P. Werner Lange, Gastautor / 09.08.2020 / 06:10 / Foto: Lange / 31 / Seite ausdrucken

Das Gleichnis vom Zebra. Schwarz und Weiß aus der Ferne betrachtet

Von P. Werner Lange.

Wissen Sie, wie das Holz aus den Tropen zu uns kommt? Natürlich in den Laderäumen von Schiffen, aber da muss es erst einmal hinein. Sofern sie mit dem Bordgeschirr geladen werden, ziehen Drahtseile die tonnenschweren Stämme mit der Kraft von Winden solange hin und her, bis sie ihren Platz im Laderaum gefunden haben. Auf den Zoll genau, sonst bewegt sich das nasse, von Algen bewachsene Holz – es kommt ja meist aus dem Wasser – später trotz der Kettenzurrung im Seegang. Abachi, Bilinga, Bongossi, Dabema, Denya, Iroko, Moabi oder Okoumé: So heißen sie in Westafrika, und schwer sind sie alle.

Wenn solche Stämme geladen werden, dann geschieht es nicht selten, dass es knallt und ein Decksring samt dem daran befestigten, fast einen halben Zentner schweren eisernen Block umherfliegt oder – schlimmer noch – dass ein Drahtseil bricht. (Seeleute sagen brechen, wenn Tauwerk reißt.) Wer von letzterem erfasst wird, den holt allemal der Knochenmann. Wenn man überdies weiß, dass in jedem Augenblick ein überlasteter Ladebaum herunterfallen kann, dann schafft dergleichen eine Arbeitsstimmung, in der man einander gut kennenlernt, ohne dabei viel zu plaudern. 

Es mag sein, dass Holzladung inzwischen nur noch von Kränen bewegt wird. Damals, als ich in Häfen zwischen dem Nigerdelta und dem Kongo unterwegs war, mussten die elektrisch betriebenen Winden an Bord damit fertig werden. Nicht nur die. Einheimische Hafenarbeiter hockten sprungbereit auf den Steuerpulten der Winden und lenkten den Zug der über Blöcke umgelenkten Drahtseile: „Bullrope, bullrope, bullrope, oohh, oohh, oohh ... big juju, big juju!“ Es sah tatsächlich aus wie Zauberei. Die Drähte jaulten, die Blöcke knirschten, aber das gefürchtete Krachen blieb meist aus. Denn die Burschen auf dem Windenhaus beherrschten ihr Gewerbe. Krachte es dennoch einmal, dann sprangen sie geschickt in irgendeine Deckung. 

Achtung kann nicht herbeigeredet werden

Für uns gab es dabei wenig zu tun, und wir hielten uns deshalb meist abseits, „aus dem Kinken“, wie es damals hieß. Aber am Ende eines solchen Tages geschah es durchaus, dass es zum achtungsvollen Handschlag mit den Windenfahrern kam oder zum Gespräch bei einer Flasche Bier. Das war keine proletarische Verbrüderungsszene, wie man sie manchmal in dahingegangenem Schrifttum beschrieben findet. Erstaunlich erschien es jedoch schon deshalb, weil Seeleute in Hafenarbeitern eher Störenfriede sahen, die dem Schiff einen erniedrigenden Alltag mit Lärm und Schmutz brachten. Solche Augenblicke der Wertschätzung hielten allerdings niemanden davon ab, anschließend in der Mannschaftsmesse unter Gelächter vorzuführen, wie einer der „Kohlensäcke“ vom Steuerpult gesprungen war, als ein Block durch die Luft flog.

Wenn man den Mitgliedern dieser nicht besonders gefühlvollen Gemeinde nun hätte einreden wollen, sie seien wegen ihrer Wortwahl Rassisten, dann wäre das zum einen gar nicht verstanden worden und zum anderen nicht ganz ungefährlich gewesen. Gemeinsam erlebte Gefahr und Respekt vor der Arbeit anderer wogen schwerer als äußere Merkmale oder Vorurteile. Diese Männer hatten im Wortsinne erfahren, dass Achtung – wie auch Selbstachtung – nur durch sinnvolle gemeinsame Tätigkeit wächst und nicht herbeigeredet werden kann.

