Das letzte Ufer

Der vor fünfundsechzig Jahren erstmals aufgeführte Film „Das letzte Ufer“ schildert die Situation nach einem globalen Atomkrieg.

Kürzlich, auf dem Weg zu einem indischen Restaurant, schienen wir unversehens allein in der Stadt zu sein. Eine gespenstische Stimmung: Nur hin und wieder huschte ein Auto vorbei, man sah weder Radfahrer noch Fußgänger. Im Restaurant saßen keine Gäste, und wir befürchteten allmählich, irgend etwas mit sieben Köpfen und riesigen Klauen sei gelandet oder aus der Kanalisation hervorgekrochen. Endlich erschien ein Kellner, ein in Panjim geborener junger Mann. Er pries Tandoori Chicken sowie allerlei Köstlichkeiten der goanesischen Küche, gewürzt mit Kokosraspel, Chili, Koriander, Kurkuma, Curry, Knoblauch und Kreuzkümmel. Nebenher flüsterte er mit mildem Vorwurf, die deutsche Nationalmannschaft habe gerade ein Fußballspiel begonnen. Deshalb seien die Straßen und das Restaurant so leer.

Man mag mich übelster Ignoranz bezichtigen, doch mein Interesse am Dasein dieser Mannschaft ist spätestens seit ihrem Auftritt in Katar gänzlich erloschen. Schon zuvor sah ich fassungslos zu, wenn elf Millionäre auf dem Rasen niederknieten und derart angeblich eine aufrechte Haltung und Mitgefühl bekundeten. So etwas kann natürlich überall geschehen, wenn Sport zum Mittel von Politik wird, aber in Katar ging es dann noch aggressiver zu.

Wieder einmal sollte die Welt am deutschen Wesen genesen: Ohne Respekt vor den kulturellen Eigenheiten ihrer Gastgeber und sich im Besitz einer überlegenen Moral wähnend, erwog zumindest der Mannschaftskapitän, eine Armbinde zu tragen, von der alle wussten, sie würde die Katarer beleidigen. Die FIFA musste schließlich das taktlose Vorhaben verbieten, und die Fußballer antworteten mit albernen Gesten, die wohl bedeuten sollten, man habe sie zum Schweigen gezwungen. Selbst wenn man davon absieht, dass Armbinden in der deutschen Geschichte eine unrühmliche Rolle gespielt haben – zum „fair play“ gehören sie nun wirklich nicht.

Die Lösung gehört zu den grausamen Enttäuschungen

Vielleicht hätten die Spieler Deutschlands Anspruch ja auch bekunden können, indem sie Fußballschuhe in den Farben des Regenbogens getragen hätten. Allerdings wäre dies der auf der Tribüne sitzenden, trotzig mit einer Armbinde versehenen deutschen Innenministerin wohl kaum herrisch genug erschienen. Ihre arrogante Zeichensetzerei geriet nicht gerade anmutig und wird nicht nur Katarer in ihren Vorurteilen bestärkt haben. Kurzum, die Auftritte waren anmaßend und weckten nebenher noch den Verdacht, sie seien nicht gänzlich vom untertänigen Bittgang des Bundeswirtschaftsministers im vorhergehenden Frühjahr zu trennen.

Doch mir rollt mein Garn davon. Irgendwann erinnerte ich mich, wo ich das bedrückende Bild einer menschenleeren Stadt schon einmal gesehen hatte: Dieses unbegreifliche Grauen unbelebter Straßen, durch die zuvor Autos, Busse und Lastwagen gebraust waren, die im Wind schaukelnden, erloschenen Ampeln über den Kreuzungen, in Böen durch einst belebte Geschäftsviertel tanzende Zeitungsblätter, nirgendwo Menschen, nicht einmal eine verirrte Taube. So nämlich sah eine Kamera die kalifornische Hafenstadt San Francisco nach dem Fallout, dem radioaktiven Niederschlag, der Explosionen von Atomwaffen folgt, in dem Spielfilm „Das letzte Ufer“ (On the Beach, Regie Stanley Kramer, USA 1959). Da hatten sich Menschen und Tiere verkrochen, als das Ende kam – das Ende des leichtfertigen Vorhabens, den Frieden zu sichern, indem man fortwährend immer schrecklichere Waffen herstellt und anhäuft. Es geschah ein Versehen, ein verwirrter Beobachter hatte fremdartige Echos auf seinem Radarschirm erblickt und eine verhängnisvolle Meldung ausgelöst, die schnell und unaufhaltsam ihren Weg nahm. Dann war in Europa kein Stein auf dem anderen geblieben und die gesamte Erde – bis auf Australien – verseucht. Überlebt hatten nur Bewohner des Fünften Kontinents und die Besatzung des amerikanischen Atom-U-Bootes SAWFISH.

