Planspiele zur Übung von Ausnahmesituationen gab es schon oft, da sind zufällige Überschneidungen mit der späteren Realität kein Wunder. Weniger zufällig ist es dagegen, dass die bei Planspielen geübten Maßnahmen auch Eingang in reale Entscheidungen finden.
Angesichts der 2020 immer strenger werdenden Corona-Maßnahmen geriet bald das „Event 201. A global pandemic exercise“ in den Fokus. Bei diesem Planspiel kamen am 18. Oktober 2019 in New York Vertreter internationaler Gremien, Unternehmen und der Politik zusammen, um eine hypothetische Pandemie am Reißbrett zu bekämpfen. Gastgeber war das Johns Hopkins Center for Health Security in Kooperation mit dem World Economic Forum und der Bill & Melinda Gates Foundation. Beraten wurde in dreieinhalb Stunden über den hypothetischen Ausbruch eines Coronavirus in Brasilien. Laut Homepage wurden „eine Reihe dramatischer, szenariobasierter, moderierter Diskussionen simuliert, in denen schwierige, lebensnahe Dilemmata im Zusammenhang mit der Reaktion auf eine hypothetische, aber wissenschaftlich plausible Pandemie behandelt“.
Aktive Spieler in dieser Simulation waren 15 internationale Führungskräfte, wie etwa Latoya D. Abbott, Senior Director für globale arbeitsmedizinische Versorgung bei der Hotelkette Marriott International; Sofia Borges, Senior Vice President der Stiftung der Vereinten Nationen; Brad Connett, Präsident der US-Dependance von Henry Schein, einem der marktführenden Hersteller medizinischer Geräte; Chris Elias, Präsident des globalen Entwicklungsprogramms der Bill & Melinda Gates Foundation; Adrian Thomas, Vice President im Bereich Globale Gesundheit für Johnson & Johnson; Stephen C. Redd, stellvertretender Direktor im Bereich Öffentlicher Gesundheitsdienst und Implementierungswissenschaft des CDC, einer Behörde des US-Gesundheitsministeriums oder Martin Knuchel, Senior Director and Head of Crisis, Emergency & Business Continuity Management für die Lufthansa-Gruppe.
Da diese Veranstaltung nur wenige Wochen vor dem offiziellen Ausbruch der Corona-„Pandemie“ stattfand, haftete ihr nach Bekanntwerden ein gewisser Beigeschmack an. Nicht zuletzt ging das Szenario davon aus, dass das betreffende Coronavirus von Fledermäusen auf Schweine und wiederum auf den Menschen überspringen und sich anschließend rasch verbreiten würde – vor allem durch Menschen mit „milden Symptomen“. Dass das Virus seinen Ursprung auf brasilianischen Schweinefarmen findet, ist offensichtlich ein Widerspruch zur Entstehung von Covid-19. Die Simulation ging davon aus, dass im ersten Jahr kein Impfstoff vorhanden sein würde und rechnete mit 65 Millionen Toten nach 18 Monaten. Die Pandemie fand in diesem fiktiven Szenario entweder ein Ende durch einen Impfstoff oder dadurch, dass 80 bis 90 Prozent der Weltbevölkerung in Kontakt mit dem Virus gekommen sind.
Die Veranstalter fühlten sich schon am 24. Januar 2020 berufen, in Bezug auf Covid-19 und das Planspiel auf der Homepage von Event 201 ein Statement abzugeben:
„Kürzlich erreichten das (Johns Hopkins) Center for Health Security Fragen, ob diese Pandemieübung den aktuellen Ausbruch des neuartigen Coronavirus in China vorhersagte. Um das klarzustellen: Das Center for Health Security und seine Partner haben bei unserer Planspiel-Übung keine Vorhersage getroffen. Für das Szenario haben wir eine fiktive Coronavirus-Pandemie nachgestellt, aber wir haben ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich nicht um eine Vorhersage handelt. Stattdessen diente die Übung dazu, die Herausforderungen bei der Vorbereitung und Reaktion auf eine sehr schwere Pandemie zu verdeutlichen. Wir sagen jetzt nicht voraus, dass der nCoV-2019-Ausbruch 65 Millionen Menschen töten wird. Obwohl unsere Planspiel-Übung ein fiktives neuartiges Coronavirus beinhaltete, sind die Inputs, die wir für die Modellierung der möglichen Auswirkungen dieses fiktiven Virus verwendet haben, nicht mit nCoV-2019 vergleichbar.“
Nur ein Raubkatzensprung
Seit einer knappen Woche sind nun die Affenpocken als neue Infektionskrankheit mit Pandemie-Potenzial in den Schlagzeilen. Am letzten Donnerstag traten sie zum ersten Mal in Deutschland auf. Wachsende Zahlen von Infektionen mit dem afrikanischen Erreger in Europa und Nordamerika alarmierten Regierungen, wie der Deutschlandfunk titelt. Gab sich Karl Lauterbach nach Bekanntwerden für seine Verhältnisse noch entspannt („Aufgrund der bisher vorliegenden Erkenntnisse gehen wir davon aus, dass das Virus nicht so leicht übertragbar ist und dass dieser Ausbruch eingegrenzt werden kann.“), arbeitet er nun schon an Isolations- und Quarantäne-Empfehlungen und macht sich über Impfempfehlungen „für besonders gefährdete Personen“ Gedanken. Die WHO forderte bereits den Einsatz bekannter Corona-Maßnahmen gegen die Affenpocken. Man kann sich des Eindrucks eines Dejá-vus nicht erwehren.
