Gestern haben die Bundeskanzlerin und die Landes-Ministerpräsidenten wieder eine einschneidende Verschärfung des Corona-Ausnahmezustands beschlossen. Zuvor waren die Bürger mit ohnehin schon eingeschränkten Bürgerrechten medial darauf vorbereitet worden, was kommen würde. Beschönigende Titel bekam das Maßnahmepaket vorab. Mal war vom „Lockdown light“, mal vom „Wellenbrecher-Lockdown“ die Rede. Das Ziel von Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde schon tags zuvor klar kommuniziert: Die zwischenmenschlichen Kontakte müssten um 75 Prozent reduziert werden.
Es sollten sich privat nicht mehr als zehn Personen aus maximal zwei Haushalten treffen dürfen – egal ob in der Privatwohnung oder im öffentlichen Raum. Auf Reisen sollten die Deutschen verzichten, nur noch Dienstreisenden wird es erlaubt, in einem Hotel zu logieren, und ohnehin würde alles verboten, was eventuell der Freizeitgestaltung dienen könnte. Jedwede Gastronomie – außer Kantinen und der Verkauf von Speisen zur Mitnahme – wird verboten. Konzerte, Theater, Oper, Lesungen und jedwede andere kulturelle Betätigung ebenso. Museen, Ausstellungen, Freizeitparks etc. werden geschlossen, wie auch Sportvereine, Fitnessstudios und vielerlei Dienstleistungsbetriebe. Es gibt nur wenige Unterschiede zum Lockdown im Frühjahr: Schulen und Kindergärten dürfen offen bleiben, Friseure und Einzelhändler ebenso, auch wenn sie nicht nur lebensnotwendige Waren anbieten.
Im Vorfeld der Ministerpräsidenten-Runde boten die Nachrichten noch ein paar hoffnungsvolle Momente. Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow ließ verlauten, dass so weitreichende Entscheidungen, wie die für einen bundeweiten Lockdown, gar nicht von einer dafür nicht demokratisch legitimierten Ministerpräsidentenkonferenz mit der Bundeskanzlerin beschlossen werden dürfte. Reiner Haseloff, sein Ministerpräsidenten-Kollege aus Sachsen-Anhalt hatte tags zuvor in der Landespressekonferenz sowohl etwas Widerstand als auch sein Umfallen angekündigt. Doch neben Ramelows Position hätte ihn ja vielleicht noch das gestern Vormittag verbreitete Positionspapier der Virologen Professor Hendrik Streeck, Professor Jonas Schmidt-Chanasit und der Vorstandsvorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung darin bestärken können, wie in den letzten derartigen Runden dem Drängen der Kanzlerin zu widerstehen.
In dem Papier haben sich die Virologen gegen einen Lockdown ausgesprochen und für einen Strategiewechsel in der Corona-Politik geworben. So schrieben die Autoren eingangs:
„Wir müssen uns ehrlich eingestehen: Dieses Virus wird uns die nächsten Jahre begleiten. Auch ein Impfstoff wird nur ein Mittel unter vielen zur Bekämpfung der Pandemie sein. Bisher konnte erst einmal ein Virus durch einen Impfstoff über jahrzehntelange Impfkampagnen ausgerottet werden. Deshalb müssen wir viel stärker darüber sprechen, wie das Zusammenleben trotz des Virus in größtmöglicher Freiheit stattfinden kann. Ein achtsamerer Umgang miteinander, als wir ihn bisher vielleicht gelebt haben, ist hierfür erforderlich. Wir setzen auf Gebote anstelle von Verboten, auf Eigenverantwortung anstelle von Bevormundung. Verbote oder Bevormundung haben eine kurze Halbwertszeit und entsprechen nicht unserem Verständnis einer freiheitlich demokratischen Grundordnung.“
Neues Kapitel eines Sozial-Experiments?
Doch alle Hoffnungen, dieser Widerspruch von Fachleuten und die Einsichten mancher Politiker würden in der Gesprächsrunde mit der Kanzlerin irgendeine Wirkung erzielen, konnte man am späten Nachmittag getrost fahren lassen. Warum auch immer: Alle Ministerpräsidenten folgten letztendlich den Wünschen der Kanzlerin. Bodo Ramelow hinterließ nur noch eine Protokollnotiz, nach der Thüringen künftig auch eine Befassung der Parlamente mit den Corona-Maßnahmen wünscht. Manche Landtage und der Bundestag dürfen die Maßnahmen nach dem Beschluss der Regierungschefs jetzt noch einmal debattieren, werden aber mit der Entscheidungsfindung weiterhin nicht behelligt. Warum sollten auch Parlamentarier über den Ausnahmezustand befinden dürfen? Das wäre doch normale Demokratie.
