Von Stephan Reimertz.
Die Krokodilstränen auf der vergifteten Trauerfeier zum Tode des rumäniendeutschen Schriftstellers Richard Wagner in der Rundfunksendung „Lesart“ auf DLF Kultur bilden einen Höhepunkt der Scheinheiligkeit der deutschen Zwangsbeschallung. Freilich hat sich der Staatsfunk hier aufs Neue selbst den Totenschein ausgestellt.
Wie die Feier des Directoire zum Jahrestag der Hinrichtung von Louis XVI, so klang Mitte März der Gedenkbeitrag des als Literatursendung deklarierten Politmagazins „Lesart“ auf DLF Kultur. Wie Napoleon besagter Feier aus Anstand fernblieb, hätte der Hörer aus Takt die Diffamierungskampagne abschalten müssen. Der verstorbene rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner ist am Ende seines Lebens, so hören wir, „dann ein bisschen in die rechtskonservative Ecke abgedriftet und hat auch für das Netzwerk ‚Achse des Guten’ geschrieben“. So flüstert’s die Moderatorin Andrea Gerk, die zum DLF Kultur abgedriftet ist, verständnisinnig ihren Hörern ins Ohr. Sie kann davon ausgehen, dass ihr am linksliberalen Volksempfänger nur Gleichgesinnte lauschen.
Wie in keinem anderen Medium macht im Rundfunk der Ton die Musik. Das sind „Dinge, die in einer Freundschaft nicht mehr aufgefangen werden“, dräut Ernest Wiechner, Banater Landsmann, mit rollendem R angesichts Wagners Pakt mit den Achsenmächten. „Dann musste die Freundschaft enden.“ Der Grundsatz „de mortuis nil nisi bene“ gilt nur für Genossen. Bei dem zur Achse des Bösen Abgefallenen hingegen heißt es: „I came to bury Caesar, not to praise him.“ Nehmt das auch als Warnung: Man kann sich’s ganz schnell verderben mit der Reichsschrifttumskammer.
Es zählt nicht mehr, dass man einst von einem kommunistischen Régime miteinander unterdrückt war und in Rumänien die Tyrannis Hand in Hand durchgestanden ist. Jahrzehnte der Freundschaft im hochsubventionierten Exil-Berlin verpuffen in einem Seufzer, wenn der Banater Kamerad etwas so Unverzeihliches wagt, wie sich seines eigenen Verstandes zu bedienen und aus den von der Berliner Literaturclique vorgegebenen Sprachregelungen und rot-grünen Wohnküchenwahrheiten auszuscheren.
Rundfunk als Straßenbarrikade im Weltbürgerkrieg
Hat es in Deutschland seit dem Dritten Reich und der DDR jemals einen so uniformen Literaturbetrieb gegeben? Sprachregelungen wie aus George Orwells „1984“ und eine frontal gegen die Traditionen der Aufklärung gerichtete Sprachdiktatur in Form einer Identitätspolitik im Stil der Dreißiger Jahre werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Nicht mehr, was geschrieben wird oder die literarische Qualität zählen, sondern, ob der Schreiber männlich oder weiblich, schwarz oder weiß, Eingewanderter oder Eingeborener ist und so weiter. Hier soll um jeden Preis die freie Meinungsäußerung erstickt und ein Gesinnungsjargon durchgedrückt werden. Aber dabei bleibt es nicht.
Die wochentags zwischen 10 und 11 Uhr, samstags zwischen 11 und 12 Uhr laufende Sendung Lesart auf DLF Kultur drischt in unermüdlicher Monotonie auf immer wieder dieselben Feindbilder ein wie auf den Hau-den-Lukas auf der Kirmes. So verkündete im Beitrag vom 10. November 2020 die Moderatorin Andrea Gerk: „Monika Maron hat verlauten lassen, der frühere Hoffmann-und-Campe-Autor Heinrich Heine sei ihre Jugendliebe und werde nun offenbar ihre Altersliebe. Wonach klingt das für Sie, wenn da ausgerechnet der jüdische Republikaner Heinrich Heine ins Spiel gebracht wird?“ Monika Maron ist Antisemitin? Das wird hier nicht explizit gesagt, dann bekäme man ja Post vom Anwalt. Aber wird es nicht insinuiert? Im Gegenzug wird Siegfried Lenz als „redlicher sozialdemokratischer Autor“ bezeichnet.
Es kommt also nicht darauf an, ein guter Schriftsteller, sondern ein guter Sozialdemokrat zu sein. So haben wir’s schon in den Siebzigern bei unseren Deutsch- und Sozialkundelehrern gelernt. Die Muse freilich ist wie andere Mädchen auch: Sie liebt vor allem die bösen Jungs. In fünfzig, in hundert Jahren wird man von den Linientreuen von heute ebensowenig hören wie wir heute von den systemkonformen Autoren früherer Zeiten. Die Unbotmäßigen, Aufmüpfigen sind es, die nicht durch die Maschen fallen und die übrig bleiben, wenn das Gold gesiebt wird.