Doch es gab noch Hoffnung: Aus San Diego an der amerikanischen Westküste empfing man Morsesignale, die zwar keinen Sinn ergaben, aber vielleicht von jemandem ausgelöst wurden, der das Morsealphabet nicht kannte und die radioaktive Strahlung auf irgendeine Weise überstanden hatte. Die Lösung gehört zu den grausamen Enttäuschungen, die der Film vermittelt: Es gab keine Überlebenden – eine Coca-Cola-Flasche hatte sich in einer Rolloschnur verfangen und wippte in Windstößen auf einer Morsetaste. Das war die letzte Nachricht, die Amerika den Überlebenden hinterließ, weitaus sinnloser als Graffiti der Bewohner Pompejis. Der Kommandant der SAWFISH brach seine Mission ab und steuerte Australien an.

Leben ist ein unersetzbarer Schatz

Der Blick auf jenes letzte Ufer erweist die Schwächen des Drehbuches und unserer Gattung. Das Ende der Menschheit und die Vergeblichkeit von Jahrtausenden menschlicher Entwicklung zu schildern ist schließlich ebenso unbeschreiblich wie unbegreiflich. Der radioaktive Niederschlag erreichte nun auch Australien, die Regierung ließ Giftkapseln ausgeben, damit die Erwachsenen über den Tod ihrer Kinder und über das eigene Ende entscheiden konnten. Jetzt begriffen wohl auch die Letzten, was das heißt: unaufhaltsam, unwiederbringlich. Also gaben die Menschen sich einer letzten Liebe hin, erfüllten sich letzte Wünsche, betäubten sich, nahmen teil an Autorennen oder verließen die Städte, um endlich allein Forellen zu angeln. Die Besatzung der SAWFISH hingegen nahm Kurs auf Nordamerika, um in der Heimat zu sterben.

Der vor fünfundsechzig Jahren erstmals aufgeführte Film wurde von zeitgemäßen Umständen begleitet. So weigerten sich das amerikanische Verteidigungsministerium und die Admiralität, die Dreharbeiten zu unterstützen, sodass die Rolle der SAWFISH von einem britischen U-Boot übernommen werden musste. Auch unter Kritikern gab es sehr wenig Zustimmung für Anliegen und Ausführung des stillen Dramas, denn auch sie befanden sich im Zustand der Kriegstüchtigkeit. Dennoch schrieb die New York Times anlässlich der Weltpremiere: „Das große Verdienst des Films ist, abgesehen von seinem Unterhaltungswert, die Tatsache, dass er die leidenschaftliche Überzeugung vermittelt, dass die Menschheit es wert ist, gerettet zu werden.

Mr. Kramer und seine Assistenten haben den Kernpunkt überzeugend herausgearbeitet: Leben ist ein unersetzbarer Schatz, und man sollte alles daransetzen – solange es noch Zeit ist –, es vor der Vernichtung zu retten.“ Es folgte keine Oscar-Prämierung, den Golden Globe für die beste Filmmusik verdankte der Film wohl vor allem den wiederholten Klängen der wunderbaren „Waltzing Matilda“ – der heimlichen Nationalhymne Australiens. Trotzdem hatte „Das letzte Ufer“ schon 1959 Premiere in Moskau, während der damals bereits ein Jahr alte sowjetische Film „Die Kraniche ziehen“ (Michail Kalatosow, Goldene Palme in Cannes 1958, westdeutscher Verleihtitel „Wenn die Kraniche ziehen“) in New York aufgeführt wurde. Das alles geschah übrigens mitten im Kalten Krieg.

P. Werner Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von Biografien, Reisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.

Foto: United States Department of Energy - This image is available from the National Nuclear Security Administration Nevada Site Office Photo Library under number XX-33 Gemeinfrei, via Wikimedia Commons

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Holger Kammel / 05.08.2024

Na ja, speziell das ständige Ableiern von “Waltzing Matilda” ging mir in diesem Film ziemlich auf die Nerven und ist für mich einer der Gründe, weshalb ich diesen Film für sentimentalen Quatsch halte. Wie man Musik zum Träger eines Filmes macht, kann man sich in “Der letzte Mohikaner” mit Daniel Day Lewis ansehen bzw. anhören, nebst der beeindruckenden Kameraführung und der optischen Gestaltung der Szenen. Im übrigen rasen wir doch gerade einem Atomkrieg entgegen oder zweifelt irgendjemand daran, daß die Mullahs diese Waffe nicht einsetzen würden? Frau Orlandi, Ihre Argumentationslinie ist so grottenfalsch, daß man praktisch jeden Punkt diametral beantworten könnte, das schenke ich mir hier. Nur ein Punkt zum Überlegen, wenn das Wissen einmal in der Welt ist, bekommt man es nicht wieder heraus.

