„Beste Verfassung der Welt“ – solche und ähnliche Lobeshymnen hörte/las man allüberall, als dieses Jahr die Feiern zum 70jährigen Bestehen des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland stattfanden. Kritik war kaum zu vernehmen. Dabei zeigt die öffentliche Diskussion und die Entwicklung gerade auch des letzten Jahres, daß der schöne Schein des Grundgesetzes trügerisch ist und es den Keim für ein Scheitern in sich trägt.
Bevor darauf einzugehen ist, sei aber zunächst angemerkt, daß das Grundgesetz über lange Zeit tatsächlich eine gute Verfassung war. Anfangs zwar nur eine provisorische, mittlerweile seit der Wiedervereinigung aber eine endgültige trotz der historischen Reminiszenz durch die Beibehaltung der Bezeichnung „Grundgesetz“. Der Grund für die Bewährung des Grundgesetzes ist einfach benannt: die Institutionen, die damit umzugehen hatten (also Regierung, Parlament, Justiz), haben im großen und ganzen den freiheitlichen, antitotalitären Geist beachtet, der dem Grundgesetz innewohnt.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Freiheitsfeindliche und antidemokratische Bestrebungen sind auf dem Vormarsch, und es gibt verstärkte Anstrengungen, das Grundgesetz im Sinne dieser Bestrebungen umzugestalten und neu zu interpretieren. Auf welchen ganz unterschiedlichen Wegen dies geschieht, soll im folgenden dargestellt werden.
1. Mit dem Grundgesetz in die Räterepublik
Das jüngste Beispiel: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), der die Bundesregierung berät, fordert in einem Sondergutachten vom Juni 2019 (ab S. 179), einen Rat für Generationengerechtigkeit einzurichten. Er soll die künftigen Generationen im Bundestag vertreten und ein suspensives Vetorecht bei Gesetzentwürfen besitzen. Ein Gremium von Sachverständigen aus den Bereichen Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik soll also bei schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen auf kommende Generationen Gesetze stoppen können, zwar nicht auf Dauer, aber „suspensiv“ auf Zeit. Nach Ansicht des SRU dürfte „bereits die Androhung eines Vetos im laufenden Gesetzgebungsverfahren zu Änderungen des Gesetzesvorhaben führen“.
Durch den Eingriff in den Gesetzgebungsprozeß würde der Rat Staatsgewalt ausüben. Es geht also um eine Machtverschiebung vom demokratischen Parlament zu außerparlamentarischen Räten. Das Grundgesetz stünde laut Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags einem solchen Generationen-Rat nicht entgegen, wenn nur seine Mitglieder durch Bundestag und Bundesrat gewählt würden. Es wäre jedoch der Beginn einer anderen Republik, und erst einmal installiert dürfte es wohl nur eine Frage der Zeit sein, bis aus dem suspensiven Veto ein endgültiges Veto wird, wie es ebenso nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis auch in anderen Bereichen solche Räte eingesetzt würden.
Es ist also gar nicht so schwer, im (vermeintlichen) Einklang mit dem Grundgesetz eine neue Form der „Demokratie“ zu schaffen.
2. Mit dem Grundgesetz in den Sozialismus
Ein weiteres Mittel, mit dem Grundgesetz einen anderen Staat zu schaffen, ist die Reaktivierung überkommener, seinem freiheitlichen Charakter diametral entgegenstehender Grundgesetzartikel. Zu nennen sind hier Artikel 15 und 18, die die Vergesellschaftung von Grund und Boden und Produktionsmitteln sowie den Entzug von Grundrechten regeln. Diese freiheitsfeindlichen Regeln störten lange Zeit nicht, da sie keine Anwendung fanden und ihre Anwendung nahezu gar nicht auch nur erwogen wurde. Erst vor kurzem sind sie aus ihrem Dornröschenschlaf zu Leben erweckt worden.
Artikel 15 ist die Grundlage für die Forderung nach Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen angesichts der (von der Politik, nicht den Unternehmen verschuldeten) Wohnungsknappheit. Ein entsprechendes Volksbegehren startete diesjährig in Berlin. Dadurch ist dieser bisher unbeachtet und unangewendet gebliebene Grundgesetzartikel zum Gegenstand intensiver politischer und verfassungsrechtlicher Diskussionen geworden. Gutachten pro und contra Vergesellschaftung von Wohnungsunternehmen gibt es, auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat dazu eine Ausarbeitung gefertigt.
