Die Ereignisse der Gegenwart sind chaotisch, doch sie sind Zeichen dessen, was kommen wird. Es braucht allerdings Wissen, Erfahrung und vor allem Mut, um sie zu lesen. Anstrengend ja, doch lebensnotwendig!
Letztens schauten Leo und ich einige Episoden der Serie Young Sheldon), da rief Leo plötzlich: "Das ist Foreshadowing!" Jugendliche schauen heutzutage nicht nur einfach so einen Film, und nie zum ersten Mal. Auf Instagram und in anderen sozialen Medien teilen sie untereinander reichlich Clips und Auszüge aus dem filmischen Werk. Schlüsselszenen und die (bislang veröffentlichte) Handlung sind Allgemeinwissen, auch ohne den Film gesehen zu haben.
Jugendliche haben viele Gründe, einen Filme oder die vielen Episoden einer Filmserie zu schauen. Der erste Grund ist oft schlicht, dass man Teil der Debatte um diesen Film sein will. Ein weiterer Grund ist, dass ein Film schlicht Spaß machen kann – bei modernen Filmen überraschend oft nicht der Fall.
Vielleicht hilft die Handlung aber auch den Jugendlichen, ihre eigenen seelischen Kämpfe zu bestreiten. Ein Beispiel: Anders als früher ist heute Scheidung regelmäßig ein Thema von TV-Serien. Das wirkt für Kinder kathartisch.
Leo also kannte bereits die Geschichte, die wir gemeinsam zum ersten Mal sahen. Und er machte sich einen Spaß daraus, nach Foreshadowing zu suchen. Es war allerdings nicht eine Scheidung, sondern deren Gegenteil und Voraussetzung, nämlich eine Hochzeit, die Leo als "Foreshadowing" auffiel.
Mit dem Tod auseinander
Unter Foreshadowing versteht man bei Büchern und Filmen, dass spätere Ereignisse schon früher in der Geschichte einen Wiederschall finden. Die Sagen der Antike sind ohne Foreshadowing ja gar nicht vorstellbar! Hekabe etwa träumt, eine brennende Fackel zu gebären (siehe Wikipedia) – ihr Sohn Paris zerstört dann Troja. Warum musste Achilles an der Ferse töflich verwundet werden? Weil diese seine eine Verwundbarkeit es so foreshadowte. Und alle Prophetien, nicht in alten Sagen, sondern etwa auch in der Bibel, sind eine besonders direkte Art des Foreshadowing.
Große Ereignisse im Neuen Testament werden regelmäßig begründet mit der Formulierung "damit die Schrift erfüllt würde". Es scheint fast, dass ohne nachweisbares Foreshadowing einem Ereignis geradezu das Gewicht fehlen würde.
Wörtlich bedeutet Foreshadowing, dass Ereignisse einen Schatten nach vorne werfen. Bedenken wir, was das praktisch und metaphysisch bedeutet! Wenn Ereignisse ihren Schatten "nach vorn" und in unsere Richtung werfen, dann bedeutet das, dass das Licht vom Ende und Ausgang der Geschichte her leuchtet.
Beim zweiten Sehen dann bin ich ein ganz anderer Zuschauer, und ich sehe die Geschichte "mit anderen Augen". Erst wenn ich weiß, welches Ereignis am Ende steht, also näher an der Sonne als ich, fallen mir die vielen Schatten auf, die es vorauswirft.
Der Unterschied zwischen einem Zeichen und einem Zufall ist oft die Frage, ob jemand benennen kann, welche Sonne am Ende welche großen Ereignisse beleuchtet. Jedoch, mit genug Erfahrung in einem Genre kann der Leser oder Zuschauer das Foreshadowing schon beim ersten Durchlauf erkennen!
In guten Geschichten ist nichts zufällig – also muss auch noch der kleinste Teil einer Geschichte durch Funktion seine Erwähnung rechtfertigen. Es gilt: Was auffällt, hat Bedeutung. (Und Geschichten, in denen viel auffällt, das sich später als bedeutungslos erweist, sind amateurhaft und vergeuden die Zeit des Zuschauers.)
Schatten lesen
Wer durch bewusstes Sehen und und mithilfe von tvtropes.org verschiedene Filmgenres studiert, der wird immer wieder Foreshadowing in Filmen entdecken – schon beim ersten Sehen! Warum aber ist Foreshadowing in Filmen so wichtig und beliebt? Warum schauen wir sehenswerte Filme wieder und wieder, wenn wir doch das Ende kennen?
Ein Grund: Wir haben Spaß daran, neue Fragmente des Foreshadowing zu entdecken, die wir bislang übersahen. (Und von denen nicht einmal der Autor oder Regisseur des Filmes etwas wissen – haha!) Was in Filmen funktioniert, funktioniert dadurch, dass es Bruchstellen menschlicher Realität aufgreift und nach künstlerischer Bearbeitung uns hilft, an diesen Bruchstellen nicht selbst zu zerbrechen.
Es ist uns ein Spiel, Foreshadowing in Filmen zu erkennen. Spiel aber bedeutet: fokussierte Übung wichtiger Techniken der Realität. Das Foreshadowing in Filmen zu erkennen, übt uns darin, auch in der Realität die frühem Zeichen späterer Ereignisse zu erkennen.
Dem Schatten widersprechen
Jenes Foreshadowing ob einer kommenden Hochzeit, die Leo beim Sehen von Young Sheldon auffiel, geschah durch die Verneinung einer kommenden Hochzeit durch eine Protagonistin. Indem der Charakter Mandy immer wieder betont, dass sie Georgie keinesfalls heiraten wird, ist dem Zuschauer bald klar, dass genau dies passieren muss. (Und romantischerweise erst an einem Punkt, an dem sie es aus Liebe und nicht aus sozialer Notwendigkeit tun.)
Doch auch in unserer Realität erleben wir immer wieder, dass kommende Ereignisse ihren Schatten in die Gegenwart werfen, indem ihr Eintreten verneint wird. Wir denken an Ulbricht und "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten". Wir denken an Clinton und "I did not have sexual relations with that woman". Wir denken in jüngerer Zeit etwa an die Laborthese und die zentralen Wahlversprechen des Herrn Merz.
Schaut gute Filme, und lernt, sie zu lesen. Und dann lernt, die Zeichen in der Gegenwart zu lesen. Wer die Schatten kommender Ereignisse zu lesen lernt, nur der hat die Chance, in eigener Angelegenheit dem Schatten zu widersprechen.
Dushan Wegner (geb. 1974 in Tschechien, Mag. Philosophie 2008 in Köln) pendelt als Publizist zwischen Berlin, Bayern und den Kanaren. Seine Website und das Blog-Magazin, auf dem dieser Beitrag zuerst erschien finden Sie hier.
