Tamara Wernli / 28.04.2016 / 06:30 / Foto: NicaPlease / 4 / Seite ausdrucken

Die Gratwanderung entlang der Kloschüssel

Mit voller Blase vor der besetzten Damentoilette auszuharren ist unangenehm, als letzten Ausweg das Männer-WC benützen zu müssen, betrachte ich als solide Demütigung. An öffentlichen Orten, in Stadien, im Kino oder auf Flughäfen, werden Frauen fast immer zum Schlange stehen genötigt. Aus anatomischen Gründen haben wir häufiger Blasendrang und bis die Handtasche aufgehängt, der Toilettensitz desinfiziert und später das Spiegelbild eingehend betrachtet worden ist, dauert es eben etwas länger. Die Abfertigung bei den Männern verläuft doppelt so rasch, trotzdem werden nicht doppelt so viele Damen- wie Herrentoiletten gebaut. Obwohl das Problem weltweit Millionen Frauen betrifft, hat sich weder Google noch Facebook je der Sache angenommen.

Google und Facebook entrüsten sich wegen Klo-Angelegenheiten anderswo. Im US-Bundesstaat North Carolina wurde ein neues "Toiletten-Gesetz" verabschiedet. Es schreibt transsexuellen Menschen vor, nur noch die öffentlichen Toiletten zu benutzen, die gemäss ihrem Geschlecht in der Geburtsurkunde stehen. "Ich will Männern nicht erlauben, die Toilette von Frauen zu benützen", so Pat McCrory, der Regierungschef von North Carolina. Betroffen sind 0,3 Prozent der Bevölkerung – in North Carolina leben 23'000 Transsexuelle. Über 90 Unternehmen reagierten mit massloser Empörung, nebst Google und Facebook American Airlines, Paypal und die Deutsche Bank. Sie drohten, sich aus dem Bundesstaat zu verabschieden und Investitionen zu stoppen. Hollywood sagte geplante Produktionen ab, Künstler ihre Auftritte.

Es ist keine einfache schwarz/weiss-Frage

Es ist keine einfache schwarz/weiss-Frage. Das Gesetz hat den Beigeschmack der Bigotterie. Und es ist absolut verständlich, wenn sich eine als Frau fühlende und kleidende Transsexuelle auf einer Herrentoilette unbehaglich fühlt, oder umgekehrt. Jeder sollte das Klo benützen dürfen, das seinem Befinden entspricht. Transsexuelle können zwar nach einer operativen Geschlechtsumwandlung den Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde ändern lassen, den Eingriff nehmen aber längst nicht alle Transsexuellen vor.

Andererseits, wenn Väter sich um die Sicherheit ihrer Mädchen und Frauen sorgen, ist das genauso verständlich. Das Bild vom verkleideten Triebtäter in Damentoiletten ist zwar überzeichnet, es sollte dennoch nicht als Belanglosigkeit abgetan werden.

Für so geringe Bevölkerungsanteile Gesetze zu erlassen oder Extra-Toiletten für Transsexuelle zu errichten, wie es jetzt von einigen gefordert wird, ist absurd. Da könnte man auch niedrigere Pissoirs für Kleinwüchsige bauen. Oder grössere Kabinen für Menschen mit Raumangst. Pissoirs mit Sichtschutzvorhang für Männer, die sich wegen ihres Mikropenis schämen. Das Leben hält nun mal nicht für jede Unpässlichkeit eine befriedigende Lösung bereit.

Sich als Unternehmen für Minderheiten einzusetzen, ist löblich, bei Gender-Fragen öffentlichkeitswirksam Partei der "Guten" zu ergreifen, derzeit gesellschaftlich chic. Angesichts der Grösse ihres Entrüstungssturms ist anzunehmen, dass jene 90 Firmenchefs über einen ausgeprägten Anti-Diskriminierungssinn verfügen. Das würde auch erklären, warum die Weltverbesserer Google, Facebook, Paypal&Co. in den vergangenen Jahrzehnten in Ländern wie China oder Saudi-Arabien ausnahmslos auf Investitionen verzichtet und sämtliche ihrer Produkte abgezogen haben. Dort hats nämlich längst nicht genügend Klos für alle. Oder bringe ich da was durcheinander?

Tamara Wernli arbeitet als freischaffende News-Moderatorin und Kolumnistin bei der Basler Zeitung. Dort erschien dieser Beitrag auch zuerst.  In ihrer Rubrik "Tamaras Welt" schreibt sie wöchentlich über Gender- und Gesellschaftsthemen.

