Ist das Leben der Frauen in unseren Breiten ein einziger Existenzkampf? Werden wir im Deutschland des Jahres 2020 systematisch gequält, ausgebeutet, klein gehalten, diskriminiert, stigmatisiert und täglich wegen unseres Geschlechts gedemütigt? Haben wir kaum eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben und sind eigentlich nichts als kleine Häuflein Elend, die sich mit letzter Kraft von Tag zu Tag schleppen und eigentlich kurz davor stehen, aufzugeben?
Diesen Eindruck könnte man gewinnen, wenn man sich die Debatte anschaut, die seit einigen Jahren zum Thema „Gleichberechtigung“ durch die Medien geistert. Und zum heutigen Weltfrauentag, der auch gerne „Frauenkampftag“ genannt wird, stimmt die Berichterstattung auch nicht gerade optimistisch. „Die UN stellt den diesjährigen Weltfrauentag unter folgendes Motto: 'Ich bin Generation Gleichberechtigung: Frauenrechte verwirklichen.'“ So erfahre ich es aus einem Video-Beitrag der Berliner Morgenpost. Weiter heißt es: „Ob im Irak, in China, im Sudan oder Brasilien, der Kampf gegen die Diskriminierung von Frauen ist ein allgegenwärtiges Problem.“ Unterlegt werden diese Aussagen mit einem Sammelsurium von Bildern verschiedener Frauen-Demonstrationen aus aller Welt, ohne freilich darauf hinzuweisen, welcher Ausschnitt aus welcher Region stammt. So weit, so beliebig.
Unter der Kopfzeile „Weltfrauentag 2020: So leben, lieben und leiden Frauen weltweit“, kündigt Spiegel Online seinen Frauen-Beitrag an. Und titelt weiter: „Die Welt nach #MeToo. Jetzt gibt's Ärger.“ Der Text fragt: „Hier berichten unsere Korrespondentinnen und Korrespondenten, wie es um Frauenrechte in ihren Ländern steht. Wo wurden progressive Gesetze erlassen, in Bezug auf Abtreibung, Ahndung von Femiziden oder Gleichstellung? Welche Debatten finden derzeit statt? Aber auch: Wo gab es Rückschläge?“ Das Wort „Femizid“ war mir bisher noch gar nicht geläufig. Es bezeichnet laut Wikipedia „die Tötung von Menschen weiblichen Geschlechts". Und weiter: „Das Wort Femizid wird auch in einer spezielleren Bedeutung für die Tötung von Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts verwendet.“ Ehrenmorde oder die gezielte Tötung von weiblichen Säuglingen zählen laut Definition dazu.
Was stimmt nicht mit mir?
Das Leben der Frauen, ein einziges Leiden? In einigen Staaten der Erde gewiss. Von Protesten in Südafrika und Indien ist im Spiegel-Artikel die Rede, aufgrund der eklatant hohen Vergewaltigungsraten in diesen Ländern. In El Salvador werden Frauen, die abtreiben, mit zwei bis acht Jahren Haft bestraft. Auch eine erlittene Fehlgeburt oder Totgeburt gilt als Abtreibung und kann Frauen wegen besonders schweren Mordes hinter Gitter bringen.
Spiegel Online-Autorin Anne Backhaus schafft es nun, diese dramatischen Zustände in einen Kontext mit dem Weinstein-Skandal und der #MeToo-Debatte zu stellen. Ein Hashtag aus der privilegierten Hollywood-Glitzerwelt neben rechtlosen Frauen aus ärmeren Ländern. Dies ist aus meiner Sicht mindestens achtlos, wenn nicht sogar geschmacklos.
Mit derselben Unschärfe nähert sich Josephine von der Haar in der Frankfurter Rundschau der Geschichte des Weltfrauentags:
„In verschiedenen afrikanischen und asiatischen Ländern ist der Weltfrauentag ein Feiertag, ebenso in einigen südosteuropäischen Ländern. Vielen dieser Länder ist gemein, dass sie ehemals zum Ostblock gehörten (...) Ein zentrales Thema am Weltfrauentag ist die Gewalt gegen Frauen. Durch ihre strukturell benachteiligende Rolle in der Gesellschaft sind Frauen besonders häufig Gewalt ausgesetzt.“
Doch wo bekleiden Frauen eine „strukturell benachteiligende Rolle in der Gesellschaft“? In den genannten Ländern? Auf der ganzen Welt? Auch in Deutschland? Wie kommt es, dass mir als junger Frau noch nie meine „strukturell benachteiligende Rolle in der Gesellschaft“ bewusst geworden ist, ich vielmehr sehr gerne als Frau durch’s Leben gehe? Ist etwas mit mir nicht in Ordnung?
„Nicht nur am 8. März ist Weltfrauentag“
Warum stimmen gerade in westlichen Ländern manche Frauen mit Vorliebe ein Hohelied des Mangels und der Unzulänglichkeit an, wenn es um ihre Rolle in der Gesellschaft geht? Ist das berechtigte Kritik, die sich aus ihrem Erfahrungsschatz speist, ist das eine Taktik, um sich selbst zum Opfer zu degradieren und somit Vorteile zu erlangen? Oder gar eine Form der Selbsterniedrigung aufgrund von Komplexen und einem mangelnden Selbstwertgefühl? Macht sich auf diese Weise der vom spirituellen Lehrer und Bestseller-Autor Eckhart Tolle beschworene „weibliche Schmerzkörper“ bemerkbar – eine Art Verletzungsempfinden, das sich laut Tolle aus den jahrtausendealten Unterdrückungserfahrungen im Patriarchat speist und kollektiv von Frauen empfunden wird?
