Peter Grimm / 06.06.2021 / 06:25 / Foto: Imago / 93 / Seite ausdrucken

Das Jahr des betreuten Wählens

Am heutigen Sonntag wird in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. Es ist die dritte Wahl im Corona-Ausnahmezustand mit Kontaktbeschränkungen und Versammlungsverboten. Ein Wahlkampf, wie er zu freien Wahlen essenziell gehört, war kaum möglich. Der frühere Regelfall, dass Kandidaten und Wähler, Parteien und Bürger, Volksvertreter und Volk auf der Straße, auf den Marktplätzen, in Veranstaltungshallen, Stadien und Wirtshaussälen direkt aufeinandertreffen, ist zur raren und kleinlich reglementierten Ausnahme geworden. Direkt streiten, argumentieren, sich hinterfragen lassen und neben Beifall manch herbe Unmutsäußerung einstecken – all das blieb den Kandidaten zu den bisherigen Wahlen in diesem Jahr erspart.

Und wenn es nach der Bundesregierung und den Bundestagsfraktionen von CDU und SPD geht, bleibt es auch noch so. Bei den verbleibenden Landtagswahlen und der Bundestagswahl können bzw. müssen sich die Kandidaten den Wahlkampf nah am Wähler weitgehend sparen. Die Regierungsparteien möchten nämlich die „Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ wieder einmal verlängern – diesmal bis zum 30. September. Damit bleibt die Grundlage für den Ausnahmezustand und den Grundrechtsentzug durch die Corona-Verordnungen erhalten. Und das ist nicht nur für die Fortgeltung all der Sonderregelungen gut, auf denen all die lukrativen Test- und Masken-Geschäfte sowie Impfprogramme und die außerordentliche Zulassung der Impfstoffe beruhen. Auch für die Platzhirsche in der politischen Arena ist das hilfreich.

Neue lästige Konkurrenz konnte unter Versammlungsverbots-Bedingungen kaum entstehen oder wachsen. Wer im direkten Gespräch mit Bürgern stark ist und punkten könnte, dem kann es einfach behördlich untersagt werden, diese Stärken auszuspielen. Wer dagegen einen lange gepflegten guten Zugang zu Medien und Redaktionsleitungen hat, ist klar im Vorteil. Das wird neben Partei- und Fraktionsdisziplin sicher so manchen Bundestagsabgeordneten davon überzeugen, für die Verlängerung des Ausnahmezustands zu stimmen.

Als am Freitag die Bundeskanzlerin erklären ließ, dass sie die Ausnahmezustands-Verlängerung wünsche, da galten – nach offiziellen Zahlen errechnet – gerade mal 0,1 Prozent der Einwohner Deutschlands als SARS-CoV-2-positiv. Die Fraktionen von CDU und SPD vereinbarten dennoch die Notstands-Verlängerung um drei Monate.

Am Samstag sank der Wert der SARS-CoV-2-Positiven in Deutschland auf 0,09 Prozent. Da meldeten sich wenigstens sechs aufbegehrende Bundestagsabgeordnete aus CDU und SPD mit einem Brief an ihre Parlamentskollegen zu Wort und forderten sie auf, gegen eine Ausnahmezustands-Verlängerung zu stimmen, wie bild.de berichtet.

„Stimmen Sie mit ‚Nein‘“

Angesichts der tatsächlichen Corona-Lage müsse ein sofortiger Kurswechsel stattfinden, schrieben die Abgeordneten demnach: „Die Wissenschaft lehrt uns, dass wir auch in Zukunft mit dem Virus leben werden. Also muss das Leben nun endlich wieder wie gewohnt weitergehen“, anstatt in „einer scheinbar endlosen Schleife von Überregulierungen, Mahnungen und Verboten“ zu verharren.

Unmissverständlich heiße es von den fünf CDU/CSU-Abgeordneten und einem aus der SPD:

„Wir müssen im Sinne des Volkes handeln. Der Schutz der Gesundheit ist lange genug die einzige Leitlinie der politischen Entscheidungen gewesen. Wir haben die Gesundheit der Menschen geschützt – zumindest die körperliche. Jetzt muss es um den Schutz der seelischen Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger Deutschlands und um den Zusammenhalt in der Gesellschaft gehen. Deswegen mein Appell: Stimmen Sie am 10.06.2021 mit ‚NEIN‘.“

Vielleicht hätte die Nachricht der geplanten Ausnahmezustands-Verlängerung das Stimmverhalten von mehr Wählern in Sachsen-Anhalt beeinflusst, als es das jetzt tut. Von ihnen werden nämlich mehr als je zuvor ihre Stimmen schon abgegeben haben. Wegen der Corona-Regeln ist damit zu rechnen, dass der Anteil der Briefwahlstimmen auch in diesem Land Rekordhöhen erreicht. An dieser Stelle ist schon gelegentlich beschrieben worden, warum es problematisch ist, wenn aus der Briefwahl, die als Ausnahme ins Wahlrecht aufgenommen wurde, der Regelfall wird.

Nicht nur, weil sich der Umgang mit Briefwahlstimmen als fehleranfälliger erwiesen hat. Vor allem ist die freie und geheime Wahl eben keine geheime Wahl mehr, wenn der Wähler nicht allein in seiner Wahlkabine sitzt. Sie kann es sein, aber der jeweilige Briefwähler kann ebenso unter sozialem Druck der Familie, der Wohngemeinschaft oder einem anderen sozialen Umfeld seine Stimme unter deren Augen und nach deren Wünschen abgegeben haben.