Erst einmal in der öffentlichen Diskussion verankert, richteten sich diese Vergesellschaftungsvorstellungen auch auf andere Bereiche. So befürwortet etwa der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert auch die Vergesellschaftung von Großunternehmen wie BMW und fordert, daß niemand mehr als den eigengenutzten Wohnraum besitzen solle. Andere Politiker von SPD, Linke/SED und Grüne erheben ähnliche Forderungen und stehen Vergesellschaftungsideen ebenfalls aufgeschlossen gegenüber.
Es ist hier nicht der Platz, die juristische Diskussion über die Vergesellschaftung gemäß Grundgesetz und das Verhältnis zu den Grundrechten der Bürger zu führen. Aufgezeigt werden soll nur, daß das Grundgesetz unter Beachtung gewisser formaler Voraussetzungen und ggf. erforderlicher Entschädigungen eine Komplettumgestaltung der Eigentumsverhältnisse und der Wirtschaft prinzipiell ermöglichen würde und es letztlich nur vom guten oder weniger guten Willen der zuständigen Parlamentarier abhängt, ob dies geschieht. Wobei anzunehmen ist, daß Vergesellschaftungsforderungen bei schlechter werdender wirtschaftlicher Lage (und die Deindustrialisierungspolitik und anhaltende Zuwanderung werden dafür sorgen) immer mehr Anklang finden werden.
3. Mit dem Grundgesetz gegen Regierungskritiker
Eine andere neu entdeckte Vorschrift ist Artikel 18 des Grundgesetzes. Er ermöglicht den Entzug von Grundrechten (wie z. B. Meinungs-, Presse-, Versammlungsfreiheit) bei einem Mißbrauch zum Kampf gegen die demokratische Grundordnung. Diese Formulierung ist derart schwammig und auslegungsbedürftig, daß darunter fast jegliches regierungskritische und oppositionelle Verhalten fallen kann.
Dem früheren CDU-Generalsekretär Peter Tauber ist es zu „verdanken“, die potentielle Gefahr aufgezeigt zu haben, die dem Artikel 18 Grundgesetz innewohnt. Tauber forderte in einem Welt-Artikel vom Juni 2019 Verfassungsfeinden die Grundrechte zu entziehen, wobei er die politische Rechte als nicht integrierbaren und einbindbaren Feind bezeichnete und einen Zusammenhang zu von ihm namentlich genannten Kritikern der Asylpolitik der Bunderegierung herstellte. Die Reaktionen zeigten: Taubers Worte waren nicht die Entgleisung eines einzelnen, sondern er hat nur ausgesprochen, was viele längst insgeheim denken.
Die Deutsche Welle hat Artikel 18 in einem Beitrag näher erläutert und dabei folgendes Beispiel gebracht: „Wenn zum Beispiel ein Verleger seine Zeitung dazu nutzt, um gegen das Grundgesetz zu hetzen, dann kann diesem Verleger das Grundrecht auf Pressefreiheit auch entzogen werden.“ Bedenkt man, wie inflationär der Begriff „Hetze“ gebraucht wird, und ersetzt man „Zeitungsverleger“ durch Blogbetreiber oder dergleichen, benötigt man keine Phantasie, um zu erkennen, gegen wen sich das richten wird.
Zwar ist nach Artikel 18 nur das Bundesverfassungsgericht zuständig, die Verwirkung von Grundrechten auszusprechen. Bisher ist das noch nicht geschehen, drei diesbezügliche Anträge wurden verworfen. Angesichts seiner Zusammensetzung und Judikatur in den letzten Jahren sollte man aber keine allzu großen Erwartungen in eine Fortsetzung seiner restriktiven Rechtsprechung setzen. Ohnehin könnte eine solche Zuständigkeit durch Änderung des Grundgesetzes erforderlichenfalls leicht auf andere Organe/Behörden übertragen werden.
