Es gibt ein paar Phantome, die durch die politische Diskussion geistern: Wenn es um die Auslegung von Gesetzen geht, ist es „der Wille des Gesetzgebers“, wenn es um den Islam geht, sind es „die religiösen Gefühle“ der Muslime, wenn es um die Sicherheit Israels geht, ist es die ominöse „Staatsräson“ und wenn es um die Bildung der Regierung nach einer Wahl geht, ist es „der Wählerwille“.
Das Besondere an Phantomen ist bekanntlich, dass sie noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat, sodass Zweifel angebracht sind, ob sie überhaupt existieren. Nun kann man über das, was sich in diesen Tagen in Erfurt ereignet, politisch sicher unterschiedlicher Meinung sein. Das bleibt jedem unbenommen. Schließlich haben wir Meinungsfreiheit. Und die gilt auch (und gerade) für besonders abwegige Meinungen.
Doch wer in den Ereignissen einen schweren Schaden für die Demokratie sieht, dem kann man nur empfehlen, einen Blick ins Gesetz zu werfen – in diesem Fall die Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993. Im Gegensatz zum Grundgesetz wird der „Wählerwille“ in der thüringischen Verfassung sogar erwähnt: Nach Artikel 45 Satz 2 verwirklicht das Volk „seinen Willen durch Wahlen, Volksbegehren und Volksentscheid“. Danach handelt es nur noch „mittelbar durch die verfassungsgemäß bestellten Organe“ der drei Staatsgewalten. In diesem Fall geht es nur um den Landtag und seine Mitglieder, die Abgeordneten.
Ein Musterbeispiel dafür, wie Demokratie funktioniert
Diese „sind die Vertreter aller Bürger des Landes. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich“ (Artikel 53 Absatz 1), wobei es rechtlich nicht darauf ankommt, ob sie tatsächlich ein solches besitzen. „Der Ministerpräsident wird vom Landtag mit der Mehrheit seiner Mitglieder ohne Aussprache in geheimer Abstimmung gewählt. Erhält im ersten Wahlgang niemand diese Mehrheit, so findet ein neuer Wahlgang statt.
Kommt die Wahl auch im zweiten Wahlgang nicht zustande, so ist gewählt, wer in einem weiteren Wahlgang die meisten Stimmen erhält“ (Artikel 70 Absatz 3). Der Ministerpräsident muss weder der stärksten Partei noch überhaupt einer Partei angehören, noch muss er (ebenso wenig wie der Bundeskanzler) überhaupt dem Parlament angehören.
Demokratie kommt bekanntlich aus dem Griechischen und bedeutet Volksherrschaft (von „demos“ Volk und „kratein“ herrschen). Und wenn das Volk herrscht, vermittelt durch seine Vertreter, die Abgeordneten, dann können eben solche Ergebnisse wie in Erfurt herauskommen. Sie müssen, wie gesagt, nicht jedem politisch in den Kram passen, aber demokratisch sind sie allemal. Genau genommen ist Erfurt sogar ein Musterbeispiel dafür, wie Demokratie funktioniert.