Karl Lauterbach konnte sich jedenfalls nicht verkneifen, bei Twitter bekanntzugeben, dass just am Tag des ersten Bekanntwerdens einer Affenpocken-Infektion in Deutschland die G7-Gesundheitsminister „ein Übungs-Szenario zu einem Ausbruch fiktiver ‚Leopardenpocken‘“ simuliert haben. Dieses Planspiel sei bereits seit Monaten von WHO und RKI organisiert worden. Offensichtlich ist es nur ein Raubkatzensprung von einer simulierten Leopardenpocken-Pandemie zu einem realen Ausbruch der Affenpocken …
Ähnlich wie bei Corona wurde nun bekannt, dass auch im Falle der Affenpocken ein Dokument existiert, das im Nachhinein teilweise wie eine Voraussage scheint.
„Biologische Ereignisse mit schweren Folgen“
Im November 2021 veröffentlichte die Non-Profit-Organisation NTI eine Datei mit dem Namen „Stärkung der globalen Systeme zur Vorbeugung und Reaktion auf biologische Bedrohungen mit hoher Auswirkung. Ergebnisse der 2021 in Zusammenarbeit mit der Münchner Sicherheitskonferenz durchgeführten Planspiel-Übung.“ NTI steht für „Nuclear Threat Initiative“ (Initiative für nukleare Bedrohungen) und bezeichnet sich auf ihrer Homepage als „gemeinnützige, unparteiische Organisation für globale Sicherheit, die sich auf die Verringerung atomarer und biologischer Bedrohungen konzentriert, die die Menschheit gefährden“ mit Sitz in Washington.
Ins Leben gerufen wurde die Non-Profit-Organisation 2001 von Ted Turner, dem Gründer des US-Fernsehsenders CNN und selbsternannten Philanthropen, sowie Sam Nunn, Ex-Senator des Bundesstaates Georgia. Das NTI erhielt für seine bisherige Arbeit unter anderem Lob vom ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama. Und es ist innerhalb von 16 Jahren mit rund 3,5 Millionen Dollar der Bill & Melinda Gates Foundation bedacht worden, zuletzt flossen rund 1 Millionen Dollar im Juli 2020 für „Impfentwicklung“.
Das Dokument präsentiert Ergebnisse eines Treffens, das vom NTI im März 2021 gemeinsam mit der Münchner Sicherheitskonferenz veranstaltet wurde. Auch letztere Stiftung erhielt bereits Spenden von Bill Gates in Höhe von insgesamt 1,4 Millionen Dollar. Einführend heißt es im Bericht: „Die Übung untersuchte Lücken in der nationalen und internationalen Biosicherheits- und Pandemievorbereitungsarchitektur und untersuchte Möglichkeiten zur Verbesserung der Präventions- und Reaktionskapazitäten für biologische Ereignisse mit schweren Folgen. Dieser Bericht fasst das Übungsszenario, die wichtigsten Ergebnisse der Diskussion sowie umsetzbare Empfehlungen für die internationale Gemeinschaft zusammen.“
Gewisse Glaskugel-Kompetenz
Das NTI bedankt sich für die Realisierung der Übung und des Reports bei Open Philantropy, eine ebenfalls mit Bill Gates‘ Foundation kooperierenden Stiftung. Im Laufe des Reports wird nun ein Szenario um ein Aufkommen der Affenpocken entworfen, das in gewisser Weise fast mit einer Punktlandung beginnt. Denn der rein hypothetische Ausbruch dieser Krankheit wird im Modell ausgerechnet auf den 15. Mai 2022 gelegt, was also beinahe auf den Tag genau dem Bekanntwerden des aktuellen Auftretens der Affenpocken in Europa entspricht.
