Nach der Veröffentlichung von "Deutschland schafft sich ab" (2010) hatte es zu den größten Aufregern gehört, dass ich Ergebnisse der Intelligenzforschung zitierte, wonach Unterschiede der bei Tests gemessenen Intelligenzleistung zu 50 bis 80 Prozent erblich sind. Zwei renommierte Intelligenzforscher kamen wenige Tage nach dem Erscheinen des Buches in einem FAZ-Artikel zu dem Schluss, dass ich die wissenschaftliche Literatur richtig verstanden und zutreffend zitiert hätte. Wörtlich schrieben sie: "Die von Sarrazin angegebenen Zahlen, die sich auf die Bedeutung der Genetik für Intelligenzunterschiede beziehen, sind korrekt."[1] Das interessierte aber niemanden, die Aufregung ging weiter.
Anderthalb Jahre später widmete Dieter E. Zimmer der Frage "Ist Intelligenz erblich?" ein ganzes Buch und zog das Fazit: "Es ist so robust erwiesen, wie etwas in den Naturwissenschaften überhaupt etwas erwiesen sein kann, dass die Unterschiede in der von IQ-Tests gemessenen Intelligenz bei Erwachsenen zu mindestens 60 bis 75 Prozent, bei Kindern zu 40 Prozent auf Unterschiede im Genotyp zurückgehen ... Was die Gene vorherbestimmen, ist kein fester IQ-Wert, sondern ein Potential, aus und mit der Umwelt zu lernen, wie man analytisch denkt. ... Lernen und Trainieren erhöhen die Intelligenz, aber nur in Grenzen."[2] Zimmers Buch fand nur eine lauwarme Aufnahme. Widersprüche zu seinen Schlussfolgerungen in der politischen Publizistik oder in den Feuilletons habe ich damals nicht registriert.
Der Grund für den publizistischen und politischen Zorn auf mich war mir natürlich klar: Ich hatte in Frage gestellt, dass der Mensch beliebig formbar ist und im Wesentlichen durch seine Umwelt bestimmt wird. Damit hatte ich ein zentrales Tabu des herrschenden Zeitgeistes verletzt und wurde entsprechend abgestraft. Was Wissenschaftler folgenlos schreiben durften, durfte eine ehemaliger Politiker wie ich noch lange nicht öffentlich sagen. 2014 widmete ich dieser Frage in "Der neue Tugendterror" erneut längere Passagen. Diesmal zogen es die Medien vor, das Thema zu beschweigen. Bei der Konzeption und Abfassung von "Wunschdenken" plante ich, eine erneute Intelligenzdebatte zu vermeiden. Alles aus meiner Sicht Notwendige war dazu gesagt, und dabei sollte es auch bleiben.
Die kognitive Kompetenz speist sich aus vielen Quellen
In "Wunschdenken" behandele ich unter anderem die Quellen wirtschaftlichen Wohlstands. Dabei ist die Erkenntnis zentral, dass das menschliche Wissen, die Summe der kognitiven Kompetenzen, die vornehmliche Wohlstandquelle ist. Daraus ergibt sich die große Bedeutung eines leistungsfähigen Bildungssystems. Unterschiede im Wissenskapital erklären weitestgehend die Wohlstandsunterschiede zwischen Staaten und Gesellschaften. Das ist eine gesicherte Erkenntnis der Bildungsforschung. Ebenso gesichert ist, dass sich die kognitiven Kompetenzen aus vielen Quellen speisen, dem Bildungssystem, der familiären Herkunft, der Sozialisation in einer bestimmten Kultur, aber natürlich auch dem angeborenen individuellen Potential. Politisch kann man also eine Menge tun, und das muss man auch.
Kein Weg führt aber daran vorbei, dass das Gefälle der kognitiven Kompetenzen international sehr groß ist, dass Einwanderer mit ihrer Herkunftskultur grundsätzlich auch ihre kognitiven Kompetenzen mitbringen und diese weitgehend an ihre Kinder weitergeben. Was das bedeutet und was daraus folgt, führe ich auf vielen Seiten aus.