Aber so etwas schreibe ich im Rückblick auf frühere Arbeitskameraden. Erzählen sollte ich stattdessen von anderen Dingen, obwohl das Thema, um dessentwillen kürzlich noch gefordert wurde, den Wortlaut des Grundgesetzes zu ändern, inzwischen nur noch vereinzelt in den deutschen Nachrichten erscheint. Dabei durften die Medien doch davon ausgehen, dass die organisierten Proteste gegen Rassismus so schnell nicht enden würden. Die meisten Träger der Bewegung sind schließlich Menschen, deren Auftritte von keiner geregelten Tätigkeit eingeschränkt werden. Windenfahrer oder Krankenschwestern zum Beispiel sind ganz bestimmt nicht darunter. 

Ausnahmslos von unseren Steuerzahlungen abhängig

So hätte es weiterhin viel zu berichten gegeben: in den USA ungezählte Verletzte und mehr als zwei Dutzend Tote, letztere nahezu alle umgebracht von vorgeblichen Kämpfern gegen Rassismus. Sowie unter ihnen immer wieder aufflammende Gewalttaten und Plünderungen: Ausschreitungen, die angeblich ebenso spontan begannen wie die Aufmärsche der mit Bussen herangekarrten Demonstranten, die gegen die demokratische, aber „unverzeihliche“ Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich protestierten.

Glaubt wirklich jemand, dergleichen werde nicht organisiert, nicht finanziert, während Politiker das Gemeinschaftsgefühl und den leicht erregbaren Zorn Jugendlicher mit ihrem Zuspruch missbrauchen – gegen Rechts, gegen Fremdenfeindlichkeit, gegen Rassismus, gegen irgendetwas? Inzwischen entdeckt man hierzulande sogar „strukturellen Rassismus“. Fällt niemandem auf, dass jene, die daraus Honig saugen, ausnahmslos von Fördermitteln, also von unseren Steuerzahlungen abhängig sind?

Nun gut, ich wollte erzählen: Also, im Gegensatz zu den vielen Zeitgenossen, die ständig eigene Weltoffenheit im Munde führen, habe ich ein wenig von dieser Welt und ihren Bewohnern gesehen – und bisweilen über das Gesehene nachgedacht. Da waren zwei Jahrzehnte Fahrenszeit bei der Handelsmarine mit vielen Ausflügen in das jeweilige Landesinnere, denn die Seefahrt verlief damals gemächlicher. Dann kamen selbstgewählte Reisen, die nach einigen Jahren meist Afrika galten: Wiedersehen mit den Küstenstädten und Landschaften unserer besten Jahre, viele Bergfahrten und schließlich auch die Zeit, die ich gemeinsam mit meiner Frau in Marangu, mitten in einem Dorf am Kilimandscharogebirge lebte.

Freilich wählten wir statt einer Hütte ein festes, vergittertes Haus. Erlebnisse mit Treiberameisen, Zecken und anderem Getier sowie mit begehrlichen Menschen lagen längst und zahlreich hinter uns. Von den beiden Krankenschwestern, die dort mit uns wohnten, erfuhren wir später, dass die Gitter sich bewährt haben. Nach Marangu gingen wir damals ganz einfach deshalb, weil es in Ostafrika Landschaften und Orte gibt, in die ich selbst noch auf einem Besen zurückkehren werde. 

Ein imperialistischer Totschläger und Rassist

Aber nach mehreren Ausflügen in die Umgebung, gemeinsamen Besuchen bei „meinen“ früheren Bergführern und Gesprächen mit Mitgliedern der Parkverwaltung musste meine Frau nun allein zu den täglichen Einkäufen auf den Markt gehen, denn es gab einfach zu viel zu tun. Wir waren zuvor im Massaigebiet am Natronsee und im Hochland der Riesenkrater unterwegs gewesen, und die Umstände sowie eine erschöpfte Laptopbatterie brachten es dabei mit sich, dass nicht einmal ein Tagebuch zustande kam. Weil ich jedoch schon vor der Reise einige Dateien über die Geschichte der Massai heruntergeladen hatte, konnte ich nun mit dem Manuskript über das Leben der Hirtennomaden beginnen („Heiliger Berg der Massai: Oldonyo Lengai“, Anm. d. Red.).