Laut Dokument nahmen „an der Übung 19 hochrangige Führungskräfte und Experten aus Afrika, Nord- und Südamerika, Asien und Europa teil, die zusammen über jahrzehntelange Erfahrung in den Bereichen öffentliche Gesundheit, Biotechnologieindustrie, internationale Sicherheit und Philanthropie verfügen“. Darunter Dr. George Gao, unter anderem Generaldirektor des Chinesischen Zentrums für Krankheitskontrolle und -prävention; Dr. Ruxandra Draghia-Akli, globale Leiterin von Johnson & Johnson; Dr. Beth Cameron, Leitende Direktorin für globale Gesundheitssicherheit und Bioabwehr im Nationalen Sicherheitsrat des Weißen Hauses; Dr. John Nkengasong, Direktor der Africa Centres for Disease Control and Prevention oder Dr. Michael Ryan, geschäftsführender Direktor des WHO-Programms für gesundheitliche Notlagen.
Die Diskussion wurde in vier verschiedene Stufen der Affenpocken-Pandemie eingeteilt, für die jeweils ein Szenario entwickelt wurde, für das die Teilnehmer geeignete Maßnahmen diskutieren sollten. Schritt 1 ereignet sich im Planspiel vom 15. Mai bis zum 5. Juni 2022. Ein „ungewöhnlicher Stamm“ des Virus tritt zunächst im fiktiven Land Brinia auf, in dem Affenpocken normalerweise nicht vorkommen. Da in Brinia Feiertage sind, wird viel gereist und das Virus bricht global aus. „Im weiteren Verlauf des Szenarios stellt sich heraus, dass der ursprüngliche Ausbruch durch einen Terroranschlag verursacht wurde, bei dem ein Erreger verwendet wurde, der in einem Labor unter unzureichenden Biosicherheitsvorschriften und schwacher Aufsicht entwickelt wurde.“
Das Land Brinia wendet sich an die WHO mit der Bitte um medizinische Unterstützung.
Am 10. Januar 2023 gibt es bereits 70 Millionen Fälle und 1,3 Millionen Tote. Es stellt sich heraus, dass das Affenpockenvirus so entwickelt wurde, dass der Erreger impfresistent ist. Da weder Medikamente noch Impfungen helfen, muss auf nicht medizinische Maßnahmen wie die Reduzierung sozialer Kontakte und das Tragen von Masken gesetzt werden. Vorreiter ist hier die fiktive Republik Dranma mit besonders aggressiven Maßnahmen. Tests und Kontaktverfolgungen spielen ebenfalls eine große Rolle. Das fiktive Land Cardus hingegen erlaubt weiterhin einen offenen wissenschaftlichen Diskurs und muss daher mit erhöhten Krankheits- und Sterbefällen rechnen.
Hochgradig ansteckender, tödlicher Krankheitserreger
Am 10. Mai 2023 wird dann die Laborherkunft des Virus sowie die Freisetzung durch einen Terroranschlag enthüllt, bei mittlerweile 27 Millionen Toten. Der Geheimdienst von Brinia hat herausgefunden, dass das manipulierte Affenpockenvirus illegal im führenden Institut für Virologie des fiktiven Land Arnica entwickelt wurde. Da die beiden benachbarten Länder seit langem verfeindet sind, hat die Terroristengruppe SPA aus Arnica mit sympathisierenden Laborwissenschaftlern kooperiert. Diese entwickelten den hochgradig ansteckenden, tödlichen Krankheitserreger und ließen ihn dann durch die Terroristen am Nationalfeiertag in Brinia an Bahnhöfen verteilen. Weiter heißt es im Bericht:
„Die SPA hatte die unzureichende Überwachung der biowissenschaftlichen Forschungslabors durch die arnikanische Regierung ausgenutzt. SPA-Sympathisanten, die in Arnikas führendem virologischen Institut arbeiteten, nutzten öffentlich zugängliche wissenschaftliche Veröffentlichungen, um ihre Arbeit an der Veränderung des Affenpockenvirus zu leiten, um es übertragbarer und resistent gegen die derzeit verfügbaren Impfstoffe zu machen.“
Am 1. Dezember 2023 herrscht bei weltweit 271 Millionen Toten eine sehr unterschiedliche Lage in den einzelnen Ländern, aufgrund verschiedenen Umgangs mit dem Virus.
