Richard Wagners Roman “Das reiche Mädchen”
Eine Besprechung von Helmuth Frauendorfer
Eros und Thanatos – das sind die Motive der Literatur, seit es das fiktional geschriebene Wort gibt. Und die Variantenvielfalt ihrer Darstellung ist das, wovon Literatur bis heute lebt. Meistens sind diese Motive auch eingebettet in einen soziopolitischen Kontext, der ihnen neue Dimensionen, Konflikte und Entfaltungsmöglichkeiten eröffnet. In Richard Wagners neuestem Roman befindet sich die Liebe in einem Kampf der Kulturen. Und wie das so ist im Leben, wollen die Liebenden ihre Probleme erst mal nicht wahrhaben. Und wenn es zu spät ist, ist es zu spät…
Daß Liebe blutig enden kann, ist nicht neu, daß aber in Europa, in Deutschland eine Liebe zwischen den Kulturen zerrieben wird, ihren brutalen Tod finden kann – das wollen wir doch meistens gar nicht wahr-haben, weil es doch schicker ist, als anständige Gutmenschen nickend durch das Leben zu ziehen, statt kulturelle Unterschiede zu benennen.
Richard Wagner, aus dem rumänischen Banat stammender Schriftsteller, ist mindestens in seinen letzten beiden Essaybänden auch als scharfer Analytiker von Gesellschaftsstrukturen aufgefallen.
In dem Roman Das reiche Mädchen führt er uns vor, daß wir einen Kampf der Kulturen, Parallelgesellschaften hatten und haben, noch lange bevor diese Begriffe vom ausschließlichen Bezug auf den Islamismus dominiert wurden. In dem Roman
geht es um einen Ost-West-Konflikt, um einen Arm-Reich-Konflikt, aber auch um einen moralischen Konflikt, gar um – wieder alte Motive der Literatur – Schuld und Sühne.
Eine reiche junge Frau kümmert sich um Zigeuner in Osteuropa. Roma nennt sie sie. Sie ist Menschenrechtlerin und Ethnologin, heißt Bille und geht in Berlin eine Beziehung ein mit einem Objekt ihrer Studien, dem aus Serbien stammenden Roma Dejan, der hier Asylbewerber ist. Er zieht in ihre Wohnung, bald sind sie zu dritt, Kind Mira macht sie zur Familie.
Etwas haben diese beiden aus so unterschiedlichen Welten kommenden Menschen doch gemeinsam: Beide müssen damit Leben, daß ihre Elternteile ein Problem haben mit ihrer Vergangenheit bzw. ihrer Herkunft – bei Bille ist es der Vater, bei Dejan die Mutter. Diese, eine Sängerin, hat sich von der Welt der Zigeuner losgesagt, Billes Vater von seiner Verstrickung und der der Familienfirma Sundermann mit den Nazis. So tragen beide ein ähnliches unausgesprochenes Problem mit sich rum, das sie zu kompensieren versuchen.
Bille verschweigt am liebsten, daß sie reich ist, daß sie Sundermann heißt. Ihr Vater wie auch Onkel und Tante versuchen, durch gute Taten die mit der Verstrickung ins Nazi-Regime aufgeladene Schuld ungeschehen zu machen – z.B. durch die Gründung von Sundermann-Stiftungen, „florierende Orte der schönen Künste, der Begegnung und der Verhandlung öffentlicher Moral“ (S. 206). Tochter Bille flüchtet in andere Welten, erst in die der Indianer in den USA, dann in die der Roma in Osteuropa, auf der Suche nach einer neuen Identität, als käme damit die Unschuld ihrer Familie zurück.
Und Dejan weiß eigentlich bald gar nicht mehr, wer er ist: Von den anderen Roma in Berlin, mit denen er den Alltag verbringt, wird er als Schwächling verachtet, er sei kein richtiger Mann. Auch weil er nur bedingt und in kleinen Teilen an Billes Geld rankommt. Und auch weil sie wissen möchte, was er mit ihrem Geld macht. Das finden die anderen, die ihm als Autohändler helfen Billes Geld auszugeben, unerträglich. Und Billes Vorträge über Roma, zu denen sie Dejan mitnimmt, überfordern ihn. Die Arbeit an ihrem Buch über Roma läßt ihn zum Objekt ihrer Beobachtungen werden. Ein unerträglicher Zustand. Bald weiß er nicht mehr, ob er als Dejan reagiert oder als Roma, wie Bille sie sieht.
Als Bille plötzlich ein Messer bei ihm entdeckt und ihn deswegen zur Rede stellt, sagt er, jeder Rom trage ein Messer.
>>“Woher hast Du denn diese Erkenntnis?“ fragt sie.
„Von dir“, sagt er, „du weißt doch alles, du bist schließlich die Ethnologin, die Wissenschaftlerin. Was du sagst, ist Wissenschaft, also wahr. Die Völker befragen die Völkerkunde.“<< (S. 201)
Während sie immer mehr Romni werden will, hört er in seinem Identitätsverlust zunehmend Stimmen, hört auf eine Stimme, „die Stimme seines Königs“. Und Bille steht plötzlich dem König im Weg. Da greift Dejan zum Messer.
Als das Kind aufwacht, sagt es: „Es ist Blut in der Küche. … Blut im Schuh. Rucke di gu.“ Aber da ist auch die Polizei schon da.
Eine erschütternde Geschichte. Ganz nüchtern und auch mit einiger Ironie erzählt. Opulentes naturalistisches Schreiben ist Wagners Sache nicht. So schafft er sich die nötige Distanz zu seinem Stoff durch eine Erzählkonstruktion. Der Erzähler, der angeblich die wirkliche Bille Sundermann flüchtig gekannt haben soll, wird von einer Freundin, einer Filmemacherin, beauftragt, über Bille zu recherchieren und zusammen mit der Filmemacherin und deren Assistentin ein Drehbuch zu schreiben. So ist immer ein rationaler Bruch da, wenn die Geschichte um Bille und Dejan zu sentimental zu werden droht. Und auch eine zweite Reflektionsebene.
Kopftuch und Karikaturen – diese Konflikte sind uns präsent. Aber in all diesen Diskussionen sind wir meistens sehr zurückhaltend, aus Angst vor Vorverurteilungen, aus Angst als nicht politisch korrekt zu gelten. Die stillen tödlichen Kulturkonflikte in unserer Gesellschaft werden bei uns meistens erst gar nicht wahrgenommen – es sei denn das Opfer ist Ausländer, dann ist Fremdenfeindlichkeit immer zu vermuten und die Öffentlichkeit sorgt für Empörung und Proteste; oder es handelt sich um ein Kind oder mehr als nur einen Toten. So hätte die Geschichte, die Richard Wagner erzählt, auch eine wahre Begebenheit sein können – aus unserer Öffentlichkeit hätten wir kaum etwas darüber erfahren.
Richard Wagner, Das reiche Mädchen. Roman, Aufbau Verlag, 2007, 255 Seiten, 19,95 €