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Leserpost

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Martin Strunk / 29.04.2016

Ich kann Phillip Schönball nur zustimmen. Hier wurde ein Problem geschaffen wo kein Problem war. Für eine Vergewaltigung ist eine öffentliche Toilette aus Tätersicht warscheinlich einer der ungeeignesten Orte. Und das ganze auch noch in Drag? Würde mich schon wundern wenn das die Regel und nicht die absolute Ausnahme ist. Bei diesem neuen Gesetz handelt sich es tatsächlich um eine reine Trotzreaktion der Konservativen. Nachdem der Oberste Gerichtshof gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt hat versucht man mit unsinnigen Gesetzen wie diesem das Gesicht zu wahren.

Klaus Blömeke / 29.04.2016

Bei größeren Veranstaltungen mit dafür nicht ausreichenden Toilettenanlagen beobachte ich schon seit Jahren, dass auf dem Herrenklo die Kabinen von Frauen genutzt werden. D. h. die Hälfte der Frauen gehen aufs Männerklo. Wo wäre denn das Problem, einfach ein unisex-Klo zu bauen? Pissoars ein wenig umbauen, damit sie auch von Frauen genutzt werden können (hab ich auch schon bei handelsüblichen Pissoiars gesehen, Frau stellt sich einfach rückwärts davor und beugt sich nach vorne.) Damit wäre die Differenzierung nur noch nach großem und kleinem Geschäft, eventuell erweitert um ein spezielles Becken für die, die nach zuviel Alkohol nicht vor dem Klo knien wollen.

Wolfgang Postl / 28.04.2016

Im REAL-Supermarkt in München gibt es im Kunden-WC im Pissoir tatsächlich neben normal hohen eine tiefer angebrachte Schüssel. Finde ich ganz einfach praktisch, nicht nur für kleine Jungen.

Philipp Schönball / 28.04.2016

“Das Bild vom verkleideten Triebtäter in Damentoiletten ist zwar überzeichnet, es sollte dennoch nicht als Belanglosigkeit abgetan werden.” Was bei der Diskussion über ein derartiges Gesetz immer vergessen wird, ist dass es auch jetzt schon illegal ist, als Mann eine Damentoilette zu betreten und dort eine Frau zu vergewaltigen. Genauso wie es illegal ist, als Frau eine Herrentoilette zu betreten, und dort einen Mann zu vergewaltigen. Eine Vergewaltigung ist grundsätzlich illegal. (Ich bin mir bewusst, dass die rechtliche Definition der “Vergewaltigung” noch große Lücken aufweist, die zum Schutz der Opfer nachgebessert werden müssen, aber das ist nicht Bestandteil dieser Diskussion.) Wer glaubt denn wirklich, dass man einen Triebtäter, der sowieso bereit ist, eine Vergewaltigung zu begehen und sich dadurch strafbar macht, mit einem Gesetz davon abhalten könnte, dass ihm verbietet, die Toilette des jeweils anderen Geschlechts zu benutzen. Auch der Vergleich mit den niedrigen Toiletten für Kleinwüchsige Menschen hinkt. Kleinwüchsige Männer müssen keine Angst haben, dass sie auf der Herrentoilette beschimpft, bedroht, verprügelt oder vergewaltigt werden, bloß weil sie kleinwüchsig sind. Wie würden Sie reagieren, wenn sie auf der Damentoilette einem augenscheinlichen Mann mit Bart und in Herrenkleidung begegnen? Kämen sie in dem Moment zu der Schlussfolgerung, dass es sich hier offensichtlich um einen Trans-Mann handelt, der ganz gesetzestreu, weil er mit einer Vagina geboren wurde, auf die Damentoilette geht? Oder würden Sie ihn vielleicht als Perversen beschimpfen, der auf dem Damenklo nichts zu suchen habe? Rufen Sie vielleicht sogar die Polizei oder zücken Sie Ihr Pfefferspray? Alle Gesetze, die momentan in dieser Beziehung erlassen werden, sind der Versuch Konservativer Kreise, alle nicht “klassischen” Formen der Sexualität zu verteufeln und der Schutz von Frauen und Kindern wird hier nur vorgeschoben, denn er eigentliche Grund ist nix weiter, als das diese Heterosexuellen Menschen sich von allen LGBTI-Menschen angeekelt fühlen.

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