Johannes Eisleben / 13.06.2018 / 06:29 / Foto: Hobboh / 33 / Seite ausdrucken

Das Lesen der Anderen

Von Johannes Eisleben.

Wir leben in der Zeit eines sich destabilisierenden Herrschaftssystems. Durch die Behandlung der eigenen Bürger als seine Feinde zersetzt das heute herrschende System der pseudoliberalen Elite das Vertrauen der Bürger in den Staat. Ihre Herrschaftsideologie beruht auf einer romantisch-chiliastischen Anthropologie, die zutiefst dekadent und selbstzerstörerisch ist. In ihren Konsequenzen zersetzt sie den Rechts- und Ordnungsstaat, entwurzelt die Menschen und entzieht ihnen die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben. Sie ist Ausdruck einer massiven Hybris der heutigen Oberschichten, die so lange gesellschaftliche Dysfunktionalität erzeugt, bis entweder ein friedlicher Wechsel diese Herrschaft beendet oder das Gefüge der Gemeinschaft zerbricht. Dann kehren enthemmte Gewalt und Willkür in unseren Alltag zurück, das Gewaltmonopol des Staats löst sich auf. Auf welche der beiden Alternativen steuern wir zu? Das hängt im Wesentlichen davon ab, wie schnell die Bürger merken, was eigentlich passiert und ob sie sich rechtzeitig an der Wahlurne wehren. Dafür spielt die Gegenöffentlichkeit eine wesentliche Rolle.

Die deutsche Gegenöffentlichkeit war ursprünglich eine geistige Strömung realistisch-kritischer Liberaler und Konservativer, die sich zwischen 1950 und 1990 mit der oben geschilderten fatalen Entwicklung unserer Gesellschaft seit dem zweiten Weltkrieg kritisch auseinandersetzten.  Zu dieser Gegenöffentlichkeit nach dem Krieg gehören prominente Denker wie Arnold Gehlen („Moral und Hypermoral“), Friedrich von Hayek („Die Verfassung der Freiheit“), Ernst Nolte („Historische Existenz“), Reinhart Koselleck („Kritik und Krise“), Ernst Forsthoff („Verfassungsprobleme des Sozialstaates,“), Ernst Jünger („Der Waldgang“), Hans-Georg Gadamer („Wahrheit und Methode“) oder Ernst-Wolfgang Böckenförde („Staat, Gesellschaft, Freiheit“). Doch wurden ihre Hauptvertreter vom pseudoliberalen Mainstream, angeführt von Autoren wie Wolfgang Abendroth, Jürgen Habermas, Walter Jens, Claus Leggewie oder Hans Ulrich Wehler stets erfolgreich als „Rechte“ diskreditiert – mit dem Ausgang des Historikerstreits Mitte der 1980er Jahre schienen sie dann endgültig „besiegt“ zu sein und aus dem geistigen Spektrum der Öffentlichkeit verdrängt zu werden. 

Nach der deutschen Einheit hat sich das Spektrum der Protagonisten der Gegenöffentlichkeit dann auf alle Intellektuellen ausgeweitet, die in der Lage sind, gesellschaftliche Missstände oder Herrschaftssysteme zu durchschauen und offenzulegen, darunter viele, die sich früher selbst als Linke bezeichnet haben: Denn das Merkmal der Gegenöffentlichkeit ist es nicht, links oder rechts zu sein, sondern sich ein unabhängiges Denken außerhalb des Herrschaftsdiskurses bewahrt zu haben, das auf die Realität, wie sie die ganz normalen Menschen in diesem Land erleben, schautSo wurde dann immer mehr Publizisten, Autoren und Denkern einer neuen Generation, die nach dem zweiten Weltkrieg geboren waren, seit Beginn der 1990er Jahre klar, dass der pseudoliberale Mainstream ein die Gesellschaft und Gemeinschaft zerstörendes Programm verfolgt.

