Von Armin H. Flesch.
Von Frankfurt am Main aus betrachtet ist Hildesheim ein relativ kleiner Punkt auf der Landkarte – irgendwo in Niedersachsen und damit ziemlich weit weg. Wenn jemand an der dortigen Hochschule, die das Kürzel „HAWK“ trägt, ein Seminar mit durchschnittlich zehn bis zwölf Teilnehmern hält, dann ist das etwa so bedeutsam, wie wenn in Ürümqi, einer Provinzmetropole im Norden Chinas, zwanzig Sack Reis umfallen. Also praktisch nicht der Rede wert.
Wenn sich aber sogar das israelische Außenministerium zu genau diesem Seminar äußert, wenig schmeichelhaft übrigens, wenn dieses Seminar in den großen deutschen Tageszeitungen auftaucht und plötzlich überall von „Hass“ die Rede ist, dann könnte es sich womöglich lohnen, den Blick nach Norden zu richten: Worum geht’s da eigentlich und was ist passiert?
Zunächst einmal etwas sehr unspektakuläres. Die promovierte Sozialpädagogin Rebecca Seidler aus Hannover bekommt am 12. Juni 2015 eine E-Mail ihrer früheren Hochschule in Hildesheim: „Sehr geehrte Rebecca Seidler, […] Wir hatten bisher im Modul immer zwei sehr gegensätzliche Seminare, die Israel und Palästina zum Thema hatten. Frau Köhler bietet das Seminar ‚Zur Lage von Jugendlichen in Palästina’ an und Frau Bottenberg hat das Seminar ‚Jüdisches Leben in Deutschland und in Israel’ angeboten und jeweils Praktikas [sic!] für Studierende in Israel vermittelt. Frau Bottenberg ist inzwischen ernsthaft erkrankt und kann das Seminarangebot nicht mehr übernehmen.“
Dekanin Christa Paulini, von der die E-Mail stammt, fährt fort: „Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie sich vorstellen könnten, im Wintersemester 2015/16 ein Seminar im Bereich ‘jüdische Soziale Arbeit in Deutschland und in Israel‘ - oder so ähnlich anzubieten. Der gewünschte Fokus liegt bei mir nicht auf ‘jüdisches Leben‘.“
Rebecca Seidler freut sich über das Angebot. Sie nimmt bereits Lehraufträge an anderen Universitäten und Hochschulen wahr und wäre akademisch gut vorbereitet. Außerdem ist sie selbst Jüdin und hätte persönlich Interesse an dem Thema: „Sozialarbeit in Deutschland, wie sieht die heute aus, wie groß war historisch der Einfluss jüdischer Denker auf ihre Entwicklung?“ Klingt spannend, denkt sich Seidler. Aber es gibt noch einige Unklarheiten bezüglich der Konzeption des Seminar-Tandems, und so schreibt sie ebenfalls eine E-Mail:
„Sehr geehrte Frau Paulini, zunächst einmal herzlichen Dank für Ihre Anfrage bezüglich eines Lehrauftrages. Über die inhaltliche Struktur bin ich jedoch etwas irritiert und habe hierzu noch Nachfragen. Sie schreiben es gibt zwei Seminare. Das eine ‚zur Lage der Jugendlichen in Palästina’ von Frau Köhler, das andere zum Thema ‚Jüdische Soziale Arbeit in Deutschland und Israel’.
Diese Gegenüberstellung verstehe ich nicht. Ist es nun ein politisches Seminar […]? Das heißt, es wird die Lage von […] Jugendlichen in den palästinensischen Autonomiegebieten und zum Vergleich in Israel in Anbetracht des Konfliktes beleuchtet? Oder geht es um Theorien jüdischer und muslimischer Sozialer Arbeit (Professionsverständnis) anhand von Praxisbeispielen in Israel, den palästinensischen Autonomiegebieten und Deutschland? […] Ich hoffe, Sie können meine Fragen nachvollziehen, und freue mich über eine Rückmeldung von Ihnen […].“
Keine Antwort ist auch eine Antwort
Auf ihre Fragen bekommt Rebecca Seidler keine schriftliche Antwort; Dekanin Paulini möchte das lieber am Telefon mit ihr besprechen. Inzwischen will Seidler aber mehr darüber wissen, wie die Dozentin des Ko-Seminars ihr Thema behandelt. Aus der Zeit ihres letzten Lehrauftrags an der HAWK besitzt Seidler noch einen Zugang zum „Studi-IP“, dem Intranet der Hochschule. Dort sind auch der Seminarplan und die Literatur zum Seminar „Soziale Lage der Jugendlichen in Palästina (Gender)“ von Ibtissam Köhler hinterlegt.
Rebecca Seidler lädt sich die Dateien auf ihren Rechner, druckt sie aus und beginnt zu lesen. Doch was sie findet, ist weder geeignet, sich mit der sozialen Lage der Jugendlichen in Palästina ernsthaft auseinanderzusetzen, noch hat das Studienmaterial mit Genderfragen das geringste zu tun. In den Texten, die Ibtissam Köhler für ihre Studenten zusammengestellt hat, wird ausschließlich Kritik am Staat Israel geübt.