Das geschah, wie leider immer in meinen Texten, nicht ohne Abschweifungen. So fesselte mich gleich die erste Datei: Moritz Merkers „Die Masai. Ethnographische Monographie eines ostafrikanischen Semitenvolkes“, erschienen in der zweiten Auflage 1910 in Berlin. Merker war Offizier der Kaiserlichen Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika, also ein Bestandteil der kolonialen Gewalt und somit nach allgemeiner heutiger Lesart ein imperialistischer Totschläger und Rassist. Tatsächlich wurde er während mehrerer Aufstände in Widersprüche hineingestellt, von denen er glauben musste, sie seien nur mit Gewalt lösbar. Ich weiß nicht, ob ihn Schuldgefühle bewogen, das Maa zu erlernen, die schwierige Sprache der Massai.

Seine mehr als 400 Seiten Quartband sind jedenfalls das umfangreichste Werk, das jemals über das Nomadenvolk geschrieben wurde, und wer heute etwas über die Kultur der Massai erfahren will, kann auf Merkers Forschungen nicht verzichten. Nachdem sein Buch erschienen und von Wissenschaftlern als einzigartige Studie anerkannt worden war, versetzten seine Vorgesetzten ihn nach Daressalam. Solche Geringschätzung wird Merker freilich nicht erstaunt haben, das hatte er wohl erwartet, denn er war Jude. Er starb bald darauf in Mwanza am Victoriasee und sah die Massai nicht wieder, deren Dasein er länger als acht Jahre beobachtet und aufgezeichnet hatte.

„Die Naturschützer konnten die Wälder in ihren Ländern nicht schützen“

Wir kamen gerade vom Oldonyo Lengai, vom heiligen Berg der Massai am Natronsee, als ich sein Buch las. Ich stelle mir seither vor, dass Moritz Merker dabei ist, wenn in gewissen Vollmondnächten der einbeinige Engel der Massai auf dem Gipfel erscheint und auch die Geister jener Europäer – es waren ja einige – sich sammeln, denen der Gottesberg mehr als ein Berg war und die deshalb seine furchtbar steilen Hänge hinaufgestiegen sind. Totschläger und Rassisten wird man darunter nicht finden, und in solchem Zusammenhang muss ich immer an das Urteil eines Kikuyuhäuptlings denken, das die in Kenia aufgewachsene Schriftstellerin Elspeth Huxley überlieferte: „Der Kolonialismus gleicht dem Zebra. Manche sagen, es sei ein weißes Tier, andere meinen, es sei ein schwarzes Tier, und nur sehr scharfsichtige Menschen erkennen, dass es ein gestreiftes Tier ist.“

Wenn es denn so einfach wäre: Die einen sind Totschläger und Rassisten, die anderen selbstlose Anhänger einer globalen Ideologie der Gleichheit, die dennoch nach Vielfalt verlangt. Wie kann das sein? Schon die nächste Datei erzählte von einer Befragung unter Massai, durchgeführt von Ethnografen in den neunziger Jahren. Genauer gesagt: Unter Massai, die vertrieben wurden, als die Regierung ihr Siedlungs- und Weidegebiet zum Nationalpark erklärte. „Es gab Zeiten, in denen uns die Wildhüter wie Kühe abschossen“, klagte da Ole Moinga Olonyokie aus Endulen die Parkbehörde an. Und eine Frau aus Albalbal stimmte ein: „Wohin sollen wir denn gehen? Hier sind unsere Vorfahren gestorben. Wir haben nicht mehr genug Rinder und gehören zur Erde dieses Hochlandes ...“

Den Ursachen nahe war Shinana ole Moinga aus Endulen: „Warum kommen alle diese Experten und Naturschützer hierher, nachdem sie es versäumt haben, die Wälder und das Wild in ihren Ländern zu schützen? … Seit die Massai die Serengeti verlassen haben, ist dort alles voller Schlingen und Fallen … Seht euch das Ngorongoro-Hochland an – zahllos waren die Nashörner. Seit die Massai aus dem Krater vertrieben wurden, sieht man keine mehr.“ Da hatten die Mächtigen entschieden, dass die in den Nationalparks erzielten Einnahmen wichtiger waren als das Wohlergehen der Massai. Es waren übrigens sesshafte Massai, die damals befragt wurden – ihren nomadisch lebenden Verwandten erging es schlimmer.