Vor gut zwei Wochen hatte Reiner Haseloff noch erklärt, die Bundesregierung solle nicht immer die Länder vorschieben, wenn sie ihre Corona-Politik bundeseinheitlich gestalten wolle, sondern in eigener Verantwortung handeln und entsprechende Bundestagsbeschlüsse erwirken. Doch auch davon war nicht mehr die Rede. Die Bundeskanzlerin bekam die Zustimmung der Ministerpräsidenten für eine Notstandspolitik unter weitestgehender Umgehung des Parlaments.
Auf der Pressekonferenz nach der Ministerpräsidentenrunde mühten sich die Kanzlerin, der Berliner Regierende Bürgermeister Michael Müller und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder um einen Blut-Schweiß-und-Tränen-Ton. Das Wort „alternativlos“ fiel zwar nicht, aber als solches wurden die Maßnahmen dargestellt. Dass namhafte Virologen und die Kassenärztliche Bundesvereinigung Stunden zuvor öffentlich Alternativen aufgezeigt hatten, blieb unerwähnt. Von den auf der Pressekonferenz anwesenden Journalisten-Kollegen hat auch keiner nach Alternativen gefragt.
So beginnt also am Montag vielleicht auch ein neues Kapitel eines Sozialexperiments von Frau Dr. Merkel. Wird sich die Gesellschaft an diesen atemberaubenden Paradigmenwechsel, dem sie seit Monaten unterworfen ist, gewöhnen? Wird sie auch diesen wohlklingend mit „Solidarität“ und „Leben retten“ eingerahmten Notstand weitgehend widerstandslos hinnehmen?
Immerhin haben auch die Verkünder der Notstandsmaßnahmen eingeräumt, dass es noch keinen Gesundheitsnotstand gäbe. Aber um ihn zu vermeiden, wären die Notstandsmaßnahmen dringend nötig. Offenbar macht es nur wenige Zuhörer der dramatisch klingenden Lockdown-Begründungen stutzig, dass es einerseits in diesem Moment um Leben und Tod gehen soll, andererseits aber mit dem Inkrafttreten doch noch eine halbe Woche bis zum Montag gewartet werden kann. Müsste man nicht sofort handeln, wenn die Lage wirklich so dramatisch wäre, wie die Protagonisten der Runde es mit all dem in ihren Textbausteinkästen verfügbaren Pathos zu vermitteln suchten?
Die Regeln und der Souverän
Sähe man diese Maßnahmen als Experiment, inwieweit ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel zugunsten der Obrigkeit in einem ursprünglich demokratischen Staat gelingen kann, wäre die Corona-Politik allerdings wirklich ein äußerst interessanter Ansatz. In der Demokratie hat der Staat ja eigentlich den Bürgern zu dienen. Sie sind der Souverän. Aufgabe des Staates ist es, das Gemeinwesen so zu organisieren, dass den Bürgern ihre Freiheiten und ihre Rechte erhalten bleiben, auch unter erschwerten Bedingungen. Es ist eine Aufgabe des Staates die dafür nötigen Mittel, die dafür nötige Infrastruktur, ihre Belastbarkeit und Krisenfestigkeit zu organisieren. Dabei kann er auch bei unvorhersehbaren Ereignissen zuweilen kurzzeitig an seine Grenzen stoßen. Es kann auch in besonderen Situationen ein Ausnahmezustand nötig sein.
Doch in den letzten Monaten hat sich der Ausnahmezustand auf dem Verordnungswege zur Regel entwickelt. Die Regierung hält, so muss man sie ja verstehen, beispielsweise das Gesundheitssystem für nicht hinreichend krisenfest. Dann wäre es ihre Aufgabe in den letzten Monaten gewesen, genau daran mit Hochdruck zu arbeiten. Stattdessen ging es immer nur darum, welches Regelwerk die Bürger einzuhalten haben, um die Infrastruktur nicht eventuell zu überlasten. Wenn die Inanspruchnahme der Rechte und Freiheiten die staatliche Leistungsfähigkeit zu überfordern drohte – so musste man die Notstandsbegründungen ja verstehen –, dann war in der Debatte seltener davon die Rede, dass die staatliche Leistungsfähigkeit gesteigert werden müsste, sondern es ging immer nur darum, die Rechte der Bürger so zu beschneiden, dass diese ihr Verhalten den aktuellen Vorgaben der Obrigkeit anzupassen hatten.
In wirklich akuten Notlagen mag das auch geboten sein. Aber nur dann. Wenn sich die Regierenden aber längerfristig überfordert sehen, die staatliche Infrastruktur soweit zu ertüchtigen, dass die Bürger die ihnen zustehenden Rechte und Freiheiten in Anspruch nehmen können, dann sind sie ihren Aufgaben nicht gewachsen. Ist das nun so? Oder hat die Anhänglichkeit an das Regieren im Notstandsmodus andere Gründe? Jede Gewöhnung daran – egal ob von Regierenden oder Regierten – ist ein gewaltiger Schaden für die Demokratie. Schädlich ist es übrigens auch, wenn Parlamentarier nur beklagen, in Entscheidungen nicht einbezogen zu werden, statt selbst souverän eigene Entscheidungen zu treffen.