Die Kommunikation von Privatmenschen zersetzende DSGVO

Dabei war Botho Strauß vor 25 Jahren (1993) im Spiegel als Aufsatz publizierte Aphorismensammlung „Anschwellender Bocksgesang“ ein Wendepunkt, der anzeigte, dass hochgeachtete Mainstreamintellektuelle der Bundesrepublik begannen, umzudenken – prompt wurde Strauß als „neuer Rechter“ ausgestoßen. Die Gegenöffentlichkeit blieb noch lange eine kleine Minderheit mit wenig Einfluss auf den politischen Diskurs.

Einige wesentliche von den pseudoliberalen Eliten getroffene Entscheidungen seit dem Jahr 2000 politisierten dann immer mehr Intellektuelle zu einer kritischen Haltung gegenüber unserem heutigen Herrschaftssystem: (i) die für das Klima der Erde belanglose, aber wahnwitzig teure und mittelfristig unsere Wirtschaftsweise gefährdende Energiewende [EEG 2000] samt Atomausstieg [2002], (ii) die unsere nationale Souveränität aushöhlenden, gegen den Willen des Souveräns zahlreicher europäischer Nationen durchgedrückten Verträge von Nizza und Lissabon [2003, 2009], (iii) die verfassungswidrige Eurorettung [seit 2009], (iv) die Aussetzung der Wehrpflicht [2010], (v) die verfassungswidrige Grenzöffnung [seit 2015], (vi) die in Westdeutschland seit 1934 erstmalige Wiedereinführung der Zensur (NetzDG) [ab 1.1.2018], (vii) und neustens die natürliche Kommunikation von Privatmenschen und Kleinunternehmen zersetzende sogenannte Datenschutzgrundverordnung. All dies und andere politische Entscheidungen wurden von einer kontinuierlichen Verengung des politischen Spektrums der öffentlichen Debatten in Parlamenten und Leitmedien mit einer Ächtung und Bedrohung Andersdenkender begleitet. 

Diese Entwicklung öffnete immer mehr Intellektuellen die Augen und sie begannen, sich kritisch über die Einheitspolitik der etablierten Mainstreamparteien zu äußern. Nach und nach ließen traditionelle Medien wie der öffentlich-rechtliche Rundfunk und die großen Zeitungen diese Äußerungen immer weniger zu. Nun begannen Intellektuelle auszuweichen: 1998 gründete André F. Lichtschlag „eigentümlich frei“, 2004 wurde die „Achse des Guten“ von Henryk M. Broder, Dirk Maxeiner und Michael Miersch gegründet. Dieter Stein begann Ende der 1990er Jahre seine „Junge Freiheit“ konsequent von einem stramm konservativ-nationalistischen in Richtung eines national-liberal-konservativen Kurses umzubauen (nationalistische Reste finden sich in dem Blatt immer noch). 2001 übernahm Roger Köppel die „Weltwoche“ und baute sie auf ähnliche Weise um. 2014 gründete Roland Tichy, vorher  bei der Wirtschaftswoche, „Tichys Einblick“.

Sie alle verzeichneten spätestens seit 2015, als vielen Bürgern endgültig klar wurde, dass unsere Eliten den Bezug zur Realität verloren hatten wie der Adel am Hofe der vorrevolutionären Bourbonen, ein exponentielles Leserwachstum und einen Zustrom intelligenter, kritischer und hochattraktiver Autoren. Das intellektuell anspruchsvollste Organ der Gegenöffentlicheit ist sicherlich die von Frank Böckelmann in dieser Form seit 2013 herausgegebene „Tumult. Zeitschrift für Konsensstörung“. Sie hat den altehrwürdigen Merkur in der Bedeutung abgelöst.