Vorwürfen wegen Rassismus oder gar Völkermord begegnen

Und das nicht ohne unsere Schuld. Mancher mag sich erinnern: „Serengeti darf nicht sterben“, der erste Oscar für Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, Bernhard Grzimeks Fernsehsendungen mit zutraulichen Tieren auf dem Schreibtisch und der eingeblendeten Spendenkontonummer. Ein geachteter Mann, leidenschaftlich für den Tierschutz tätig. Ihm und seinen britischen, deutschen, afrikanischen und aus aller Welt stammenden Mitstreitern ist es zu danken, wenn wir heute in Geländewagen in der Serengeti oder in anderen Nationalparks umherfahren und Szenen sehen, für die mir nur das Wort biblisch einfällt. Denn zumindest im Ngorongoro und im Hochland der Riesenkrater sehen wir hin und wieder neben einer ungezähmten Tierwelt auch die Nachkommen des einst erschlagenen Abel umherziehen, die Massainomaden mit ihren Rinderherden. 

Grzimek hat das nicht gewollt. Zu seinen Alpträumen gehörte die Vorstellung, Massairinder könnten die Serengeti überweiden, die Hirten würden eines Tages Autos besitzen, und ein Netz von Straßen lege sich über die Wege der jährlichen Tierwanderungen. Stattdessen nahm er uns Touristen in Kauf, weil er wusste, dass man die Natur nur schützen würde, wenn sie Einnahmen erbringt. Andererseits schrieb er, die Massai seien „immer noch das kleinste Übel“, „wenn man überhaupt Eingeborene in einem Nationalpark hat“. In Massaigebieten gibt es schließlich keine Wilderei. Man kann ihn nur bedingt dafür verantwortlich halten, wenn späterhin nicht nur Rinder erschossen wurden oder wenn den Kolonialherren folgende afrikanische Politiker die Massai in Halbwüsten vertreiben ließen und es ihnen gleichzeitig viele Jahre lang verboten, Gemüse oder Getreide anzubauen.

Jahre, in denen man sich mit Ministern aus dem Massaivolk schmückte, um Vorwürfen wegen Rassismus oder gar Völkermord zu begegnen. Menschen, denen nichts ferner liegt als Respekt und die – im übertragenen Sinne – gern umhergehen, um Denkmälern die Köpfe abzuschlagen, bedachten Grzimeks Leistungen dennoch mit Missbilligung: Das ehemalige NSDAP-Mitglied sei der Fürsprecher von Miniaturkolonien gewesen und überdies ein Rassist. Wenn sie ihn noch läsen, würden heutige Kritiker ihn angesichts dessen, was er unbefangen über die bloßen Brüste junger Afrikanerinnen schrieb, sicherlich zudem einen „ambivalenten Sexisten“ nennen. 

Kampf um Reste des Weidelandes – und gegen Aids

Auch Grzimek ein weißes Zebra, ein Rassist? Der Begriff wird wie jener des „Nazis“ dermaßen missbraucht und abgenutzt, dass man ihn gar nicht mehr verwenden möchte. Sarkastisch ist gesagt worden, der Widerstand gegen den Nationalsozialismus wachse seit seiner Niederlage mit jedem Jahr. Offenbar verhält es sich mit dem Rassismus ähnlich. Nun erklären andererseits Journalisten und Politiker, es gebe gar keine Rassen – die Wissenschaft sei da völlig einig. So? Einigkeit wäre schlimm für die Wissenschaft, und überdies kann doch jeder sehen, dass es in derlei Belangen eine gewisse Vielfalt gibt.

Natürlich lässt sich dieser Eindruck missbrauchen. Am Ende bleibt uns die Entscheidung nicht erspart, worauf wir unser Selbstgefühl gründen wollen, sobald wir unter Fremde geraten. Bevormundung hilft da wenig. Und gewiss gibt es Rassismus. Allerdings drängt sich mir im Hinblick auf Bernhard Grzimek eher die Erinnerung an den Obelisk in der Serengeti auf, der seine Asche und die seines dort verunglückten Sohnes Michael birgt. Hoffentlich gelingt es Fanatikern nicht, den Massai eines Tages einzureden, dies sei ein „Symbol der Unterdrückung“, das zerstört werden muss.

Richtig, Grzimek hat zum Beispiel über die Massai geschrieben, dass sie Fremden gegenüber unaufrichtig, allesamt verschlagen wären. Das ist verständlich, denn sie gehörten zu seinen Widersachern. Mit ihnen zu verhandeln, war schwierig. In der Zeit vor der Rinderpest 1891 und der folgenden Pockenepidemie hatten sie ein großes Gebiet in Ostafrika beherrscht. Ganze Völkerschaften im Umkreis des Victoriasees verdankten ihnen ihr Gedeihen, weil die wehrhaften Nomaden arabischen Sklavenhändlern den Weg versperrten.