Längst widerlegte Anschuldigungen wie Donald Boströms moderne Variante der Ritualmordlüge - die israelische Armee habe systematisch Organe getöteter Araber entnommen, um damit Krankenhäuser in Israel zu versorgen - werden als Tatsachen dargestellt. Die Sperranlagen an Israels Grenzen werden beklagt, ohne auf die Gründe ihrer Entstehung einzugehen. Israel wird als ein Ort der Folter, der Enteignung wehrloser Palästinenser und Apartheidstaat dargestellt.
Das Terrorregime der Hamas, Korruption und Vetternwirtschaft in der palästinensischen Verwaltung, das Bildungssystem in den Autonomiegebieten, die Höhe der Jugendarbeitslosigkeit, Todesstrafe und Erwachsenenstrafrecht ab 12 Jahren, systematische Folter in palästinensischen Gefängnissen, Fememorde wegen der Zusammenarbeit mit Israel oder die Ungleichbehandlung der Geschlechter – all das beeinflusst die soziale Lage der Jugendlichen in Palästina erheblich. Aber in den Seminarunterlagen der Ibtissam Köhler kommt es nicht vor.
Wer ist Ibtissam Köhler?
Wer ist Ibtissam Köhler? Wie kam die aus Palästina stammende, mit einem Deutschen verheiratete Sprachlehrerin und Mutter zweier erwachsener Kinder zu ihrem Lehrauftrag an der Hochschule Hildesheim? Diese Fragen kann am besten Hans-Jürgen Hahn beantworten. Hahn, Oberstudienrat im Ruhestand, hatte Ibtissam Köhler 1999 an die Hochschule geholt. Aufgrund welcher Expertise?
„Die Expertise interessierte mich eigentlich gar nicht. Mich interessierte, was sie damals zu Israel rausließ. Sie fiel mir auf. Sie war an der Volkshochschule für Arabisch zuständig und es zeigte sich, sie war also eine christliche Palästinenserin aus Bethlehem“, erinnert sich Hahn. Auf die Nachfrage, warum ihm eine Arabischlehrerin mit offenbar sehr einseitigen Positionen zu Israel als Lehrbeauftragte an einer Hochschule geeignet erschien, ergänzt er, Ibtissam Köhler habe gar keine Lehrbeauftragte sein sollen.
„Ich habe überhaupt nicht daran gedacht, sie als wissenschaftlich hochqualifizierte Referentin da einzuladen, sondern die sollte authentisch von dem berichten, was sie hinter sich hatte,“ eingebunden in Hahns eigenes, vierstündiges Seminar mit dem Titel „Praktika in Sozialeinrichtungen Israels“.
Aufgrund seiner Kontakte in Israel hatte Hans-Jürgen Hahn im Umfeld der Städte Haifa und Akko Praktikumsplätze in Behinderteneinrichtungen organisiert. Zur Vorbereitung dieser Praktika sollte sein Seminar dienen, das „mit möglichst vielen Gegensätzen sämtliche Aspekte zur Lage des Staates Israel und zur sozialen Lage seiner Bewohner“ aufzeigen sollte. Als Referentinnen zog Hahn neben der Palästinenserin Ibtissam Köhler auch die Israelin Hemda Bottenberg hinzu. Die Einordnung der „möglichst kontroversen Perspektiven“ beider Referentinnen sollte dann in der Arbeit des Lehrbeauftragten Hahn mit seinen Studenten geschehen.
„Völlig aus dem Ruder gelaufen“
Hans-Jürgen Hahn in einem Telefoninterview mit dem Autor am 22.8.2016: „Es war mein Seminar, meine Idee, mein Konzept. Ich war der Wissenschaftler bei diesem Seminar.“ Zwei getrennte Veranstaltungen, in denen Köhler und Bottenberg jeweils als selbständige Lehrbeauftragte agieren würden, waren laut Hahn nie geplant.
Wegen eines bevorstehenden längeren Auslandsaufenthalts schlug Hans-Jürgen Hahn Anfang 2000 dem damaligen Dekan Ulrich Hammer in einem Schreiben vor, „die beiden Frauen mit der Fortsetzung des Seminars zu betrauen.“ Die Genehmigung erfolgte am 2. Mai 2000 durch das Präsidium. Zunächst sollte die Lehrveranstaltung unter der Leitung der Hochschulprofessorin Brunhilde Wagner abgehalten werden, doch dann „lief das Seminar als Doppelseminar völlig aus dem Ruder,“ kritisiert Hahn, „weil es nicht in einer Hand blieb“.
So wurde Ibtissam Köhler, Arabischlehrerin an der Hildesheimer Volkshochschule, zur Lehrbeauftragten der HAWK und leitete im Fachbereich Sozialarbeit mehr als zehn Jahre lang das Seminar „Soziale Lage der Jugendlichen in Palästina (Gender)“. Die einzige Qualifikation, die sie dafür vorweisen konnte, waren ihre Herkunft als „christliche Palästinenserin aus Bethlehem“ und das, „was sie zu Israel rausließ.“
Obwohl Köhler also ursprünglich nur wegen ihrer höchst persönlichen und überaus kritischen Sicht auf Israel sowie ohne Rücksicht auf ihre Befähigung zu wissenschaftlichem Arbeiten in den Seminarbetrieb der HAWK geraten war, interessierten sich die wechselnden Protagonisten der Hildesheimer Hochschulleitung bis 2016 weder für ihre Literaturliste, noch für ihr didaktisches Konzept.
