Manchmal kommt es vor, dass bei Interviews die Fragen fast interessanter sind als die Antworten. So geschehen beim Gespräch der Wochenzeitung DIE ZEIT mit Alexander Gauland vom 28. April 2016. Mehrmals wird der AfD-Politiker darauf angesprochen, ob er sich denn nicht über das Post-Auschwitz-Deutschland, das sich „in Negation zum Nationalsozialismus entwickelt hat“, freuen könne: „Deutschland ist ökologischer, weiblicher, offener, föderaler, weniger militärisch. Das macht uns so erfolgreich. Können Sie sich darüber nicht freuen?“ Und etwas später: „Dass ein Volk in der Lage ist, Schlüsse aus seiner Vergangenheit zu ziehen und dadurch ein besseres Volk zu werden, ist doch etwas Großartiges.“
Halten wir mal für einen Moment die Luft an und lassen die Aussagen auf uns wirken: Die Deutschen sind also ein besseres Volk geworden, was selbstredend großartig ist. Und zwar in Negation zum Nationalsozialismus. Mit diesem haben die Deutschen gekämpft, haben ihn besiegt und sind daraus schöner und erhabener hervorgegangen als jemals zuvor. Würde man dieses neue deutsche Post-Auschwitz-Narrativ in einen Mythos gießen, würde er merkwürdigerweise an die Nibelungensaga erinnern: der Kampf mit dem Drachen ließ uns (fast) unbesiegbar werden. Seitdem tragen wir den Ring der geläuterten Weltweisheit am Finger. Siegfried lässt grüßen.
Aus der Dämmerung der Götter entwickelt sich eine strahlende Morgenröte
Weiter: Deutschland ist seitdem ökologischer, weiblicher, offener und pazifistischer geworden. Auch dieses Narrativ ist schwer mythengetränkt. Es sind die Rheintöchter aus dem Rheingold, die für Weiblichkeit und Naturhingabe stehen und denen wir unsere Schuld und unser Streben darzubringen hatten. Im Hintergrund walten die grünen Gottheiten Freya, Fricka und Erda in Person von Claudia Roth, Katrin Göring-Eckardt und Renate Künast. Indem wir Deutschen ihnen unsere Siegfried-Eigenschaften des Männlichen, Wehrhaften, und Kriegerischen opferten, sind wir zu besseren Menschen geworden, die wieder zur Natur zurückfanden. Hier fällt der Vorhang und aus der Dämmerung der Götter entwickelt sich eine strahlende Morgenröte. Ist das nicht großartig?
Nun kann man erhebliche Zweifel an diesem neuen deutschen Post-Auschwitz-Narrativ haben, aber jedes Volk braucht halt seine Mythen, die sich in ihm gnadenlos vollziehen. Da hat sich wohl die letzten Jahrhunderte dann doch nicht allzu viel geändert. Und ob die Deutschen nach all den Anstrengungen der Nazis, was Vegetarismus, naturnahe Landwirtschaft, Ächtung von Pelzen und Verbot von Tierversuchen angeht, wirklich „ökologischer“ geworden sind, ist zumindest fragwürdig. Genauso viel spricht dafür, dass dieser Drall zur Vergottung der Natur, eine sehr, sehr alte deutsche Eigenschaft ist, mit deren Fundus sich jede Herrschaft vorzüglich optimieren lässt.
Was jedoch sicher ist: die Deutschen ziehen nicht mehr marodierend durch Europa und legen alles in Schutt und Asche. Stattdessen sind die Panzer durch den Euro ersetzt, und die Griechen und einige andere Südländer der Euro-Zone können ein Lied davon singen, dass kein Stein auf dem anderen bleibt. Dennoch: wir sind weniger militärisch geworden, das stimmt schon. Und offener ganz sicher auch, denn unsere Weigerung, die Landesgrenzen vor unkontrollierter Einwanderung zu schließen, ist ja wohl der untrügliche Beweis für unsere schöne neue Offenheit.
Da grüßen Woglinde, Wellgunde und Floßhilde schon wieder
Auch weiblicher sollen wir Deutschen geworden sein. Das dürfte jedoch nicht nur an unser aller Bundeskanzlerin liegen, denn eine einzige Frau, selbst wenn sie einem Land vorsteht, macht noch keinen weiblichen Sommer. Auch die Statistik gibt eher wenig her, wie weiblich Deutschland wirklich geworden ist: mit 51 Prozent Frauenanteil an der Bevölkerung befindet sich Deutschland absolut im Lot, wenn man es mit den anderen europäischen Ländern vergleicht. Da wird es in Deutschland 1945, nachdem es viel mehr Männer als Frauen im Krieg dahingerafft hatte, weiblicher zugegangen sein. Aber, so scheint es, weiblich steht hier eher als Platzhalter für ökologisch, offen, pazifistisch. Da grüßen Woglinde, Wellgunde und Floßhilde schon wieder.
