Als Lehrer wähle ich in den Naturwissenschaften stets einen narrativen Ansatz, um die Neugier der Schüler zu wecken. Neulich behandelte ich mit Drittklässlern das Leben des Archimedes, inklusive seiner Entdeckungen. Kann das gutgehen?
Auch wenn ich meine verehrten Mathematikkollegen unseres gemeinsamen Schweizer Bildungsblogs Condorcet – Bernhard Krötz, Mario Gerwig oder Hans Bandelt – nun etwas verärgere, bekenne ich, dass ich in den Naturwissenschaften stets einen narrativen Ansatz wählte, um den Jugendlichen physikalische Zusammenhänge näherzubringen. Demokrit und Marie Curie in der Atomlehre, Lavoisier als Wegbereiter der modernen Chemie oder eben Archimedes als Türöffner für die Mechanik. Mein Bestreben war, dass ich mich mit den Schülerinnen und Schülern auf eine wissenschaftliche Entdeckungsreise begab, die durch die Leistungen herausragender Wissenschaftler vorangetrieben worden waren.
Die Vorlage war für mich das faszinierende Werk „Der Aufstieg des Menschen“ von Jacob Bronowski, einem polnisch-amerikanischen Mathematiker. Es wurde in den 70er Jahren in einer sehenswerten BBC-Reihe verfilmt. Sie eröffnete mir in jungen Jahren den Schlüssel zur Wissenschaftsgeschichte und beeinflusste auch meine Tätigkeit als Vermittler der Naturwissenschaft.
„Abenteuer mit Archimedes“ hieß ein Physikbuch aus der ehemaligen DDR, das mir in den 70er Jahren in die Hände fiel. Man las darin die Lebensgeschichten eines Isaac Newton, eines Galileo Galileis oder eben eines Archimedes und gelangte neben vielen historischen Bezügen und biografischen Angaben sehr anschaulich zu komplexen physikalischen Gesetzen und deren Berechnungen. Die ideologisch motivierten marxistischen Einflechtungen konnte man getrost weglassen. Didaktisch interessant ist dieser Ansatz, weil es meinen Schülern erlaubt, jeweils den Menschheitsprozess des Fortschritts, die Fragen von Unwissenden angesichts von Naturphänomenen und das harte Erkunden durch Beobachtungen und Experimente zu durchlaufen. Die „Krone des Hieron“ beispielsweise ist ein Krimi der Antike, welcher am Schluss der Türöffner zum Verständnis des „spezifischen Gewichts“ oder – korrekter ausgedrückt – „der Dichte“ von Stoffen war. Warum sollte die spannende Geschichte des Griechen Archimedes nicht auch Drittklässlern vermittelbar sein?
„Störe meine Kreise nicht!“
Man soll vorsichtig sein mit Superlativen, wenn es um Leistungen von Wissenschaftlern geht. Aber für mich gehört Archimedes von Syrakus zu den genialsten Forschern der Wissenschaftsgeschichte. Bereits 200 Jahre v. Chr. berechnete er den Durchmesser von Sonne und Mond und die Größe eines Sandkorns. Er ermittelte die Näherungswerte der Kreiszahl, begründete die Infinitesimalrechnung, und er löste eines der größten Probleme der euklidischen Geometrie: Er berechnete das Volumen einer Kugel. Er formulierte das Auftriebsgesetz und das Hebelgesetz.
Als Universalgelehrter beschränkte er sich aber nicht auf die Lösung theoretischer Probleme. Er trieb auch den technischen Fortschritt voran. Man sah ihn des Öfteren auf den Werften seiner Heimatstadt, wie er die Tätigkeiten der Arbeiter und Sklaven beobachtete. Die Erkenntnisse, die er dabei gewann, setzte er in erstaunliche Ingenieurleistungen um. Er erfand allerlei Gerätschaften wie die Zahnräder oder die archimedische Schraube, ein Fördersytem, das heute noch verwendet wird. „Gebt mir einen Hebel, der lang genug ist, und ich werde euch die Welt aus den Angeln heben“, soll er gesagt haben. Aus dem wissenschaftlichen Bonmot entstand schließlich der Flaschenzug.
