Thomas Rietzschel / 28.09.2018 / 15:30 / 9 / Seite ausdrucken

Das Märchen vom Sommermärchen

Welch ein Sieg, gestern Abend schon von Funk und Fernsehen an erster Stelle gemeldet, heute der Aufmacher vieler Blätter: Deutschland darf die Fußball-EM 2024 ausrichten. Aus dem Rennen ist die Türkei. Weitere Bewerber gab es nicht.

Von den übrigen 45 unabhängigen Staaten Europas, einschließlich Russlands, hatte keiner sein Interesse angemeldet, trotz teilweise bester Voraussetzungen bei der Infrastruktur. Sie alle konnten oder wollten sich das teure Spektakel nicht leisten. Sie haben sich davon nichts versprochen.

Für Erdogan indes wäre es eine Möglichkeit gewesen, der Welt etwas vorzumachen, ähnlich wie ein früherer Diktator mit der Ausrichtung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Daraus soll nun nichts werden. Dafür bekommen die anderen, die allein mit dem Türken im Boot der Bewerber saßen, ihre Gelegenheit, sich zum wiederholten Mal selbst etwas vorzumachen. Die Deutschen können einem neuen „Sommermärchen“ entgegenfiebern, ein paar Wochen sportlicher Begeisterung, die ihre Politiker ruhig schlafen lässt.

Während uns Joachim Löw von Berufs wegen eine „großen Party“ in Aussicht stellt, eine Revanche für die verlorene WM, war sich die Kanzlerin sofort „ganz sicher, dass Deutschland ein ganz wunderbarer Gastgeber sein wird“. Die „Vorarbeiten“, sagte sie der „Augsburger Allgemeinen“, hätten sich „gelohnt“.

Sie zahlten sich umgehend aus. Genügte doch bereits die gestrige Bekanntgabe des Zuschlags, andere Nachrichten zurückzustellen, weniger Aufhebens von Erdogans Staatsbesuch in Berlin zu machen. Auch dem Sultan selbst dürfte das, Niederlage hin oder her, durchaus zupass gekommen sein.

Zwar kann der Sport keine politischen Wunden heilen, hilft aber allemal, den Leuten Sand in die Augen zu streuen. Brot und Spiele rühren seit jeher an des Volkes Seele. Daran hat sich seit dem Untergang des römischen Reiches nichts geändert. Dass Staaten, die abgewirtschaftet haben, alles dran setzen, sportlich aufzutrumpfen, wusste schon Theodor W. Adorno. Noch in der größten Misere bezaubern Athleten und Spieler das Volk mit ihren Leistungen. Spielt dann auch noch das Wetter mit, gibt es ein „Sommermärchen“, phantastisch im wahrsten Sinne des Wortes.

Dass sich jetzt allein Deutschland und die Türkei um eine solche Inszenierung bewarben, bedarf keiner weiteren Deutung. Märchen bleibt Märchen.

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Leserpost

netiquette:

Werner Arning / 28.09.2018

Alles, was derzeit von dem riesigen Problem, welches uns unsere Politiker ohne Not eingehandelt haben, ablenkt, ist willkommen. Schon lange nicht mehr war „Brot und Spiele“ so wahr wie heute. Die Führung einer Gesellschaft, in der das Grundsätzliche nicht mehr stimmt, versucht alles, damit ihr Volk nicht zum Nachdenken kommt. Die Devise heißt dann, Reize zu schaffen. Reize, die die Aufmerksamkeit der Masse bindet. Das reicht von künstlich geschaffener Aufregung um Nebensächlichkeiten bis zu Sport-oder Showveranstaltungen. Da ist die Palette breit. Man muss die „Neuigkeiten“ nur unter die Leute bringen. Aber wenn man dieses so deutlich spürt, macht selbst Fußball keinen wirklichen Spaß mehr.