Ich fand es dann etwas überraschend, dass die Fragen der FAS in einem Interview zu "Wunschdenken" vornehmlich dem Versuch dienten, mich einseitig auf genetische Aussagen festzulegen. Der Versuch war nicht erfolgreich, ich blieb dabei, die Wirklichkeit so differenziert zu beschreiben, wie sie ist.[3] Eine Woche später schob mir der Molekularbiologe Karl-Friedrich Fischbach in einem FAS-Artikel das unsinnige und falsche Zitat unter "Dummheit ist erblich".[4] Offenbar wollte er erneut die längst abgeschlossene Intelligenzdebatte führen, die aber gar nicht der Gegenstand von "Wunschdenken" ist. Die "Umweltabhängigkeit der messbaren Intelligenz", die er als scheinbar neues Argument gegen mich vorbrachte, hatte ich bereits in "Deutschland schafft sich ab" diskutiert, teilweise bejaht und dazu den sogenannten Flynn-Effekt erläutert - benannt nach seinem Entdecker, dem Psychologen James R. Flynn. Dessen damals jüngstes Buch "Are We Getting Smarter?" hatte ich 2014 in "Der neue Tugendterror" zitiert.
Adoptivkinder nehmen nicht die Intelligenz der Adoptiveltern auf
Fischbach mag etwas von Genetik verstehen, die Intelligenzforschung ist definitiv nicht sein Fachgebiet. Fälschlich behauptet Fischbach, dass Adoptivkinder die Intelligenz ihrer Adoptiveltern annehmen. Für erwachsene Adoptivkinder ist das Gegenteil wahr. Ihr IQ weist keine statistisch signifikante Korrelation zum IQ ihrer Adoptiveltern auf, wohl aber zum IQ der ihnen unbekannten leiblichen Eltern. Unterschiede in der häuslichen Umgebung des Kindes produzieren keine Unterschiede bei der gemessenen Intelligenz der erwachsenen Kinder.[5]
In "Wunschdenken" lasse ich die ganze Intelligenzdebatte links liegen und arbeite stattdessen mit dem in der Bildungsforschung gebräuchlichen Begriff der "kognitiven Kompetenzen", wie er jedem Pisa-Test zugrunde liegt. Dass die kognitiven Kompetenzen, neben vielen anderen Einflussfaktoren, auch von der individuellen Intelligenz beeinflusst werden, ist richtig, tut aber nichts zur Sache. Die weltweiten Unterschiede in den kognitiven Kompetenzen können wir messen. Spekulationen über das relative Gewicht der verschiedenen Einflussgrößen, die auf die gemessenen kognitiven Kompetenzen einwirken, habe ich bewusst nicht angestellt. Sie sind für meine Argumentation auch gar nicht nötig.
Der linke Journalist und gelernte Philosoph Arno Widmann ging in seinem kritischen Eifer noch weiter als Fischbach. Seine Rezension in der Frankfurter Rundschau und der Berliner Zeitung erhielt den Aufmacher "Thilo Sarrazin erklärt fehlende Intelligenz für vererbbar".[6] Offenbar konnte er mit dem Begriff der kognitiven Kompetenz nichts anfangen. Er erfand für die Zwecke seiner Rezension den von mir gar nicht benutzten, völlig sinnfreien Begriff der "kognitiven Intelligenz" und verwendete ihn nicht weniger als neunmal. Gleichzeitig kritisierte er, dieser Begriff lasse "sich sinnvoll überhaupt nicht auf ganze Bevölkerungsgruppen, geschweige den in der fragwürdigen Welt der Völkerpsychologie einsetzen".
Stimmt, das habe ich ja auch gar nicht getan. Stattdessen habe ich eine Fülle staubtrockener Statistiken zum Vergleich der in der Bildungsforschung gemessenen kognitiven Kompetenzen gebracht und diese näher erläutert. Arno Widmann hat in seiner Rezension ein von ihm selbst geschaffenes Phantom bekämpft, offenbar ohne es zu merken.
Einmal Holocaust, zweimal Hitler und zehnmal Rassismus
Mein Verlag verlangte von der Redaktionsgemeinschaft DuMont, zu der beide Zeitungen gehören, eine entsprechende Richtigstellung. Daraufhin wurde im Onlinetext der Frankfurter Rundschau "kognitive Intelligenz" kommentarlos durch "kognitive Kompetenz" ersetzt. Damit ist Widmanns Text der Sinnlosigkeit bzw. Lächerlichkeit preisgegeben, er hat seine Pointe verloren. Eine Richtigstellung oder gar Entschuldigung für Widmanns freie Erfindung erfolgte nicht. In der Online-Ausgabe der Berliner Zeitung blieb der Text dagegen bis heute unverändert.