Auch das tragische Ende des Archimedes gibt einiges her, um das Interesse der Jugendlichen und Kinder zu wecken und dabei elementare physikalische Zusammenhänge zu verstehen. Als die Römer Syrakus im Jahre 202 v. Chr. belagerten, machten sie Bekanntschaft mit damals völlig unbekannten Verteidigungsanlagen. Archimedes entwarf präzise Katapulte, mit Schildern produzierte Brennglas-Prozesse und eine gigantische archimedische Metallkralle. Dies forderte von den Römern einen gewaltigen Blutzoll. Die Belagerung dauerte schließlich zwei Jahre, bevor die Stadt durch Unachtsamkeit und mittels Verrats dann doch noch in die Hände der Römer fiel. Der römische Befehlshaber gab seinen frustrierten und auf Rache sinnenden Legionären den Befehl mit: „Bringt mir diesen Wissenschaftler lebend!“
Der Ausgang ist bekannt. Drei Legionäre entdeckten einen alten Mann am Strand, der mit einem Stab Kreise in den Sand zeichnete. Als sich einer der Soldaten vor ihn stellte, um ihn zu fragen, wer er sei und was er da mache, antwortete Archimedes mit dem legendären Spruch: „Störe meine Kreise nicht!“ Kinder lieben Geschichten. Als ich den Drittklässlern den tödlichen Schwerthieb des Legionärs dramatisch und kunstvoll erzählte, sah ich Tränen in einzelnen Augen. Und natürlich kam sofort die Frage, was denn mit diesem Schuft passierte. Er hatte doch den Befehl, Archimedes am Leben zu lassen.
Die Schüler konnten das Gesetz rudimentär erkennen
Vor dem dramatischen Ende aber ging es um Physik. In der Turnhalle wurden Schaukeln gebaut, in Aquarien wurde untersucht, was denn nun schwimmt, und was nicht. Im nahen Schwimmbad konnten die Kinder im Ansatz das Auftriebsgesetz erleben. Und dann, als die ersten phänomenologischen Erkenntnisse in den Köpfen waren, ging es um handfeste Berechnungen. Dazu konstruierte ich im Werken mit den Schülern eine kleine Schaukel mit eingravierten Massen. Mit Zweifrankenmünzen in genügender Zahl bei der Post geholt, konnten die Schüler das Gesetz rudimentär erkennen. Den begabtesten Kids gelang es sogar, das eigentliche Gesetz herauszufinden und leichte Gleichungen zu lösen.
Ermutigt durch die Begeisterung und den Lernzuwachs wagte ich mich sogar an die Krone des Hieron. Natürlich blieb ich hier im Phänomenologischen stecken. Dass Silber aufgrund der kleineren Dichte ein größeres Volumen erfordert und dadurch mehr Wasser verdrängt, war auch den intelligentesten Kindern nicht zu vermitteln. Dass aber Schiffe auch mit Eisen schwimmen können, wenn man ihnen einen Hohlraum gibt, haben die meisten verstanden.
Der narrative Ansatz im Physikunterricht hat mich auch an elementare didaktische Prozesse erinnert. Der Konstruktivismus, der ja besagt, dass sich die Kinder ihre eigenen Lösungswege erschließen müssen, durch entdeckendes Lernen und individualisierten Unterricht, ist in Einzelbereichen eine verlockende und sicher auch nachhaltige Lehrmethode. Der Physiker und Pädagoge Martin Wagenschein erklärte dies ja durchaus zu einem didaktischen Prinzip. Wenn man sich aber überlegt, wie lange die Menschheit gebraucht hat, um beispielsweise das Hebelgesetz oder das Auftriebsgesetz zu verstehen und in einen Alltag umzusetzen, dann wird einem klar, dass es in einem schulischen Kontext ohne direkte Instruktion und einen geführten wissenschaftlichen Dialog nicht geht.