Zu viele „Silos“ für die Entscheidungsfindung
Die Ergebnisse der Diskussionen der einzelnen Schritte wurden anschließend zusammengefasst. Die Teilnehmer hätten sich darauf geeinigt, dass die internationale Gemeinschaft „ein robusteres, transparenteres Erkennungs-, Bewertungs- und Frühwarnsystem (braucht), das schnell umsetzbare Warnungen vor Pandemierisiken übermitteln kann“. Eine zentrale Rolle soll hier die WHO spielen, die noch weiter zu konkreten Handlungsvorschlägen für einzelne Staaten bevollmächtigt werden soll.
„Die Regierungen sollten ihre Vorbereitung verbessern, indem sie auf nationaler Ebene Pandemie-Reaktionspläne entwickeln, die auf einem kohärenten System von ‚Auslösern‘ beruhen, die vorausschauende Maßnahmen auf einer ‚No-regrets‘-Basis auslösen“, heißt es weiter. Bestimmte Trigger sollen frühzeitige, sofortige Handlungen seitens einzelner Staaten auslösen, um eine mutmaßlich tödliche Pandemie zu verhindern. Vor allem Maskenpflicht und die Verhinderung von Versammlungen werden als Antwort auf die Trigger angewandt. Einige Teilnehmer sollen hier angemerkt haben, dass die meisten nationalen Regierungen zu viele „Silos“ für die Entscheidungsfindung hätten, die für eine erfolgreiche Pandemiebekämpfung schnell integriert werden müssten. „Interne bürokratische Hürden“ würden zu kritischen Verzögerungen führen. Offenbar ist damit der Abbau demokratischer Gremien gemeint. Ein Teilnehmer kommentierte dieses Stadium mit: „Es wird chaotisch und beängstigend sein, aber man kann nicht warten, bis man Gewissheit hat. Man muss ohne Reue handeln.“
Die dritte Schlussfolgerung lautet: „Das internationale System zur Regelung der biologischen Forschung mit doppeltem Verwendungszweck (dem Potenzial missbraucht zu werden, Anm.d.Red.) ist weder auf die heutigen Sicherheitsanforderungen vorbereitet, noch ist es auf die erheblich größeren Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Während des gesamten Lebenszyklus der biowissenschaftlichen Forschung und Entwicklung besteht Bedarf an Risikominderung.“
Diese erhöhte Sicherheit im Forschungsbereich soll durch Zusammenarbeit von „staatlichen, philanthropischen und industriellen Geldgebern“ gewährleistet werden. Eine internationale Einrichtung zur Verringerung neu auftretender biologischer Risiken im Zusammenhang mit raschen technologischen Fortschritten soll hierzu eingerichtet werden. Ein Teilnehmer äußerte diesbezüglich: „Der verantwortungsvolle Umgang mit der Biotechnologie und der biomedizinischen Forschung kann nicht in einer einzelnen Institution gelöst werden. Sie erfordert einen vielschichtigen Ansatz, der Normen und Standards, nationale Vorschriften und regionale Strategien umfasst. Unternehmen, Fachgesellschaften, Geldgeber und Medien können alle eine wichtige Rolle spielen.“
Die vierte Erkenntnis lautet: „Vielen Ländern auf der ganzen Welt fehlt es derzeit an finanziellen Mitteln, um wesentliche nationale Investitionen in die Pandemievorsorge zu tätigen.“ Die Pandemievorsorge soll ein fester Punkt im Haushalt eines jeden Staates werden. „Nachhaltige Finanzierungsmechanismen“ sollen dies ermöglichen, zu diesem Zwecke soll ein einziger Finanzierungstopf etabliert werden.
Internationales Geflecht aus Politik, Wirtschaft und NGOs
Es fällt schwer, zu beurteilen, was von diesem Dokument zu halten ist. Fest steht wohl, dass sich ein Zusammenschluss aus NGOs, Regierungsgremien und Wirtschaft wiederholt und mit großer Ernsthaftigkeit mit dem hypothetischen Ausbruch einer Pandemie beschäftigt.
Auffällig ist bei den angebrachten Lösungsvorschlägen, dass stets ein internationales Geflecht aus Politik, Wirtschaft und NGOs zu den entscheidenden Protagonisten gehört, während den demokratisch legitimierten Gremien in den Staaten, in denen es sie gibt, offensichtlich keine entscheidende Rolle zugebilligt wird.
Planspiele sind ein oft gebrauchtes Mittel zur Übung von Ausnahme-Situationen, da kommen dann auch zufällige Überschneidungen mit der späteren Realität vor. Weniger zufällig ist es dagegen, dass die bei Planspielen geübten Maßnahmen bei Politikern im Ernstfall auch Eingang in die realen Entscheidungen finden. Insofern sollte man sich all diese Übungen schon genauer anschauen.
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