Ralf Pöhling / 04.08.2024

Ich kenne den Streifen. Ist aber Jahre her, das ich ihn gesehen habe. Großartig beeindruckt hat er mich nicht. Der Kalte Krieg selbst auch nicht, denn weder damals noch heute war das mein Krieg. Das war und ist leider immer noch ein Krieg zwischen den Russen und den Amerikanern, der endlich und nun wirklich für alle Zeiten beendet werden sollte. Ich kenne weit eindringlichere und persönlichere Weltuntergangsfilme, die mich mehr am Kragen packen. So wie Kinji Fukasakus “Overkill - Durch die Hölle zur Ewigkeit” zum Beispiel, den es bei uns leider meist nur in stark gekürzter Fassung zu sehen gibt. Da spielt ein U-Boot auch eine zentrale Rolle. Allerdings gibt es da keinen atomaren Fallout, sondern einen virulenten. Und was Virulenz (in beiden möglichen Bedeutungen) bedeutet, kann jeder ja aus persönlicher Erfahrung irgendwie nachvollziehen. Ich auch. Spätestens seit Corona. Oder seit 2015. An die Sache mit dem sinnlosen Morsecode und der Colaflasche in “Das letzte Ufer” kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Aber ziemlich genau daran, was dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz bedeutet. Und da gehen bei mir sämtliche Alarmglocken an. Sämtliche. Und das führt dann zur nötigen Reaktion um schlimmeres zu verhindern. Und zwar auch dann, wenn es dabei einige von den Füßen reißt. Eins habe ich auf die harte Tour gelernt: Man sollte den selben Fehler niemals zweimal begehen. Insbesondere dann nicht, wenn von diesem Fehler Menschenleben abhängen. Und hier kommt dann doch wieder die Kurve zum Kalten Krieg: Lasst es einfach sein. Es hat damals keinen Sinn gemacht und heute macht es auch keinen.

Thomas Szabó / 04.08.2024

Lieber Herr Lange. Eine israelische Flagge als Armbinde würde die Katarer ebenso beleidigen wie die Regenbogenfahne. Sie schreiben: “...Ohne Respekt vor den kulturellen Eigenheiten ihrer Gastgeber…” Zu den kulturellen Eigenheiten der Gastgeber gehören Homophobie & Antisemitismus. Was genau wollen Sie an diesen “kulturellen Eigenheiten” respektieren? Ich halte nicht viel von Nancy, aber die Armbinde trage ich ihr als einen Pluspunkt ein. Das knien der Millionäre fand ich auch zum Kotzen, denn BLM ist eine linksextreme rassistische Terrororganisation.

Günter H. Probst / 04.08.2024

Da es immer mehr Verbrecherbanden gelingt, die Schaltstellen in Staaten zu übernehmen, und diese Staaten, wie Rußland, atomare Waffen haben, oder sich, wie Nordkorea und Gottesstaat Iran, zulegen, wird bald der labilste Gangboss den atomaren Krieg lostreten. Es wird von den Bevölkerungen und den anderen Staatslenkern abhängen, wie schnell sie die Verbrecherbanden ausschalten können, um die Schäden zu begrenzen.

Silvia Orlandi / 04.08.2024

Atomkraft ist eine Gefahr: 1. Stromausfall, keine Kühlung, Fachkräfte, Instandsetzung, Sicherheitsüberwachung, Cyberangriffe…2. Man benötigt Uran, dies schafft neue b.z.w alte Abhängigkeiten.3. Verrückte, debile, machthungrige, alte Politiker, sie haben nichts zu verlieren….die Menschheit war Ihnen schon immer egal.( Millionen Tote, WK 1, 2) 4. Wohin mit dem radioaktivem Abfall? s. z. B. „Zwischenlager“ Asse, die Fässer rosten vor sich hin, Gefahr der Grundwasserverseuchung.5. Ständige Bedrohung und Erpressbarkeit setzt die Spirale der atomaren Aufrüstung in Gang….auch die „friedliche“ Nutzung birgt die Gefahr der militärischen Nutzung und Bedrohung s. Iran, Pakistan… Saporischscha, plus 3 weitere AKWs in der Ukraine— nicht auszudenken, was bei einem Angriff, Unfall passiert. 6. Wir müssen friedenstüchtig werden.

Lars Tragl / 04.08.2024

Ohne Atomwaffen wäre der 3. Weltkrieg längst hinter uns . Die Angst ,dass man einen Atomkrieg nicht gewinnen , und überleben kann, ist leider der Garant, dass keiner anfängt.Nicht mal Putin ist so wahnsinnig.Den Mullahs traue ich das eher zu, sie erwarten 72 jährige Jungfrauen im Himmel der beschnittenen Pimmel.    Wers mag. Die Ukrainer haben ihre Atomwaffen gegen etwas Geld und einen wertlosen Vertrag an die Russen abgegeben. Das Resultat sehen wir jetzt.

Karl Heinz Münter / 04.08.2024

Den Film habe ich erst Jahre nach seinem Erscheinen in einem Programm-Kino gesehen und er hat mich damals schwer beeindruckt. Heute, denke ich, könnte man die Menschheit auf andere Art und Weise auslöschen. Wer weiß welche Biowaffen im Fall der Fälle darauf warten freigesetzt zu werden?

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