Alain Pichard, geb. 1955, ist Grünliberaler Stadtrat in Biel (Schweiz) und seit 40 Jahren Lehrer in sozialen Brennpunktschulen. Dieser Beitrag erschien zuerst auf seinem Blog.
Beitragsbild: US National Oceanic and Atmospheric Administration (from the GIMP site) - http://gimp-savvy.com/, Public Domain, via Wikimedia Commons

Selbstverständlich geht das. Aber bei 70% der Schüler:Innen ist es umsonst. Immerhin, vielleicht, verstehen es 30%, die damit die Grundlagen für intelligente und interessierte Menschen gelegt bekommen. Und vielleicht 2% verstehen sogar die Bedeutung von “Gebt mir einen festen Punkt und ich hebe Euch die Welt aus den Angeln.” Da ist auch ein Drittklässler nicht zu jung dafür, um zu verstehen, woran es mangelt, weil sie es ja ohnehin im täglichen bundesdeutschen Schüler-Alltag schon zu spüren bekommen. Es fehlt der feste Punkt. Man kann das als Opfer oder Sklave begreifen, oder als Macher mit Verantwortung. Wenn die frühe Beschäftigung mit dem Hebelgesetz - ich meine das physikalische, nicht das schäuble-fiskalische - Ziele erzeugt, ist es gut. Aber man muss sich von dem Geschwätz lösen, es würde niemand zurück gelassen. Das macht nur ALLE zu Sklaven mit unbegründeten Ansprüchen. Wir brauchen feste Punkte. Aber woher sollen die kommen? Solange wir niemanden zurück lassen dürfen, werden auch die letzten festen Punkte locker werden. Es ist so eine Tyrannei, dass die Bildung, wenn man sie schon versucht, auch bei dem letzten Rind im Stall noch Blüten und Früchte treiben muss. Was für eine Hybris derer, die das erwarten oder sogar fordern.
Schade, dass Archimedes nie den Durchmesser der Sonne oder des Mondes berechnet hat. Trotzdem eine nette Geschichte.
So lange die Kids nicht fragen, auf welchem TikTok Kanal Archimedes sendet, oder in welchem Club der auflegt, ist der Ansatz nicht völlig hoffnungslos.
Das kann durchaus funktionieren. Besagtes Buch habe ich als Kind auch gelesen. Und mit dem Buch hat mein Interesse für physikalische Zusammenhänge begonnen. Daraus geworden ist dann ein Studium der Elektrotechnik und über vierzig Jahre in einem Beruf, die überwiegend Spass gemacht haben. Gelandet bin ich dann fachlich in einer Ecke, die ich so nicht erwartet habe, aber sicherlich durch die Arbeit meiner Mutter in einem Rechenzentrum Ende der 60er irgendwie beeinflusst war. Es gab übrigens in der DDR jede Menge solcher Bücher, die naturwissenschaftlich-technische Zusammenhänge darstellten und die Biographien großer Wissenschaftler nachzeichnen. Aber funktionieren wird es nicht bei jedem. Wenn das Interesse fehlt, die Lesefähigkeit zu wünschen ist, und es niemanden gibt, der mit den Kindern über die Inhalte redet, wird es nichts
„Alles ist Zahl“ war das Motto von Pythagoras und seinen Anhängern. Wozu Zahlen? Um das Volumen einer Kugel zu berechnen? Auch!
Jeder Drittklässler ist bestimmt schon einmal der Badewanne entstiegen. So wird er sicherlich auch begreifen, dass der Walfang zur Senkung des Meeresspiegels beiträgt.
Und.dann? Wie bleibt die erworbene Kompetenz dann hängen? Erinnert an die kunterbunte Welt der Mengenlehre in meiner Grundschulzeit. Hat jetzt nicht besonders viele Träger der Fields-Medaille hervorgebracht.