Sie hätten vielleicht sogar die Kolonisation Deutsch-Ostafrikas und Kenias aufhalten können. Inzwischen kämpft Abel nur noch um die Reste seines Weidelandes – dessen Grenzen natürlich in keinem Grundbuch aufgezeichnet sind – und gegen Aids. Dabei hatte der Massaigott Engai doch versprochen, alles Vieh der Erde gehöre ihm. Die monotheistischen Massai glaubten deshalb, ihre Nachbarn könnten allesamt nur Viehdiebe sein und beraubten sie nicht nur in Notzeiten unbekümmert.

Elf Namen von weißen Zebras

Bernhard Grzimeks Werk und die von Massai erhobenen Anklagen waren notwendige Abschweifungen, um zu zeigen, dass es neben weißen auch schwarze Zebras gibt. Wie auch immer, man kann sich etwas Wissen anlesen, wochenlang im Massaigebiet unterwegs sein und mit den Menschen reden, sofern man einen Sprachkundigen dabei hat oder der Gesprächspartner Englisch spricht, weil er eine Schule besuchen konnte, man darf in einer der sogenannten Cultural bomas gegen Gebühr Massaikrieger und ledige junge Frauen fotografieren – denn außerhalb kämen Steine geflogen –, und man kann sich in einem Bergdorf im Chaggaland mit einem Manuskript herumplagen, das meilenweit entfernten Nomaden gewidmet ist.

Viel bewegen wird das alles nicht, und dann kommt schließlich der Tag, an dem das letzte Stäubchen English Lavender aufgebraucht ist und es auf dem Markt in Marangu keine Spaghetti mehr gibt. Ohne Spaghetti kann man es in Afrika vielleicht eine Woche lang aushalten, aber ohne Talkumpuder kaum einen Tag. Wir mussten also hinunter nach Moshi. Während meine Frau dort einkaufte, saß ich mit einem Zettel im Internetcafé.

Darauf elf Namen von weißen Zebras, möglichen Rassisten und imperialistischen Totschlägern, von deutschsprachigen Forschern aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Namen begannen, alphabetisch geordnet, mit Oscar Baumann und endeten mit Carl Uhlig. Die Kartenbilder, die jene Männer entwarfen, bereiteten ebenso wie ihre naturwissenschaftlichen Forschungen dem Kolonialismus den Weg. Wem denn sonst in der Welt und im Afrika jener Zeit? 

Wie wohltuend, unter freien Menschen zu sein

Nun gab ich jeweils ihren Namen und darauf die Begriffe „racist“, „racialist“ und „Rassist“ ein. Drei Stunden ohne Treffer, und ich war erleichtert, denn in Marangu erwartete uns eine Einladung. Das Marangu Teachers College lud zu einem der Kolonialzeit gewidmeten Diskussionsabend. Ich freute mich darüber, weil ich nicht dazu neige, mich „aus dem Kinken zu halten“ und deshalb daheim nicht mehr eingeladen werde. Auch hatten wir zuvor Carl Lent besucht, den deutschen Geologen, der 1894 nahebei in der Landschaft Rombo, wie auch sein Begleiter, der Arzt und Zoologe Franz Kretschmer, von Einheimischen ermordet wurde.

Bestattet hat man Lents verkohlte Überreste damals auf dem ehemaligen deutschen Militärfriedhof, der zum Grundstück des Marangu Teachers College gehört. Da liegt er nun neben den Leutnants von Bülow und Wolfram und dem Sergeanten Schubert. Seit weitaus mehr als hundert Jahren hat kein vorübergehender Afrikaner, kein Collegestudent das Bedürfnis verspürt, die Grabtafel mit der Aufschrift „Zur Erinnerung an den braven, unermüdlichen Forscher Dr. Carl Lent“ zu beschmieren, umzustürzen oder zu zerschlagen. 

Kurzum: Es wurde ein anregender Abend. Im Vergleich mit dem in Deutschland alltäglichen moralischen Bürgerkrieg war es eine überaus friedfertige Zusammenkunft. Wie wohltuend, unter jungen, gebildeten Menschen zu sein, die Geschichte nicht herabsetzen, mit einem Friedhof deutscher Kolonialsoldaten auf dem Collegegelände leben können und überlegte Gedanken äußern, statt ideologische Parolen zu lallen. Wie wohltuend, unter freien Menschen zu sein, die ohne Hass sind.