4. Mit dem Grundgesetz das Grundgesetz aushebeln
Werden gegen die Freiheit der Bürger gerichtete, bisher zu Recht nicht angewendete Grundgesetzartikel aus der Mottenkiste geholt, werden andere, an sich sinnvolle gar nicht angewendet oder passend gemacht.
Artikel 16a ist ein Beispiel für die Nichtanwendung eines Grundgesetzartikels. Danach kann sich nicht auf das Asylrecht berufen, wer aus einem sicheren Drittstaat nach Deutschland einreist. Seit der Grenzöffnung /Nichtschließung im September 2015 ist diese Vorschrift faktisch suspendiert. Ein Vorbehalt des EU-Rechts in Artikel 16a selbst soll diesen Rechtsbruch angeblich legitimieren.
Artikel 3 ist ein Beispiel dafür, wie ein Artikel passend gemacht wird und ein richtiger Grundsatz leicht in sein Gegenteil verkehrt werden kann. Artikel 3 bestimmte in Absatz 1 u. 2 früher einmal: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“ Später wurden diese beiden bestechend einfachen und richtigen Gedanken von der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in ihr Gegenteil verkehrt. Man fügte einfach den Satz an: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Mit der entsprechenden Begründung einer angeblichen Benachteiligung von Frauen - und insoweit besteht ein sehr weiter Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers - kann der Staat seitdem praktisch jede Bevorzugung von Frauen und jede Schlechterstellung von Männern gesetzlich legitimieren. Zumal nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sogar präventive (!) Maßnahmen gegen eventuelle künftige (!) Nachteile zulässig sind. Andere eingebildete Opfergruppen warten schon auf eine ebensolche grundgesetzliche Privilegierung.
5. Mit dem Grundgesetz den Staat stärken gegen die Freiheit des einzelnen
Eine ähnliche Entwicklung gibt es durch die mit großer Propaganda vorbereitete Einführung neuer Staatsziele (wie zum Beispiel Klimaschutz, siehe hier oder hier) oder neu erfundener Grundrechte (wie der Kindergrundrechte, siehe hier). Dadurch kommt es zu einer verfassungsrechtlichen Konkurrenzsituation von individuellen Grundrechten und Staatszielen bzw. solchen neuen Grundrechten. Das hat zur Folge, daß die Wahrnehmung individueller Rechte zu Gunsten der Staatsziele eingeschränkt wird oder im Falle der Kinderrechte in die Familien „hineinregiert“ werden kann, also das Elternrecht durch Dritte (Staat oder Kinderschutzorganisationen) im angeblichen Kindeswohlinteresse geschwächt wird. (Anmerkung: Soweit das Kindeswohl tatsächlich gefährdet ist, gibt es normalgesetzliche Regeln, um die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen.)
Im Einzelfall kann das übrigens auch mal zu Lasten des „Erfinders“ gehen. So ist der Ausbau der Windenergie angesichts der Umweltschäden durch Windkraftanlagen nicht mit dem Staatsziel Umweltschutz in Artikel 20a Grundgesetz vereinbar (so der Verfassungsrechtler Professor Murswiek in einem FAZ-Beitrag). Die Windkraftlobby fordert dementsprechend bereits Gesetzesänderungen zu ihren Gunsten.
Das Grundgesetz in Gefahr
Ob Grundgesetzartikel neu entdeckt oder nicht mehr angewendet, ob sie geändert oder eingefügt werden (sollen) – die unterschiedlichen Beispiele zeigen: Die angeblich „beste Verfassung der Welt“ ist gefährdet. Die Entwicklung geht hin zu weniger Demokratie, weniger Freiheit, weniger Bürgerrechte, mehr Sozialismus, mehr Bevormundung und mehr Staatsrechte.
Es sind stets Vorhaben links-grüner Ideologen aller Schattierungen, die das Recht nach Belieben und Nützlichkeit benutzen und verändern. Sie können sich auf allzu viele stützen, die „vor dem Staat niederknien, auf daß er ihnen die Freiheit nehme“ (Zitat Max Demik) Wird dieser Entwicklung nicht Einhalt geboten, läuft der Staat Gefahr, in Richtung Diktatur abzugleiten. Das Grundgesetz jedenfalls schützt davor nicht.