So klingt Opportunismus
Und wenn man die „Redakteure“ dieser Gesinnungssendung früge, was Linksliberalismus überhaupt sei und wie seine bekanntesten Autoren hießen, käme man nicht sehr weit. Wie vom Existenzialismus nur den schwarzen Pullover so haben diese Leute vom Linksliberalismus nur den Schlabberpullover verstanden. Wir haben es hier wie im überwiegenden Teil des deutschen Kulturbetriebs mit jenen Linksliberalen zu tun, die, in Worten von Sahra Wagenknecht, „weder links noch liberal“ sind. Bei Medienvertretern haben wir zunehmend ein regressives Kleinbürgertum vor uns, welches vor allem darauf achtet, dass man bei Rot nicht über die Straße geht, das mit immer neuen Sprachregelungen alles tut, den offenen Diskurs einer demokratischen Öffentlichkeit zu unterbinden. Ein Schriftsteller oder Künstler aber, der sich an diese Medienerwartungen anpasst, ist verloren, mag er auch kurzfristig hochgejubelt werden.
Wer als Rationalist der Clubsendung „Lesart“ oder überhaupt dem DLF Kultur, ja unseren öffentlich-rechtlichen Medien zuhört oder zuschaut, muss sich die Frage stellen: Ist penetranter Opportunismus nicht gerade das Gegenteil von Kunst und Literatur? Und vor allem: Wer hat aus der lustigen Bohème der Kulturschaffenden politisch abhängige und auf Linie schreibende Spießer gemacht? Immer kleiner wird der Anteil von Stunden, den sie am Tag ihrem schreiberischen Handwerk widmen können; wichtiger sind Kontaktpflege mit den richtigen Leuten geworden und vor allem das peinliche Einhalten der Linie.
Die Plakate wechseln, die Mauer dahinter ist immer dieselbe
Der höchste Wert des Opportunisten ist nicht sein Scheinwert, für den er opportunistisch vermeintlich eintritt. Der ist allein Vorwand und Akzidenz. Sein höchster Wert ist vielmehr der Opportunismus selbst. Der Scheinwert wechselt mit der Saison. So sieht man Opportunisten einmal für Nationalsozialismus, dann für Kommunismus, schließlich für Kapitalismus eintreten. Es liegt ihnen nichts daran. Selbstverleugnung? Da gibt es nichts zu verleugnen. Es geht denen ausschließlich um ihr Fortkommen, und das gibt es für sie nur in Reih und Glied marschierend. So kennzeichnet den Opportunismus etwas Tautologisches, eine Selbstaufhebung. Es wäre ein grundsätzliches Missverständnis, wenn man sich mit dem Opportunisten auf eine Diskussion über den Wert einließe, dem er nun gerade opportunisiert. Seine innere Leere macht den Opportunisten allerdings mitnichten zu einer harmlosen Figur. Im Gegenteil: Er ist hochgefährlich. Ohne ihn wäre Hitler ein Krakeeler, Stalin ein Kleinkrimineller geblieben. Und allein durch den Anpasser werden die gefährlichen, menschenverachtenden Kräfte unserer Zeit auf eine Größe aufgeblasen, die die ganze Menschheit bedroht.
Angesichts des totalen Neusprechs in den öffentlich-rechtlichen Medien wird der Humanist noch mahnen: Ohne schwere Verbiegung der Persönlichkeit kommt da niemand heraus. Der Bildungsbürger alter Prägung kann sich gar nicht vorstellen, dass es da nichts mehr zu verbiegen gibt. Im Nachhinein ergibt sich dann regelmäßig eine Lage, wo niemand so recht daran geglaubt haben will, lediglich seine Familie ernähren musste und ungeschoren davonkommt, wenn er sich als Mitläufer qualifizieren lässt. Mitläufer freilich sind das Allerschlimmste. Der Kotau vor einer engumgrenzen politischen Dogmatik schließt die Duldung unbegrenzten Wahnsinns ein.
Bei ARD und ZDF stehen Sie immer in der rechten Ecke
„Lesart“ berichtet nicht über den Literaturbetrieb, sondern ist Teil von diesem. Dort zählen Autoren und Leser wenig, Kritiker, Agenten und Lektoren alles, als drehe es sich im Restaurant weder um den Koch noch um das Essen, und schon gar nicht um den Gast, sondern ausschließlich um den Kellner. Mit Ralf Dahrendorf zu sprechen, haben wir es mit einer „Falschen Mittelschicht“ zu tun, wie die mit zuverlässiger Regelmäßigkeit aufblinkenden Insignien der Unteren Mittelschicht verraten. „380 Seiten kosten 19.90 Euro. Sind wir hier im Schreibwarengeschäft? Zudem verrät der Babytalk, in dem die Sendung am Samstag im Bereich politisches Buch moderiert wird, wie sehr man es auf die Infantilisierung des Hörers abgesehen hat.
