Recht aus. Aber wenn man das tut, dann findet man als Tatrichter in einer solchen Lage lauter entlastende Umstände, und zwar solche, die eine unbedingte Freiheitsstrafe zu Lasten des Angeklagten ausschließen. Ich wiederhole und lege mich fest: Das Bochumer Urteil wird nicht bestätigt werden. Trotzdem wird der Arzt lange in Untersuchungshaft gesessen haben, und dieses Unrecht wird nicht aufgehoben. Es wird nur unkenntlich gemacht.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Homepage des „Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte“ (KRiStA).