Emmanuel Precht / 28.09.2018

“Daran hat sich seit dem Untergang des römischen Reiches nichts geändert.” Die zu Grunde liegenden Gesetzmäßigkeiten sind in der menschlichen Natur zu finden, allein die Erscheinungen (Maya [indisch]) sind veränderlich. Ähnlich wird dieses auch im Taoismus beschrieben.  Wohlan…

Karla Kuhn / 28.09.2018

Mir ist das sowas von Schnurz, außerdem ist das erst in sechs Jahren, da fließt noch viel Wasser die Elbe runter aber schon jetzt wird getitelt, die UEFA hat den “Rassismus” ignoriert. Was soll man da noch sagen ? Mir verbiete eine Antwort die Netiquette.  Und Merkel “Deutschland wird ein wunderbarere Gastgeber sein.” Deutschland ist schon jetzt ein “wunderbarere Gastgeber” . Merken diejenigen, die schon länger hier leben das eigentlich auch ?  Auf alle Fälle fließen viele Milliarden, aber wohl kaum in die Taschen der armen Bevölkerung. Jedenfalls hoffe ich SEHR, daß es NICHT bis 2024 dauert, bis die ganze Politikerriege ausgetauscht wird !!

Otto Nagel / 28.09.2018

Stimmt es, wie ich gestern hörte, daß die Große Vorsitzende für die Vorbereitung und Ausrichtung dieser Volksbeglückung 7 Mrd. Steuergeld bereitstellen will ? ? ? Na, das gibt ganz sicher ein großes Sommermärchen, ganz ganz sicher, auf den Bankkonten der daran Beteiligten. Und Otto Normalverbraucher ist wieder mal glücklich.

E. Albert / 28.09.2018

Nachdem morgen in Köln der Anschluss Schlands an Erodgan-Land erfolgt, ist es doch eh wurscht, wer jetzt hier den Zuschlag bekommen hat…- “Spaß” bei Seite. Es wird bestimmt keine Wiederholung von 2006 geben. Nie wieder. Nicht nur, dass sich so etwas nicht einfach per Knopfdruck wiederholen lässt, die Voraussetzungen sind jetzt völlig andere. Die fröhliche Stimmung und das schöne Gefühl der “Leichtigkeit des Seins” von seinerzeit sind - Dank der Grenzöffnung und der Spaltung der Gesellschaft durch Frau M und ihrer Vasallen - für immer verloren gegangen…- Außerdem fürchte ich, dass wir, wenn es in diesem Land so weitergeht, hier bis 2024 Szenen erleben werden, die die Austragung sowieso unmöglich machen werden…das wird dann nur noch abgeschirmt und unter militärischem Einsatz gehen…wünsche dann viel Vergnügen…

Frank Stricker / 28.09.2018

Wahrscheinlich werden wir die Korruptionsaffäre von der Vergabe der WM 2006 bis zum Startschuss 2024 immer noch nicht gelöst haben.  Franz Beckenbauer weigert sich ja stoisch bekanntzugeben , warum er einem korrupten Scheich 10 Millionen Euro überwiesen hat.  Der Scheich wird sich diebisch gefreut haben , frei nach dem Motto “is denn heut scho Weihnachten”. Auch das sogenannte Darlehen vom ehemaligen Adidas-Chef war ja frei erfunden um eine Fifa-Veranstaltung zu promoten , die im nachhinein auch erfunden war. Wenn man die ganzen Märchen vom DFB zusammenfasst , kann es in Venezuela, Nicaragua oder Honduras auch nicht schlimmer zugehen. Der einzige Unterschied ist , dass hierzulande Gott sei Dank noch keine Fußballspieler erschossen werden.

Matthias Popp / 28.09.2018

Man braucht gar nicht bis ins Jahr 1936 zurückzublicken. Manch einer wird sich erinnern, dass die Militär-Machthaber in Argentinien 1978 die Fußball-WM - teilweise erfolgreich - missbrauchten, um von ihrer Diktatur und dem desaströsen Falkland/Malivinas-Abenteuer abzulenken.

Marc Blenk / 28.09.2018

Lieber Herr Rietzschel, da gibt es tatsächlich mehr Ähnlichkeiten zwischen Erdogan - und Merkelsystem, als man uns weis machen möchte.

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