Was dem stellvertretenden Chefredakteur der ZEIT, Bernd Ulrich, der das Interview mit Gauland führte, bei all den Lobliedern auf das Post-Auschwitz-Deutschland zu erwähnen vergaß: wie sieht es denn mit der Nibelungentreue bei uns Post-Auschwitz-Deutschen aus? Haben wir sie wie das Männliche, Unökologische und Bellizistische überwunden oder unterwerfen wir uns weiterhin einem unsichtbaren „ewigen Vertrag“, auf den sich jeder deutsche Führer blind verlassen kann?
Nun, was dieser Tage wieder deutlich wurde: wir Deutsche schätzen Politiker, die ohne viel Aufhebens einfach zurücktreten, gar nicht. Und wenn sie aus Großbritannien kommen, noch viel weniger. Im Gegenteil, wir verachten sie aus tiefstem Herzen und haben - Weiblichkeit hin, Pazifismus her - kein Problem damit, ihnen die wüstesten Beleidigungen an den Kopf zu werfen und ihnen den Untergang an den Hals zu wünschen. DIE ZEIT ist dabei ganz weit vorne mit dabei. Unseren eigenen Herrschenden jedoch, selbst wenn ihre Politik nachweislich krachend gescheitert ist und sie sich nur noch planlos an die letzten verbliebenen Strohhalme klammern, halten wir die Treue bis zum bitteren Ende. Natürlich auch DIE ZEIT. „Das ist der größte Vorwurf an die Deutschen: Dass sie trotz ihrer Intelligenz und trotz ihres Mutes immer die Macht anhimmeln.“ (Winston Churchill)
Jeden Tag für das Wohlsein der Kanzlerin beten
Nun ist die offen zur Schau getragene Anhimmelung der Macht in Deutschland seit 1945 verpönt. Das neue Ideal des geläuterten Deutschen heißt Widerstand. Was aber tun, wenn die Macht als so überragend gut und weise empfunden wird, dass man nichts lieber täte, als jeden Tag Blumenkränze zu flechten und für das Wohlsein der Kanzlerin zu beten? Man bläst einen Popanz auf und behauptet, dass ein Monster sein Haupt schröcklichst erhoben hat. So kann man unter die wohlig warme Decke der Mächtigen schlüpfen und gleichzeitig der selbst auferlegten „historischen Verantwortung“ gerecht werden. Die Dunja Hayalis und Anja Reschkes dieser Republik schaffen es ja problemlos, das, was gestern noch „voll Nazi“ war, schweigend zu übergehen, sobald es - offen oder versteckt - Vorgabe der Herrschenden geworden ist. Dieses Kunststück, sich als Widerstandskämpfer zu gerieren und gleichzeitig die Macht anzuhimmeln, das wiederum hat wirklich erst der Post-Auschwitz-Deutsche geschafft.
Wenn es nach den „Widerstandskämpfern für die Herrschenden“ ginge, sollten wir Deutschen ein Volk von Stammtischkämpfern werden. Nein, dieser Begriff ist nicht als Witz gemeint. Ein, wie es heißt, „parteiübergreifendes Bündnis“ mit dem Namen „Aufstehen gegen Rassismus“ hat sich zur Aufgabe gemacht, im Jahr 2016 in Deutschland 25.000 Stammtischkämpfer auszubilden. Natürlich ausgestattet mit üppiger staatlicher Förderung. Zu den bisherigen Unterzeichnern des Aufrufes zählen Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), SPD-Generalsekretärin Katarina Barley, die Partei- und Fraktionschefs der Grünen, die Linke-Parteichefs, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Ayman Mazyek, und einige andere hinlänglich bekannte Größen aus dem politischen Showbusiness.
Mit pädagogischem Furor Schlachten gegen Popanze
Auf der Facebook-Seite des Bündnisses heißt es: „Die an der Kampagne beteiligten Organisationen haben sich zum Ziel gesetzt sogenannte Stammtischkämpfer*innen auszubilden, die gegen Rassismus und rechtsaffine Haltungen aktiv werden.“ Sage einer noch, wir lebten in postheroischen Zeiten! Der neue Siegfried ist ein Stammtischkämpfer gegen jede Form des Rechtspopulismus. Das neu geschmiedete Schwert heißt – was immer das bedeuten mag - „gegen rechtsaffine Haltungen“ und ein rechter Rassist ist jeder, der dem Credo dieses Bündnisses nicht vorbehaltlos zustimmt: „Wir werden weiterhin Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen. Asyl ist Menschenrecht.“
Nun sollen also 25.000 staatlich alimentierte und behördlich ausgebildete Stammtischkämpfer in den Kampf gegen das Böse geschickt werden. Wenn es ob der verqueren Prioritäten nicht so verdammt traurig wäre, man könnte den deutschen Michel, der sich am Stammtisch zum Siegfried hochturnt, für eine komödiantische Erfindung halten. Aber es ist ernst gemeint dieses Wesen, das sich allein „in Negation zum Nationalsozialismus“ entwickelt hat und nun mit pädagogischem Furor Schlachten gegen Popanze kämpft. Jedes Land hat die Lügen, an die es selbst gerne glaubt.