Ebensowenig wie „Lesart“ eine Literatursendung ist, handelt es sich hier überhaupt um Journalismus. Der Hörer erfährt nicht einmal, ob der jeweilige Moderator zugleich die redaktionelle Verantwortung für eine Sendung innehat, oder ob er lediglich als Grüßaugust fungiert. Schwerer freilich wiegt der Einwand, hier habe man es mit einem Influencer-Magazin zu tun, das noch dazu aus öffentlichen Mitteln finanziert wird. Kritischer Journalismus würde wenigstens Ansätze von Literaturkritik bieten, vor allem aber das Beobachtungsfeld auch auf Indie-Publikationen und andere Präsentationsformen der Literatur ausweiten.
„Lesart“ hingegen bietet lediglich Reklame für Verlagsprodukte, welche sowieso schon öffentlich subventioniert werden durch reduzierte Mehrwertsteuer sowie die Finanzierung der Arbeit der Autoren aus öffentlicher und privater Hand, Stiftungen, Preise, Stipendien usw. Wäre die Sendung eine journalistische, würde sie die Mechanismen des Buchmarkts offenlegen und kritisch analysieren. Von einem „redaktionellen“ Ansatz kann jedoch keine Rede sein, die Mitwirkenden sind weder Redakteure noch Moderatoren, sondern öffentlich finanzierte Influencer.
Gewalt gegen unliebsame Verlage gerechtfertigt?
Der vermeintliche Journalismus des Influencer-Magazins „Lesart“ dreht die bekannte Maxime von Hanns Joachim Friedrichs um: Er ist nie dabei und gehört immer dazu. Private Medien können schreiben und senden, was sie wollen. Wenn indes öffentlich-rechtliche Institutionen einen Partialkrieg gegen die geltende Grammatik anzetteln, dürfte dies verwaltungsrechtliche Fragen aufwerfen. Schade für die Lesunart, dass man Sternchen nicht im Radio sprechen kann!
So verlegen sie sich auf die Diffamierung von Autoren, die in ihrer Peer Group aus irgendwelchen Gründen unliebsam geworden sind, meist durch Erfolg beim Publikum. Dem Rauswurf von Monika Maron aus dem S. Fischer Verlag wurde wie selbstverständlich beigepflichtet, anstatt neutral, also journalistisch, über ihn zu berichten. In den Reporten über die Buchmesse wurde nicht die physische Gewalt der linken Szene gegen unliebsame Verlage als Problem dargestellt, sondern die Anwesenheit dieser Verlage selbst. Der Redaktion von „Lesart“ kann also ein zumindest ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt nachgesagt werden.
Klartext statt Lesart
Der Dichter des Deutschlandliedes Hoffmann von Fallersleben schrieb einmal: „Der größte Schuft im ganzen Land / das ist und bleibt der Denunziant.“ Während Deutschland wirtschaftlich in der ersten Liga spielt, rangiert es in Medien und Kulturbetrieb auf dem Niveau eines vermufften Duodezfürstentums des Vormärz mit seinen Insinuationen und seiner üblen Nachrede. Nicht der Autor Richard Wagner, nicht Monika Maron sind nach rechts gerutscht, sondern die Reichskulturkammer der BRD nach links.
Die Pseudo-Literatursendung „Lesart“ ist ein Paradebeispiel für die als Kulturberichterstattung ausgegebene politisch-ideologische Influencer-Funktionen der öffentlich-rechtlichen Medien und des Kulturbetriebs. Während die deutsche Literatur vor lauter Rücksichtnahme auf die jede Woche neue Liste von Sprachregelungen im Sinne des dystopischen Neusprechs von „1984“ immer mehr zu einem Puppenhaus von geduckten Anpassern verkommt, bilden Sendungen wie „Lesart“ mit ihren offiziösen Verlautbarungen zum jeweils aktuellen „Neusprech“ die Speerspitze der strukturellen Gewalt.
In den zehn letzten Jahren seines Lebens war Richard Wagner aus der rot-grünen Wohnküche des Literaturbetriebs ausgeschlossen. Gerade in dieser Zeit hat er, wenig überraschend, seine besten Werke geschrieben. Wagner mag sich in den letzten Jahren seines Lebens an seine Anfänge erinnert haben: Die literarische Securitate, das pseudolinke Auftrumpfen, das Mundtotmachen aller Andersdenkenden, das Diffamieren und Ausschließen von jedem, der die von einer selbstermächtigten Diktatur ausgegebenen Sprachregelungen und Denkverbote nicht beachtet, der sein Leben dem kritischen Denken widmet, dem freien Wort. Wir brauchen keine Lesart, wir brauchen, um es mit dem Titel von Richard Wagners erstem Buch zu sagen, „Klartext“.
Stephan Reimertz ist Lyriker, Essayist, Romancier und Kunsthistoriker. Er lebt in Paris. Den Senderbetrieb kennt er von innen: In den Jahren 1988–1993 war er selbst „radioaktiv“, absolvierte im Haus des Rundfunks in der Masurenallee eine Sprecher- und Rundfunkausbildung, war u.a. Nachrichtensprecher, Klassik-Moderator, Autor und Regisseur beim SFB, RIAS und Deutschlandradio Kultur.