Wenn der größere Teil ideeller Denkmäler enthauptet ist

Verschwiegen wurde dabei nichts: weder die hunderttausend Toten des Maji-Maji-Aufstandes noch der Galgenbaum dort drüben in Old Moshi, auch nicht Häuptling Meli Kiusa bin Rindis in deutschen Sammlungen verschwundener Schädel. Moritz Merkers Teilnahme an sogenannten Strafexpeditionen zum Beispiel wurde ebenso erwähnt wie sein Buch über die Massai oder seine Studie über Rechtsordnung und Sitten der Wadschagga (Chagga), also der Vorfahren des Publikums.

Gesprochen wurde aber auch darüber, welche Bedeutung dem von den Kolonialherren landesweit eingeführten Kiswahili für die nationale Einigung zukam. Darin übrigens dem Deutschen entnommene Wörter für den Arzt, die Schule, die Lokomotive und manches sonst, das vom damals aufgebauten Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrswesen spricht. Richtig, dergleichen entstand nicht uneigennützig, sondern diente dem Zweck, die Kolonie zu verwalten und auszubeuten. Aber es wurde letztlich von Menschen verrichtet, die etwas leisteten und sich nicht immerfort als Unterdrücker oder als Opfer verstanden. 

„Zamani sana“, das ist lange her, hieß es zum Schluss, und nun erschien es mir angemessen, das Gleichnis vom Zebra zu zitieren. Unsere Gastgeber hielten es für die Schöpfung eines klugen Deutschen. Da musste ich freilich bekennen, dass die Geschichte von Schwarz und Weiß bei uns nicht mit der Feder, sondern mit der Keule geschrieben wird.

Zum Beispiel gerade in meiner Nachbarschaft, in Berlin-Zehlendorf. Dort ist im Juni eine Skulptur mit dem überkommenen Titel „Hockende Negerin“ aus dem Jahr 1920 geköpft worden. Nach der Ansicht eines Sprechers der Grünen war das kunsthistorisch bedeutende Bildwerk „stark geeignet, rassistische Stereotypen zu transportieren“. Andere sahen darin lediglich die Darstellung einer verbrauchten, ausgemergelten afrikanischen Frau, die manchem Betrachter vielleicht deshalb verdächtig erschien, weil der Jugendstil ihre Züge verfremdete.

Wie will man eigentlich künftig Vergangenheit erfahren und daraus lernen, wenn der größere Teil ideeller und materieller Denkmäler einmal enthauptet ist?

Werner P. Lange, ursprünglich Seemann, ist ein deutscher Autor von BiografienReisebeschreibungen, erzählenden Sachbüchern und Hörspielen. Er lebt bei Berlin.

Foto: Lange

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Leserpost

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Christopher Sprung / 09.08.2020

Danke, Herr Lange!  Einer der aufrichtigsten, ehrlichsten, persönlich authentischsten Texte seit langer Zeit, gespeist aus Lebens- und Menschenerfahrung.

Volker Seitz / 09.08.2020

Danke Herr Lange. Die Bevormundung, uns vorzuschreiben, was wir zu denken, zu tun haben, kommt immer aus der selben ideologischen Ecke. Mir geht die hehre Gesinnung derer auf die Nerven, die ex ante alles moralisch besser wissen und für allgemeingültig erklären. Wo ist das selbstbewußte Bürgertum und seine Repräsentanten in den Parlamenten, wenn es um Geschichtsvergessenheit und ideologische Selbstzerstörung geht?  Im Sinne des angeblich vorherrschenden Mainstreams biegen einige wenige Meinungsmacher moralisch zurecht, weil es ihnen um die „ Rettung der Welt“ geht. Nicht nur Viren, auch Ideologien können hochansteckend sein.

Franck Royale / 09.08.2020

Kulturrevolutionäre und Bilderstürmer wollen nicht aus der Vergangenheit lernen, Orwell und andere haben es doch schön beschrieben: der ideologische Furor macht alles neu. Was nicht ins schwarz-weiße Bild passt, wird ausradiert, hat nie existiert. Da geben sich auch heute noch Islam-Jünger und BLM-Marxisten die Klinke in die Hand.

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