In der Summe können all die Einflüsse der Ausnahmezustandsregeln zu nicht unerheblichen Verzerrungen führen. Genau abschätzen kann das niemand, denn eine solche Aushebelung der Grundrechte hat es in der Bundesrepublik Deutschland noch nie gegeben. Und dieser Zustand hält jetzt schon 15 Monate an. Das Erschreckende ist, dass nicht der Protest gegen den Grundrechtsentzug wächst, sondern scheinbar die Gewöhnung an ihn. Aber auch das kann eigentlich niemand genau sagen, denn bei stark reduzierten Kontakten findet nicht nur kein direkter Wahlkampf, sondern auch wenig gesellschaftlicher Austausch statt. Bei der Frage, wie denn die Stimmung im Lande wirklich ist, scheinen am Ende derzeit alle im Nebel zu stochern.

Dass nun, kurz vor der Sommerpause der Ausnahmezustand verlängert werden soll und die erste Bundestagswahl nach eineinhalb Jahren Grundrechtsentzug unter dessen Fortgeltung, ohne angemessenen Wahlkampf ablaufen könnte, ist ein schlechtes Zeichen. Wenn es sich die politischen Nutznießer des Ausnahmezustands in selbigem bequem zu machen gedenken, was soll dann von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung noch übrigbleiben?

Foto: Imago

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Leserpost

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Günter Lindner / 06.06.2021

In was für einem massiven Dilemma sich unser Parteiensystem befindet. Die Wahl in Sachsen Anhalt ist Lehrstunde . Denn Egal was die Menschen wählen – sie bekommen immer (auch) linksgrüne Politik durch Diskriminierung des Wählerwillens. Man sammelt lieber kleine Minderheiten zur Machterhalt und Machtergreifung der gewählten Minderheiten. Die Politiker die von Demokratie reden verweigern sie. Sie sind Lügenpolitiker.

Heinrich Wägner / 06.06.2021

“Das sie sich eine Verlängerung wünsche” Das kenne ich doch irgend wo her. Ach ja , der Erich,wenn der sich was wünschte hat ,hat keiner aufgemuckt und das Jahrzehnte . Und wenn sich Der was wünscht wussten wir schon, da kommt nichts gutes rum. Kohls Mädchen, was mal Honeckers Mädchen war wird das schon machen. Vor allen der Westmichel und Micheline haben die DDR nicht leif erlebte und finden es spannend was da noch so Alles kommen kann.  Der Berndshof bei Ückermünde in dem ich saß  weil ich Wünsche nicht erfüllt habe , kann ja wieder hergerichtet werden . Die Alten Ossis kennen das alles schon und richten sich schon auf die Neue , Alte Situation ein, wenn das Mädchen was ihr unbedingt haben wolltet, immer wieder gewählt,  im Herbst wieder die Führung mit all ihren lieblichen Wünschen ,von nicht hilfreich bis die Wahl muß rückgängig gemacht werden für die nächsten Jahre übernimmt , weil die PARTEIEN DER NATIONALEN DEUTSCHLAND sich nicht einigen können wer dieses Land in den Untergang führt. Da ich als Winzling schon mal den Untergang erlebt und überlebt habe , macht ihr mal ,dann könnt ihr auch aus eigener Erfahrung sprechen.

Stanley Milgram / 06.06.2021

Da hat wieder mal die Mehrheit der Kälber ihren Metzger gewählt. Wie dumm kann eine Masse denn noch sein? Unfassbar.

Boris Kotchoubey / 06.06.2021

Der Schlusssatz “Wenn es sich die politischen Nutznießer des Ausnahmezustands in selbigem bequem zu machen gedenken, was soll dann von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung noch übrigbleiben?” setzt voraus, dass jetzt - bevor das Beschriebene passiert ist - von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung noch Vieles übriggeblieben sei.

K. Nerweiß / 06.06.2021

,,Das Erschreckende ist, dass nicht der Protest gegen den Grundrechtsentzug wächst, sondern scheinbar die Gewöhnung an ihn.” Nein, nicht die Gewöhnung, sondern die Zustimmung wächst: CDU in Sachsen-Anhalt > 35 %. Wenn nicht einmal der Osten Nägel mit Köpfen macht, dann bleibt wenig Hoffnung.

H.Wess / 06.06.2021

@Klaus Müller, ihre Kommentare werden immer “Trolliger”! SIE sind es nicht Wert!

Tabea Habersbach / 06.06.2021

Deutschland in der Demokratiefalle. Auf Geheiß der Super-Exekutive (Fachausbildung: AgitProp–Tussi. Hauptqualifikation: Abrissbirne) beschließt die Legislative (eines der größten Parlamente weltweit) Maßnahmen, die die Judikative nicht mehr überprüfen kann (Verwaltungsgerichtsbarkeit) oder voll super findet (BVerfG mit Abrissbirnen-Adlatus als Präsident). Wo steckt das Problem? Bei der Zivilgesellschaft?

Uwe Jacobs / 06.06.2021

Mangels Kommentarfunktion: Danke Ihnen, Gert Köppe - genau dieser Meinung bin ich auch. Und danke auch an die vielen freiheitlich-demokratischen Stimmen hier: Noch ist unser Land nicht verloren! Vade retro, Gaukler und Scharlatane. Citissime et in aeternitate!

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