Kritik wurde einfach ignoriert
Dabei hatte es an Hinweisen von unzufriedenen Studenten nicht gefehlt. Christopher Lodders, der das Köhler-Seminar 2010 und 2011, vor und nach seinem Israel-Praktikum, belegt hatte, ist einer von ihnen: „Über die soziale Lage von Jugendlichen oder über die Sozialarbeit mit Jugendlichen in Palästina habe ich in dem Seminar von Frau Köhler nichts erfahren“, erinnert sich der ehemalige HAWK-Student.
Stattdessen habe man früh bemerkt „dass, Frau Köhler emotional vorbelastet“ sei. „Frau Köhler hat Medien teilweise uminterpretiert.“ Lodders beschreibt ein Foto, das im Seminar gezeigt wurde, und auf dem ein israelischer Soldat und ein palästinensischer Junge zu sehen waren. Ibtissam Köhler habe behauptet, der Junge werde mit dem Gewehr bedroht. „Auf dem Bild,“ so erinnert sich Lodders, „war aber ganz klar zu sehen, dass der Soldat das Gewehr nur hielt, aber nicht auf den Jungen zielte“.
Lodders erzählt von einem Referat, das er im Palästina-Seminar halten sollte und für das ihm Ibtissam Köhler das Thema „Foltermethoden der Israelis gegenüber Palästinensern“ aufgegeben hatte. Lodders erweiterte seine Aufgabe und berichtete auch über die Foltermethoden palästinensischer Organisationen wie Hamas und Fatah. „Da ist sie mir mehrmals ins Wort gefallen und hat geschrieen, was das denn solle, das stimme doch gar nicht.“ Schließlich habe Köhler ihm das Wort verboten: „Sie sind fertig. Setzen Sie sich.“
Christopher Lodders und weitere Seminarteilnehmer beschwerten sich beim damaligen Dekan der Fakultät, Heinz-Dieter Gottlieb, „über die Unwissenschaftlichkeit, die Inhalte und die Aussagen von Frau Köhler“. Doch das führte weder zu einer Überprüfung noch zur Einstellung des Seminars oder wenigstens zu persönlichen Gesprächen mit den Studenten. „Es wurde einfach ignoriert.“
Daran sollte sich auch unter den nachfolgenden Dekanen der Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit nichts ändern. Rebecca Seidlers Kritik und schließlich ihre Weigerung, mit einer eigenen Lehrveranstaltung das Feigenblatt für 38 Stunden antiisraelische Propaganda abzugeben, wird von Christa Paulini mit „persönlicher Empfindlichkeit“ abgetan.
„Man muss mal Dinge sagen dürfen“
Sie lasse sich nicht anschwärzen, Israelhetze zu betreiben, das sei schon einmal vor ein paar Jahren passiert. Außerdem müsse man mal Dinge sagen dürfen, auch wenn sie andern nicht passten: „Es gibt eine Mainstreamhaltung, der man sich in Deutschland beugen muss – der beuge ich mich nicht. Dieses Seminar bleibt unverändert.“
Doch da irrt die Dekanin. Rebecca Seidler schickt die kompletten Seminarunterlagen nicht nur an Josef Schuster, den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, sondern auch an die Amadeu-Antonio-Stiftung mit der Bitte um ein Gutachten. „Ich wollte wissen, bin ich wirklich übersensibel, oder wie sehen das externe Wissenschaftler?“
Jan Riebe, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung, untersucht daraufhin das Seminarmaterial und entdeckt „nicht einmal den Anschein von Wissenschaftlichkeit“, während Josef Schuster den Texten in Teilen Antisemitismus attestiert. Nun werden die Kreise immer größer, die das kleine Seminar im beschaulichen Hildesheim zieht. Zeitungen greifen es auf, ein Sprecher des israelischen Außenministeriums nennt die HAWK eine „Hass-Fabrik“ und deren Präsidentin Christiane Dienel vermutet hinter allem eine „Hass-Kampagne,“ die ihr „das Wort verbieten“ und den Nahostkonflikt „an die Hochschule tragen“ wolle.
Wen sie hinter dieser Kampagne vermutet, das will sie auf Nachfrage allerdings nicht mitteilen. Doch das Seminar, immerhin, wird abgesetzt und das Wissenschafts-Ministerium in Hannover beauftragt das Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung mit einem weiteren unabhängigen Gutachten. So ist in Hildesheim einstweilen alles in der Schwebe und viele Fragen bleiben – vorerst – unbeantwortet. Uns wird das Thema fürs erste erhalten bleiben.
Armin H. Flesch, 54, Autor und Journalist, arbeitet in Frankfurt am Main und beobachtet die Vorgänge an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim mit zunehmendem Unbehagen.