Die Gegenöffentlichkeit artikuliert sich immer deutlicher

Was haben die Protagonisten der Gegenöffentlichkeit gemeinsam? Sicherlich sind es keine „Rechten“ oder „Neu-Rechten“ wie es der linke Mainstream anklagend behauptet, obwohl sicherlich auch viele Konservative unter ihnen sind. Viele, einschließlich des Autors dieses Artikels, sind aber auch Linke im echten Sinne: Menschen, die sich beispielsweise über die Forderung nach breit gestreutem Eigentum und ernsthafte Bildungsinvestitionen oder einen sinnvollen Sozialstaat für die Schwachen unserer Gemeinschaft einsetzen, dabei aber von realistischen Prämissen ausgehen.

Die meisten Autoren der Gegenöffentlichkeit haben ein realistisches Menschenbild, wie es Paulus, Luther, Hobbes, Machiavelli, Kant und Gehlen beschrieben haben. Daher haben sie angesichts der Hybris der romantischen Anthropologie des linken Mainstreams, der zufolge der Mensch im Grunde genommen ein aggressionsfreies Wesen ist und wir einen grenzenlosen Weltstaat errichten sollen, eine berechtigte, sinnvolle Angst vor dem Verlust von Rechtsstaatlichkeit, öffentlicher Ordnung und zivilisatorischer Kontinuität. Die Gegenöffentlichkeit besteht nicht aus "Rechten", sondern es sind kritische Realisten, die um die Begrenztheit und Fehlbarkeit des Menschen und die Notwendigkeit stabilisierender Institutionen wissen.

Außerdem sind für die Gegenöffentlichkeit der rationale Dialog und die Wissenschaft, die immer wieder neu nach der in ihrem zeitlichen Kontext gültigen Wahrheit fragt, die wesentlichen Grundlagen der abendländischen Zivilisation. Viele der Autoren sehen die Beschränktheit menschlicher Möglichkeiten und wollen die Menschen nicht hybrishaft entgrenzen, sondern ihnen ein friedliches Zusammenleben angesichts ihrer Mängel ermöglichen.

Sie wollen zurück zum Ordnungs- und Rechtsstaat, der die Verfassung und die Gewaltenteilung respektiert und in dem sich ein echter Wertepluralismus entfaltet. Dagegen steht der Gesinnungskonsens der privilegierten Mainstream-Eliten. Doch die Gegenöffentlichkeit artikuliert sich immer deutlicher, bekommt neue intellektuelle Protagonisten und entfaltet dank der sozialen Netze, die letztlich nicht wirklich zensierbar sind, eine massive Dynamik. Noch ignoriert die Mainstreampolitik deren Anliegen. Noch dringt die Gegenöffentlichkeit nicht zu den Massen durch.

Der magische Glaube an die reale Fernwirkung von Meinungen

Wir kommen damit zur entscheidenden Frage zurück: Wie und wann wirkt die Gegenöffentlichkeit? Sie leistet nicht nur sinnvolle und berechtigte Kritik am heutigen Herrschaftssystem, sondern artikuliert auch Alternativen zum Status quo bezüglich vieler gesellschaftlich-politischer Aspekte, nicht nur zu Rechts- und Ordnungsstaat, sondern beispielsweise auch zu Partizipation, Subsidiarität, Energieversorgung, Verteidigung, Marktregulierung, Währungssystem, Siedlungsstruktur, Landwirtschaft, Zwischenstaatlichkeit und vielem mehr. Diese Entwürfe sind sehr wichtig, da man sie als Ausgangsmaterial verwenden wird, wenn eine Änderung der Zustände erfolgt. Doch die unmittelbare politische Wirkung von Kritik und Gegenentwürfen ist beschränkt.

