Hansjörg Müller / 10.04.2016 / 11:06 / 4 / Seite ausdrucken

Das Placebo-Referendum

Am Mittwoch haben die Niederländer darüber abgestimmt, ob die Europäische Union ein Assoziierungsabkommen mit der Ukraine abschliessen soll. Mehr als 30 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich, über 60 Prozent von ihnen sagten Nein. Das Ergebnis der Abstimmung ist ebenso ärgerlich wie die Tatsache, dass sie überhaupt stattgefunden hat. Den meisten, die da ihre Stimme abgegeben haben, dürfte die Frage, um die es ging, egal gewesen sein. Durch das Assoziierungsabkommen (das noch nicht endgültig gestorben ist) würden Handelsbarrieren zwischen der Ukraine und der EU weitgehend beseitigt. Dagegen kann niemand, der auch nur das geringste Gespür für wirtschaftliche Zusammenhänge hat, etwas einwenden, selbst wenn er sich zu den EU-Gegnern oder -Skeptikern zählt.

Vor allem aber hätte Wladimir Putin gewonnen, wenn das Abkommen nicht in Kraft träte. Bereits 2013 wollten die EU und die Ukraine zum Abschluss kommen. Russlands Reaktion bestand darin, die Ukraine zu überfallen und weite Teile von deren Territorium zu besetzen. Das Abkommen nicht zu unterzeichnen, würde bedeuten, dass sich der Westen den Launen eines Gewaltherrschers beugt.

Was die niederländischen Wähler wollten, war, «ein Zeichen zu setzen», wie eine populäre Redensart lautet, ein Zeichen gegen die EU. Dass es hier um etwas Bedeutenderes ging als um die EU, nämlich um die Glaubwürdigkeit des Westens, dafür interessierte sich bereits im Abstimmungskampf kaum jemand. Was kümmert es die niederländischen Wähler, so könnte man frei nach Goethe fragen, wenn hinten, weit, in der Ukraine, die Völker aufeinander schlagen?

Es bleibt die Frage, welchen Schluss man aus dem Ergebnis des Referendums ziehen muss: Haben sich die niederländischen Stimmbürger als unreif erwiesen, sind sie der direkten Demokratie etwa unwürdig? Eher schon muss man die Regierenden tadeln. Wer die Bürger kaum einmal abstimmen lässt, muss sich nicht wundern, wenn diese, sobald sie doch einmal dürfen, Zeichen setzen: In der Vergangenheit hätte es Volksentscheide gebraucht, und zwar über die Fragen, die wirklich wichtig waren. Spätestens mit dem Maastrichter Vertrag von 1992 wurde die Souveränität der einzelnen Mitgliedsstaaten soweit eingeschränkt, dass die Regierenden die Zustimmung des Souveräns hätten einholen müssen.

Der Vertrag beinhaltete auch die Schaffung einer Gemeinschaftswährung. Niemand kann heute sagen, wie eine Abstimmung über den Euro in den Niederlanden und anderswo ausgegangen wäre. Die Annahme allerdings, dass sich die Bürger als vernünftiger erwiesen hätten als die Regierungschefs und Europa dadurch eine grosse Krise erspart hätten, erscheint nicht so weit hergeholt.

Dass Grundsatzfragen durchaus auch mit jahrzehntelanger Verzögerung noch geklärt werden können, zeigt Grossbritannien, wo Ende Juni über die EU-Mitgliedschaft abgestimmt wird. Den Niederländern dagegen bot man eine Placebo-Abstimmung, eine Gelegenheit, im Vorbeigehen den eigenen Unmut zum Ausdruck zu bringen, ohne darüber nachzudenken, welche Folgen dies haben könnte.

Vielleicht ist es ja so, dass direkte Demokratie eine gewisse Übung erfordert. Es gilt zu differenzieren, wie es die Schweizer immer wieder tun: für die Ausschaffungs-Initiative, gegen die Durchsetzungs-Initiative. Eine einfache Regel zu beachten, kann dabei nicht schaden: Man schaut sich an, worum es geht, und nimmt das Thema ernst. Wenn es einen nicht interessiert, bleibt man zu Hause: überlegte Entscheidungen treffen statt Zeichen setzen.

Zuerst erschienen in der Basler Zeitung hier.

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Ulrich Jäger / 10.04.2016

“Niemand kann heute sagen, wie eine Abstimmung über den Euro in den Niederlanden und anderswo ausgegangen wäre.” Doch, Herr Müller! Am 28. September 2000 fand in Dänemark ein Volksentscheid zur Euro-Einführung statt. Das Ergebnis ist bekannt, die Dänen zahlen immer noch mit der Krone und eine erneute Diskussion über eine Euro-Einführung ist in der Zwischenzeit auch wieder vom Tisch.

Ulrich Jäger / 10.04.2016

“Niemand kann heute sagen, wie eine Abstimmung über den Euro in den Niederlanden und anderswo ausgegangen wäre.” Doch, HerrMüller! Am 28. September 2000 fand in Dänemark ein Volksentscheid zur Euro-Einführung statt. Das Ergebnis ist bekannt, die Dänen zahlen immer noch mit der Krone und eine erneute Diskussion über eine Euro-Einführung ist in der Zwischenzeit auch wieder vom Tisch.

Rolf Pietzsch / 10.04.2016

Da bin ich ganz anderer Auffassung, als der Autor. Was hat die EU in der Ukraine zu suchen? Es gibt schon ein Freihandelsabkommen der Ukraine mit Russland und traditionell lange Beziehungen zwischen beiden Ländern, nicht nur kommerziell. Geht es nicht vielleicht um die Ausdehnung des westlichen Einflusses einschließlich der NATO in Richtung Russland? Wollte man den russischen Flottenstützpunkt in Sewastopol kalt enteignen? Die Kämpfe in der Ostukraine begannen erst 2014 nach dem Bekanntwerden der Bemühungen der EU. Nicht die Russen, sondern wir haben die dortigen Probleme verursacht. Putin als Despoten zu beschimpfen ist billig. Er vertritt die Interessen seiner russischen Bevölkerung, jedenfalls der Mehrheit davon. Von Frau Merkel kann man Gleiches meiner Meinung nach nicht mehr behaupten. Das Assoziierungsabkommen ist die Fortführung oder Wiederbelebung des kalten Krieges. Vielleicht haben viele Niederländer das auch so gesehen, dann sind sie nicht so naiv wie der Autor.

Andreas Rochow / 10.04.2016

Die Voraussetzungen unter denen das Referendum in den Niederlanden so und nicht anders verlaufen ist, können aber auch einem ganz reifen und gesunden Gefühl des Wahlvolks zu verdanken sein. Möglicherweise wird über den Assoziationsvertrag, der ja die Vorstufe zu einem EU-Beitritt ist, zur Unzeit nachgedacht. Schließlich steht die Ukraine mit ihrem korrupten Präsidenten im Krieg mit Russland. Auch innerukrainisch besteht ganz offenbar keine Einigkeit über den Willen zur EU-Annäherung und das Volk wurde selbstverständlich nicht dazu befragt. Und Einstimmigkeit kann man aber nicht erzwingen! Die Zustimmungsvoten der anderen 27 EU-Mitgliedsländer sind zustande gekommen, ohne die Bürger zu befragen. Das eindeutige NEE der Niederländer steht vielleicht auch für die Millionen ungefragter und ungehörter EU-Bürger.

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