Solche Gedanken kamen mir bei meinem letzten Besuch der Berliner Kultbuchhandlung „Dussmann“ auf der Friedrichstraße. Pünktlich zum Weltfrauentag wurde im Eingangsbereich des mehrstöckigen Kultur-Kaufhauses ein passender Büchertisch zusammengestellt. Ein Aufsteller zeigte das Motto „Nicht nur am 8. März ist Weltfrauentag“ an, flankiert von drei obligatorischen Fäusten. Darunter wurden ein paar Dutzend Veröffentlichungen angeboten, die von der Buchhandlung augenscheinlich als für Frauen besonders relevant eingestuft wurden.
Neugierig nahm ich die Sammlung näher in Augenschein. Nach einem kurzen Blick wurde mir klar, dass auch hier das Frausein in erster Linie als Existenzkampf begriffen wird. Zu den vorgestellten Titeln gehörten etwa „Yalla, Feminismus“ von Lady Bitch Ray, „Wenn Männer mir die Welt erklären“ von Rebecca Solnit, „Warum so viele inkompetente Männer in Führungspositionen sind“ von Tomas Chamorro-Premuzic, „Und wie wir hassen!“ von Lydia Haider, „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“ von Kristen R. Ghodsee, „Untenrum frei“ von Margarete Stokowski, „Das beherrschte Geschlecht: Warum sie will, was er will“ von Sandra Konrad, „Stark: Rebellinnen von heute“ von Kathrin Köller und Anusch Thielbeel oder „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvois.
Das Gros der Bücher suggeriert: Auch wenn der 8. März seit 2019 in Berlin ein gesetzlicher Feiertag ist, zu feiern gibt es im Grunde wenig, da der westliche Weiblichkeits-Diskurs offenbar von Negativität zerfressen ist.
Unsichtbare Vulven
Das Buch „Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts“ von Mithu Sanyal macht dies auf besonders frappierende Weise deutlich. Es geht, wie der Titel andeutet, um eine abendländische Kulturgeschichte von Vulven-Darstellungen. Doch bereits das Vorwort verheißt nichts Gutes:
„Die Vulva wird (von einigen Theoretikern) als Loch, Leerstelle oder Nichts beschrieben. Im besten Fall fungiert sie als ungenügender Penis (…) Bei einer Versuchsreihe, die ich an verschiedenen Gruppen von Wissenschaftlerinnen durchführte, stellte ich fest, dass sie alle Penisse zeichnen konnten, jedoch keine eine wiedererkennbare Vulva zustande brachte. Das faszinierte mich (…)“
Dies sei jedoch nicht immer so gewesen:
„Es gab den festen Glauben, dass Frauen, indem sie ihre Röcke heben, Tote erwecken und sogar den Teufel besiegen konnten. Das weibliche Genital war ein heiliger und heilender Ort. Die Vulva wurde nicht etwa übersehen, sondern mit gewaltiger Anstrengung zuerst diffamiert und daraufhin verleugnet, bis zu der irrigen und irren Auffassung, sie sei nicht der Rede wert.“
Liegt in dieser abendländischen Verdrängung also die Wurzel allen Übels? Trägt auch die westliche Frau ein ewiges Gefühl des Mangels mit sich herum, weil es bis heute an einer Auseinandersetzung mit der Vulva mangelt? In der Tat scheinen ja auch die hier aufgeführten Buchtitel zu suggerieren, dass die jeweiligen Autorinnen ihren Blick auf weibliche Themen durch die Auseinandersetzung mit Männern entwickeln, anstatt sich auf sich selbst als Frau zu beziehen. Führt aus tiefenpsychologischer Sicht die Lücke des weiblichen Geschlechts zu einer Leerstelle im theoretischen Ansatz?
Die Rückkehr der wilden Frau
Schließlich fiel mein Blick auf das Buch „Die Wolfsfrau. Die Kraft der weiblichen Urinstinkte“ von Clarissa Pinkola Estés. Diese stellt klar:
„Nicht nur die wilden Tiere, auch die wilden Frauen dieser Erde sind vom Aussterben bedroht. Im Lauf mehrerer Jahrtausende wurden die weiblichen Urinstinkte systematisch plattgewalzt, abgeholzt, ausgeplündert, unterdrückt, oft auch zubetoniert (…) Kann das vom Aussterben bedrohte, das so lange Verdrängte und aus unserem Bewußtsein Vertriebene noch gerettet, ins volle Leben zurückgerufen werden? Die Antwort ist: ja, kategorisch ja. Im Lauf meiner jahrzehntelangen Praxis als jungianische Psychoanalytikerin (…) wurde mir von zahllosen Frauen bewiesen, daß die verschollen geglaubten weiblichen Urinstinkte im Zuge von zielgerichteten Ausgrabungsarbeiten wieder freigeschaufelt werden können.“
Gott sei Dank. Der Rückkehr des Archetyps der wilden Frau in die Gesellschaft, anstatt die von Mangel zerfressene Gegenwartsfrau. Dann würde der 8. März vielleicht tatsächlich zu einem Feier- und nicht zu einem Kampftag.