Joachim Müller-Jung, Ressortleiter Natur und Wissenschaft bei der FAZ, fand offenbar Gefallen an Arno Widmanns Rezension. Er übernahm von ihm die freie Erfindung der "kognitiven Intelligenz" und belegte damit zugleich, dass er "Wunschdenken" gar nicht erst aufgeschlagen hatte. In FazNet zitierte er zustimmend Widmanns Vorwurf, dass bei Sarrazin "die gröbsten Dummheiten als differenzierte Analysen verkauft" werden und bemängelte, ich hätte "mich nicht um eine aufrichtige und sorgfältige Beschäftigung mit der Intelligenzforschung bemüht".[7] Es war ihm offenbar entgangen, dass ich das längst in früheren Werken bewerkstelligt und mich dabei innerhalb des gesicherten Wissens der Intelligenzforschung bewegt hatte, dass zudem in "Wunschdenken" die kognitiven Kompetenzen im Mittelpunkt stehen.
Welche Motive treiben eigentlich den Ressortleiter Natur und Wissenschaft einer seriösen Zeitung wie der FAZ ? Wovor hat er Angst, wenn er zu solchen Methoden greift?
Der Dampfplauderer Jakob Augstein sank noch ein wenig tiefer. In einem kurzen Text über "Wunschdenken" kommt einmal Holocaust, zweimal Hitler und zehnmal Rassismus oder rassistisch vor. Anrüchig findet er den Begriff "kognitive Kompetenz". Fischbach zitiert er als Beweis dafür, dass Intelligenz eben doch nicht erblich sei, und verpasst die Pointe, dass es darum in Wunschdenken gar nicht geht.[8]
Da bleibt mir nur die Vermutung: Wer dem Objekt der Kritik nicht auf Augenhöhe begegnen kann oder will, ist offenbar um Argumente verlegen. Nur wenn man die Erkenntnisse der Wissenschaft durch einen quasi religiösen Glauben ersetzt, kann man an der Fiktion festhalten, Vererbung und Tradition seien weitgehend belanglos, und von daher sei es für die Zukunft der Gesellschaft gleichgültig, wer die Eltern künftiger Generationen sind und wer in welcher Zahl einwandert. Fragen der Erblichkeit umfassen keineswegs nur die Intelligenz, sondern auch andere für den Bildungserfolg wesentliche persönliche Eigenschaften. [9]
[1] Heiner Rindermann, Detlef H. Rost: Was ist dran an Sarrazins Thesen?, FAZ vom 7. September 2010
[2] Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich?, Hamburg 2012, S. 250 f.
[3] FAS vom 24. April 2016, S. 25
[4] Karl-Friedrich Fischbach: Warum Thilo Sarrazin die Genetik nicht versteht, FAS vom 1. Mai 2016
[5] Vgl. Steven Pinker: The Blank Slate. The Modern Denial of Human Nature, New York 2002, S. 376
[6] Arno Widmann: Buch "Wunschdenken". Thilo Sarrazin erklärt fehlende Intelligenz für vererbbar, Berliner Zeitung vom 25.4. 2016
[7] Joachim Müller Jung: Wie vermehrt man Intelligenz?
[8] Jakob Augstein: Im Zweifel links: Gerüchte über Muslime
[9] In Großbritannien wurde die Bildungsleistung von 13.300 Zwillingspaaren beim General Certificate of Secondary Education (GSCE), das im Alter von 16 Jahren abgelegt wird, untersucht. Dabei ergab sich für die gemessenen Unterschiede der Bildungsleistung eine Heritabilität von 75 %. Diese hohe Heritabilität ergibt sich, so das Ergebnis, aus vielen genetisch beeinflussten persönlichen Eigenschaften, nicht nur der Intelligenz. Vgl. Eva Krapohl u.a.: The high heritability of educational achievement reflects many genetically influencend traits, not just intelligence