Warum? Die meisten Menschen sind durch intellektuelle Analysen des Zustands unserer Gesellschaft nicht erreichbar, Gehlen sagt dazu (in „Urmensch und Spätkultur“, 1956):

„Formal magisches Verhalten kann auch im Umkreis eines hoch rationalen Bewußtseins auftreten, es entzieht sich dann dem Bemerktwerden und hält sich, wie die archaische Magie, selbst für vernünftig und sachentsprechend. Der Glaube an die reale Fernwirkung von Meinungen gehört in diesem Sinne zu den magischen Beständen der Intellektuellenkultur, ebenso wie der, dass man vom Bewußtsein her das Verhalten der Menschen stabilisieren könne.“

Stattdessen reagieren die meisten Menschen eher intuitiv auf die Umstände, die sie in ihrer unmittelbaren Lebenswelt beobachten. Nehmen sie Ereignisse wahr, die ihre Hintergrunderfüllung (Gehlen) erschüttern, werden sie aus dem gewohnten Lebenszusammenhang geworfen und müssen ihr Verhalten neu justieren. Solange sie sich aber noch sicher fühlen und sich materiell versorgen können oder vom Staat versorgt werden, denken sie nicht um. Das Umdenken ist schmerzhaft und erfolgt erst, wenn sich materielle Not breit macht oder der Staat seine Bürger nicht mehr konsequent vor privater Gewalt schützt und diese nicht mehr sichtbar ahndet.

Der Moment in dem Gegenöffentlichkeit die Massen erreichen kann

Wir beobachten gerade den Beginn eines solchen Zustands – was bestenfalls zu einer Abwahl unseres Establishments führen wird. Denn grundsätzlich sind Menschen zwar bereit, sich einer Herrschaft zu unterwerfen, wenn sie daraus einen stabilen Sicherheitsgewinn erzielen. Doch Hobbes beschreibt sehr klar, dass sich Menschen nur dem staatlichen Gewaltmonopol unterwerfen, wenn sie dieses als das kleinere Übel gegenüber einem Zustand der erratischen Gewaltverteilung ansehen. Wenn der Staat dies nicht mehr leisten kann, wenden sich die Menschen von ihm ab, organisieren den Schutz vor Gewalt auf andere Weise oder wehren sich sogar gegen die Staatsgewalt.

Das ist der Moment, an dem die Gegenöffentlichkeit nicht nur ein paar hunderttausend Mitbürger, sondern die Massen erreichen kann, und dann könnte es noch zum friedlichen Wechsel kommen: Da wir in einer Demokratie leben, könnte der Demos unser Establishment dann einfach abwählen. Aus Angst davor versuchen unsere Eliten, dort, wo sie (noch?) nicht offen zensieren - wie sie es schon bei den sozialen Medien durchgesetzt haben (NetzDG), die Wirkung von Zensur und Sprechverboten durch soziale Ächtung sowie staatlich geduldete oder geförderte Gewaltanwendung (Antifa) gegen Andersdenkende zu emulieren.

Die wirklich spannende Frage ist folgende: Merken die Bürger schnell genug, was passiert, damit sie noch das Establishment abwählen und dem Handeln der gegen sie agierenden Institutionen (wie viele Gerichte oder dem BAMF) ein Ende setzen können? Oder ist bis dahin das Wahlrecht in seiner Wirksamkeit, beispielsweise durch radikale Kompetenzverlagerung nach Brüssel, bereits so eingeschränkt, dass das System nicht mehr abwählbar ist? Daran arbeiten Politiker wie Merkel und Macron ganz offen und sichtbar. Hoffen wir, dass sie nicht zum Ziel kommen – dann Gnade uns Gott, denn es würden die von Hobbes beschriebenen und aus dem 16. und 17. Jahrhundert bestens bekannten Voraussetzungen für den Bürgerkrieg erfüllt. Wir von der Gegenöffentlichkeit versuchen dazu beizutragen, dass dies nicht passiert.

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Mark Schild / 13.06.2018

Spätere Historiker werden die aktuelle Politik einmal als die Ur-Katastrophe des 21.Jahrhunderts bezeichnen oder sie werden sie lobpreisen, aber dann in arabischer Schrift.

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